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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Allerhand Sprcichdummheiten

nicht fremd waren, und daß er, solange er Macht und Einfluß besaß, nie¬
mand neben sich aufkommen ließ, u. s. w. In allen diesem Sätzen muß un¬
bedingt der Konjunktiv stehen. Und wenn eine Meinung noch so annehmbar,
eine Annahme noch so wahrscheinlich, eine Überzeugung noch so fest ist --
es find doch keine Thatsachen. Selbst das ist falsch: ihm ist es eine aus¬
gemachte Thatsache, daß alles äußere Glück nur dem Zufall zu verdanken
ist. Denn was nur "ihm" eine Thatsache ist, das ist eben auch nnr eine Mei¬
nung. Ist es wahr, daß Luther die Stufen der Peterskirche knieend erstiegen
hat? -- wie kann man so dumm fragen! Der Sinn ist doch: Ist es wahr,
was behauptet wird, was erzählt wird, daß Luther u. s. w.

Ganz toll ist es, solche Juhaltssätze selbst dann noch in den Indikativ
zu stellen, wenn in dem regierenden Satze die Meinung oder Behauptung
ausdrücklich verneint wird, als falsch, als übertrieben, als unbewiesen oder
dergleichen hingestellt wird, z. B. ich glaube nicht, daß der freie Wille der
Gesellschaft heute schon stark genug ist -- wir find nicht der Ansicht, daß
mau die bestehende Welt willkürlich ändern kann -- es kann nicht zuge¬
geben werden, daß der große Zuzug der Bevölkerung die Ursache der städti¬
schen Wvhnuugsnvt ist -- wir sind nicht zu der Annahme berechtigt, daß
er sich durch die Mitgift der Frau zu der Heirat bewegen ließ -- aus dieser
Tabelle läßt sich keineswegs der Schluß ziehen, daß die Kost dürstig
zusammengesetzt ist -- daß der sozialistische Geschäftsbetrieb in diesen In¬
dustrien möglich ist, hat noch niemand bewiesen -- die K. Zeitung geht
zu weit mit der Behauptung, daß die beiden vorigen Sessionen des
Landtages unfruchtbar gewesen sind -- es liegt nicht der leiseste Anhalt
vor, daß eine neue Revision des Gesetzes beabsichtigt ist -- ich will
damit nicht sagen, daß die Sittlichkeit darunter leidet -- mau kann
unmöglich behaupten, daß Herr M. und Frau sah. hervorragende Kräfte
sind u. s. w.

Man hat voll einem Genetivschwnnd im Deutschen gesprochen. Man
kann leider auch von einem Kvnjunktivschwimd sprechen. In beiden Fällen
handelt sichs um tiefsitzende organische Krankheiten, an denen, wenn keine Re¬
generation möglich ist, in absehbarer Zeit hier ein Kasus, dort ein Modus
unsrer Sprache vollständig zu Grunde gehen wird. Wo wir schon so weit sind,
daß die gesamte deutsche Geschäftswelt kein Gefühl mehr hat für Sprachroh-
heiteu wie: Carl Wilhelm Schulze Nachfolger oder gar Verlag der
Schneider sehen Vuchhaudluug Nachfolger -- eine Verbindung, bei der
man sich umvillkürlich an den Kopf greift, um zu sehen, ob man anch seine
fünf Sinne noch beisammen habe -- da ist das Schlimmste zu befürchten.
Nicht viel anders aber steht es mit dem Konjunktiv.

Verhängnisvoll ist dabei noch folgende Zugabe. Wenn der Schreibende
den guten Willen hat, einen richtigen Koujniiktiv zu setzen, so entsteht um wieder


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nicht fremd waren, und daß er, solange er Macht und Einfluß besaß, nie¬
mand neben sich aufkommen ließ, u. s. w. In allen diesem Sätzen muß un¬
bedingt der Konjunktiv stehen. Und wenn eine Meinung noch so annehmbar,
eine Annahme noch so wahrscheinlich, eine Überzeugung noch so fest ist —
es find doch keine Thatsachen. Selbst das ist falsch: ihm ist es eine aus¬
gemachte Thatsache, daß alles äußere Glück nur dem Zufall zu verdanken
ist. Denn was nur „ihm" eine Thatsache ist, das ist eben auch nnr eine Mei¬
nung. Ist es wahr, daß Luther die Stufen der Peterskirche knieend erstiegen
hat? — wie kann man so dumm fragen! Der Sinn ist doch: Ist es wahr,
was behauptet wird, was erzählt wird, daß Luther u. s. w.

Ganz toll ist es, solche Juhaltssätze selbst dann noch in den Indikativ
zu stellen, wenn in dem regierenden Satze die Meinung oder Behauptung
ausdrücklich verneint wird, als falsch, als übertrieben, als unbewiesen oder
dergleichen hingestellt wird, z. B. ich glaube nicht, daß der freie Wille der
Gesellschaft heute schon stark genug ist — wir find nicht der Ansicht, daß
mau die bestehende Welt willkürlich ändern kann — es kann nicht zuge¬
geben werden, daß der große Zuzug der Bevölkerung die Ursache der städti¬
schen Wvhnuugsnvt ist — wir sind nicht zu der Annahme berechtigt, daß
er sich durch die Mitgift der Frau zu der Heirat bewegen ließ — aus dieser
Tabelle läßt sich keineswegs der Schluß ziehen, daß die Kost dürstig
zusammengesetzt ist — daß der sozialistische Geschäftsbetrieb in diesen In¬
dustrien möglich ist, hat noch niemand bewiesen — die K. Zeitung geht
zu weit mit der Behauptung, daß die beiden vorigen Sessionen des
Landtages unfruchtbar gewesen sind — es liegt nicht der leiseste Anhalt
vor, daß eine neue Revision des Gesetzes beabsichtigt ist — ich will
damit nicht sagen, daß die Sittlichkeit darunter leidet — mau kann
unmöglich behaupten, daß Herr M. und Frau sah. hervorragende Kräfte
sind u. s. w.

