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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichlsphilosophische Gedanken

eine" Leibniz stellen wir gerade darum so hoch, weil er nicht bloß Mathe¬
matiker war, ja weil er sich bei der Beschäftigung mit vorherrschend abstrakten
Gegenständen den öffnen Sinn und das Interesse für die Dinge der wirklichen
Welt, für Religion und Politik und die Schicksale des Vaterlandes bewahrt
hatte. Übrigens dürfen wir nicht vergessen, und damit kehren wir zum An¬
fange unsrer diesmaligen Erörterung zurück, daß die gründlichste und folge¬
richtigste Abstraktion, die Abstraktion von allem Sinnlichen und die Selbst-
Verneinung als höchstes Ziel menschlicher Entwicklung, am allerersten An¬
fänge der Kulturgeschichte steht; läuft doch darauf die uralte heilige Lehre
der Juder hinaus.

Ein bekannter darwinistischer Satz, der sehr viel Wahrheit enthält, lautet:
Im Leben des Einzelnen wiederholt sich das Leben der Gattung, oder: die Ent¬
wicklungsgeschichte des Einzelnen ist die abgekürzte Entwicklungsgeschichte der
Gattung. Zeigt nun der einzelne Durchschnittsmensch eine mit den Jahren
fortschreitende Vergeistigung? Nur in seinen ersten beiden Lebensjahren, dann
eher das Gegenteil. Das Kind führt in den ersten Monaten seines Erden-
daseins ein rein tierisches Leben, d. h. die geistigen Kräfte dienen bei ihm nur
der unmittelbaren Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse. Nach und nach
stellt sich ein Interesse an der Außenwelt ein, das mit der körperlichen Er¬
nährung, der Erhaltung einer angenehmen Temperatur u. s. w. nichts zu
schaffen hat, und nach Vollendung des zweiten Jahres ist dieses sozusagen
""körperliche Interesse bei gefunden und lebhaften Kindern schon so stark, daß
sie über der Betrachtung der Außenwelt, ihrem Studium -- so darf man das
beharrliche Bemühen, in ihr Verständnis einzudringen, wohl nennen -- ihrer
phautasievvlleu Deutung und ihrer Beherrschung und Verwendung zum Spiel
Essen und Trinken vergessen und ans unbehagliche Empfindungen, wie die
durch Kälte und nasse Kleider verursachten, nicht achten; es ist schon ein
empfindlicher Schmerz oder ein starkes Hungergefühl nötig, um sie an das
leibliche Bedürfnis zu mahnen. Ein tüchtiger Knabe achtet anch schmerzhafte
Verwundungen, Beulen und Striemen nicht, die er sich im Spiele, bei Wett-
kämpfen und auf Streifzügen zuzieht. Die Speisen und Getränke werden mehr
verschlungen als kostend genossen; daß den Kindern wohlschmeckende Speisen
lieber sind als fade oder übelschmeckende, und zwar gerade die um liebsten,
die ihnen am zuträglichste" sind, Obst und Milch, ist kein Zeichen erbsüud-
licher Verderbnis, sondern eine wohlthätige und notwendige Einrichtung der
Natur. Aber zur Naschhaftigkeit muß das Kind besonders verzogen werden;
von Natur ist ihm außer jenen dem Körper sehr heilsamen Zugaben die ein¬
fachste Speise, das Brot, die liebste. Auch der Jüngling ist noch kein Fein¬
schmecker; junge Leute wissen nicht, was gut schmeckt, sagt Goethe. Wenn der
studirende deutsche Jüngling sich in einen lebendigen Bierschlauch verwandelt,
so thut er das uicht aus Neigung zur Völlerei, muß er doch dabei, ebenso


Geschichlsphilosophische Gedanken

eine» Leibniz stellen wir gerade darum so hoch, weil er nicht bloß Mathe¬
matiker war, ja weil er sich bei der Beschäftigung mit vorherrschend abstrakten
Gegenständen den öffnen Sinn und das Interesse für die Dinge der wirklichen
Welt, für Religion und Politik und die Schicksale des Vaterlandes bewahrt
hatte. Übrigens dürfen wir nicht vergessen, und damit kehren wir zum An¬
fange unsrer diesmaligen Erörterung zurück, daß die gründlichste und folge¬
richtigste Abstraktion, die Abstraktion von allem Sinnlichen und die Selbst-
Verneinung als höchstes Ziel menschlicher Entwicklung, am allerersten An¬
fänge der Kulturgeschichte steht; läuft doch darauf die uralte heilige Lehre
der Juder hinaus.

Ein bekannter darwinistischer Satz, der sehr viel Wahrheit enthält, lautet:
Im Leben des Einzelnen wiederholt sich das Leben der Gattung, oder: die Ent¬
wicklungsgeschichte des Einzelnen ist die abgekürzte Entwicklungsgeschichte der
Gattung. Zeigt nun der einzelne Durchschnittsmensch eine mit den Jahren
fortschreitende Vergeistigung? Nur in seinen ersten beiden Lebensjahren, dann
eher das Gegenteil. Das Kind führt in den ersten Monaten seines Erden-
daseins ein rein tierisches Leben, d. h. die geistigen Kräfte dienen bei ihm nur
der unmittelbaren Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse. Nach und nach
stellt sich ein Interesse an der Außenwelt ein, das mit der körperlichen Er¬
nährung, der Erhaltung einer angenehmen Temperatur u. s. w. nichts zu
schaffen hat, und nach Vollendung des zweiten Jahres ist dieses sozusagen
»»körperliche Interesse bei gefunden und lebhaften Kindern schon so stark, daß
sie über der Betrachtung der Außenwelt, ihrem Studium — so darf man das
beharrliche Bemühen, in ihr Verständnis einzudringen, wohl nennen — ihrer
phautasievvlleu Deutung und ihrer Beherrschung und Verwendung zum Spiel
Essen und Trinken vergessen und ans unbehagliche Empfindungen, wie die
durch Kälte und nasse Kleider verursachten, nicht achten; es ist schon ein
empfindlicher Schmerz oder ein starkes Hungergefühl nötig, um sie an das
leibliche Bedürfnis zu mahnen. Ein tüchtiger Knabe achtet anch schmerzhafte
Verwundungen, Beulen und Striemen nicht, die er sich im Spiele, bei Wett-
kämpfen und auf Streifzügen zuzieht. Die Speisen und Getränke werden mehr
verschlungen als kostend genossen; daß den Kindern wohlschmeckende Speisen
lieber sind als fade oder übelschmeckende, und zwar gerade die um liebsten,
die ihnen am zuträglichste» sind, Obst und Milch, ist kein Zeichen erbsüud-
licher Verderbnis, sondern eine wohlthätige und notwendige Einrichtung der
Natur. Aber zur Naschhaftigkeit muß das Kind besonders verzogen werden;
von Natur ist ihm außer jenen dem Körper sehr heilsamen Zugaben die ein¬
fachste Speise, das Brot, die liebste. Auch der Jüngling ist noch kein Fein¬
schmecker; junge Leute wissen nicht, was gut schmeckt, sagt Goethe. Wenn der
studirende deutsche Jüngling sich in einen lebendigen Bierschlauch verwandelt,
so thut er das uicht aus Neigung zur Völlerei, muß er doch dabei, ebenso


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/550>, abgerufen am 23.07.2024.