Man hat voll einem Genetivschwnnd im Deutschen gesprochen. Man
kann leider auch von einem Kvnjunktivschwimd sprechen. In beiden Fällen
handelt sichs um tiefsitzende organische Krankheiten, an denen, wenn keine Re¬
generation möglich ist, in absehbarer Zeit hier ein Kasus, dort ein Modus
unsrer Sprache vollständig zu Grunde gehen wird. Wo wir schon so weit sind,
daß die gesamte deutsche Geschäftswelt kein Gefühl mehr hat für Sprachroh-
heiteu wie: Carl Wilhelm Schulze Nachfolger oder gar Verlag der
Schneider sehen Vuchhaudluug Nachfolger — eine Verbindung, bei der
man sich umvillkürlich an den Kopf greift, um zu sehen, ob man anch seine
fünf Sinne noch beisammen habe — da ist das Schlimmste zu befürchten.
Nicht viel anders aber steht es mit dem Konjunktiv.

Verhängnisvoll ist dabei noch folgende Zugabe. Wenn der Schreibende
den guten Willen hat, einen richtigen Koujniiktiv zu setzen, so entsteht um wieder


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[0572] Allerhand Sprcichdummheiten nicht fremd waren, und daß er, solange er Macht und Einfluß besaß, nie¬ mand neben sich aufkommen ließ, u. s. w. In allen diesem Sätzen muß un¬ bedingt der Konjunktiv stehen. Und wenn eine Meinung noch so annehmbar, eine Annahme noch so wahrscheinlich, eine Überzeugung noch so fest ist — es find doch keine Thatsachen. Selbst das ist falsch: ihm ist es eine aus¬ gemachte Thatsache, daß alles äußere Glück nur dem Zufall zu verdanken ist. Denn was nur „ihm" eine Thatsache ist, das ist eben auch nnr eine Mei¬ nung. Ist es wahr, daß Luther die Stufen der Peterskirche knieend erstiegen hat? — wie kann man so dumm fragen! Der Sinn ist doch: Ist es wahr, was behauptet wird, was erzählt wird, daß Luther u. s. w. Ganz toll ist es, solche Juhaltssätze selbst dann noch in den Indikativ zu stellen, wenn in dem regierenden Satze die Meinung oder Behauptung ausdrücklich verneint wird, als falsch, als übertrieben, als unbewiesen oder dergleichen hingestellt wird, z. B. ich glaube nicht, daß der freie Wille der Gesellschaft heute schon stark genug ist — wir find nicht der Ansicht, daß mau die bestehende Welt willkürlich ändern kann — es kann nicht zuge¬ geben werden, daß der große Zuzug der Bevölkerung die Ursache der städti¬ schen Wvhnuugsnvt ist — wir sind nicht zu der Annahme berechtigt, daß er sich durch die Mitgift der Frau zu der Heirat bewegen ließ — aus dieser Tabelle läßt sich keineswegs der Schluß ziehen, daß die Kost dürstig zusammengesetzt ist — daß der sozialistische Geschäftsbetrieb in diesen In¬ dustrien möglich ist, hat noch niemand bewiesen — die K. Zeitung geht zu weit mit der Behauptung, daß die beiden vorigen Sessionen des Landtages unfruchtbar gewesen sind — es liegt nicht der leiseste Anhalt vor, daß eine neue Revision des Gesetzes beabsichtigt ist — ich will damit nicht sagen, daß die Sittlichkeit darunter leidet — mau kann unmöglich behaupten, daß Herr M. und Frau sah. hervorragende Kräfte sind u. s. w. Man hat voll einem Genetivschwnnd im Deutschen gesprochen. Man kann leider auch von einem Kvnjunktivschwimd sprechen. In beiden Fällen handelt sichs um tiefsitzende organische Krankheiten, an denen, wenn keine Re¬ generation möglich ist, in absehbarer Zeit hier ein Kasus, dort ein Modus unsrer Sprache vollständig zu Grunde gehen wird. Wo wir schon so weit sind, daß die gesamte deutsche Geschäftswelt kein Gefühl mehr hat für Sprachroh- heiteu wie: Carl Wilhelm Schulze Nachfolger oder gar Verlag der Schneider sehen Vuchhaudluug Nachfolger — eine Verbindung, bei der man sich umvillkürlich an den Kopf greift, um zu sehen, ob man anch seine fünf Sinne noch beisammen habe — da ist das Schlimmste zu befürchten. Nicht viel anders aber steht es mit dem Konjunktiv. Verhängnisvoll ist dabei noch folgende Zugabe. Wenn der Schreibende den guten Willen hat, einen richtigen Koujniiktiv zu setzen, so entsteht um wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/572>, abgerufen am 23.07.2024.