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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilc>sopln'sche Gedanken

Sittlichkeit oder dein Pflichtgefühl anders verhalte, und dnß Glückseligkeit ein
ganz unbestimmter und unbestimmbarer Begriff sei. Vielmehr besteht much in
dieser Beziehung die innigste Verwandtschaft und Ähnlichkeit zwischen den beiden
Seiten des Seelenlebens. Die Ansichten über das, was gut und böse, Pflicht-
mäßig und pflichtwidrig sei, gehen nicht Nieniger weit ans einander als die
über das Angenehme und Unangenehme, aber ans beiden Gebieten bewegen
sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb gewisser Grenzen. Niemand hält
den auf die Folter gespannte", niemand den von allen Menschen gehaßten
und gemiedenen, niemand den in tierischer Unwissenheit und Roheit dahin¬
lebenden für glücklich. Zum Glück gehört also nach der übereinstimmenden
Ansicht der zivilisirten Meuscheu ein niedrigstes Maß der Befriedigung unsrer
leiblichen, geistigen und Herzensbedürfnisse. Ganz ebenso verhält es sich mit
der Sittlichkeit. Von China bis nach Frankreich und von Coufuzius bis
auf Kant sind es so ziemlich dieselben Eigenschaften und Gewohnheiten, die
man als Laster und als Tugenden zu bezeichnen Pflegt, und wie ein laster¬
hafter Mensch nie und nirgends als sittlich gut gepriesen wird, so schilt man
den Tugendhaften nicht einen Bösewicht. Aber ob Ignatius von Loyola,
John Knvx, Napoleon. I. und Goethe sittliche oder unsittliche Menschen Ware",
darüber wird ewig gestritten werden. Die Ursache ist eine doppelte. Einmal
hegen die Menschen verschiedne sittliche Ideale, weil die einen von Natur mehr
dieser, die andern mehr einer andern der sittlichen Ideen zuneige". Sodann
legen die Kirche", die Staate", die Zeiten, die Tagesmeinungen dem Einzelnen
sehr verschiedne und zum Teil widersprechende Pflichten auf.

Demnach sind die beiden Forderungen: Strebe nach Glückseligkeit! und:
Erfülle deine Pflicht! als allgemeine Richtschnur sür das Handeln die eine
genau, so viel wert wie die andre, sofern es ans Erzielung von Gleichmäßig¬
keit im Verhalten und Herstellung einer friedlichen Ordnung abgesehen ist.
Die erste der beide" Forderungen macht sich in alle" Meiische" gelte"d und
gettügt auf rohere" Kulturstufe" zur Herstellung einer leidlichen Ordnung.
Die zweite entspringt a"f einer höheren Kulturstufe in den edleren Geistern
und wird von diesen den übrigen durch Erziehung eingepflanzt. Aber während
sie einerseits den Glückseligkeitstrieb disziplinirt, läutert und berichtigt, indem
sie der Seele ein Reich höherer Glückseligkeit erschließt, wird sie anderseits
zugleich doch auch el" Quell neuer Verwirruuge" und Kämpfe. Selbst wem,
es gelänge, alle Kirchen nud Sekten auszurotten, würden im Staate selbst
noch bis in den Schoß der Regierung hinein die Ansichten über das, was
im Augenblicke den Staatsbürgern als Pflicht vorzustellen sei, immer ver¬
schieden ausfallen. Und gelingt es einen, Gewnltherrn vorübergehend, seinen
eignen Willen dem ganzen Volke als Pflichtgebot äußerlich aufzuzwüige", so
wuchern unter der Oberfläche gesetzlichen Verhaltens weithin die Verschwö¬
rungen, deren Teilnehmer es als ihre heiligste Pflicht ansehen, den Despoten


Geschichtsphilc>sopln'sche Gedanken

Sittlichkeit oder dein Pflichtgefühl anders verhalte, und dnß Glückseligkeit ein
ganz unbestimmter und unbestimmbarer Begriff sei. Vielmehr besteht much in
dieser Beziehung die innigste Verwandtschaft und Ähnlichkeit zwischen den beiden
Seiten des Seelenlebens. Die Ansichten über das, was gut und böse, Pflicht-
mäßig und pflichtwidrig sei, gehen nicht Nieniger weit ans einander als die
über das Angenehme und Unangenehme, aber ans beiden Gebieten bewegen
sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb gewisser Grenzen. Niemand hält
den auf die Folter gespannte», niemand den von allen Menschen gehaßten
und gemiedenen, niemand den in tierischer Unwissenheit und Roheit dahin¬
lebenden für glücklich. Zum Glück gehört also nach der übereinstimmenden
Ansicht der zivilisirten Meuscheu ein niedrigstes Maß der Befriedigung unsrer
leiblichen, geistigen und Herzensbedürfnisse. Ganz ebenso verhält es sich mit
der Sittlichkeit. Von China bis nach Frankreich und von Coufuzius bis
auf Kant sind es so ziemlich dieselben Eigenschaften und Gewohnheiten, die
man als Laster und als Tugenden zu bezeichnen Pflegt, und wie ein laster¬
hafter Mensch nie und nirgends als sittlich gut gepriesen wird, so schilt man
den Tugendhaften nicht einen Bösewicht. Aber ob Ignatius von Loyola,
John Knvx, Napoleon. I. und Goethe sittliche oder unsittliche Menschen Ware»,
darüber wird ewig gestritten werden. Die Ursache ist eine doppelte. Einmal
hegen die Menschen verschiedne sittliche Ideale, weil die einen von Natur mehr
dieser, die andern mehr einer andern der sittlichen Ideen zuneige». Sodann
legen die Kirche», die Staate», die Zeiten, die Tagesmeinungen dem Einzelnen
sehr verschiedne und zum Teil widersprechende Pflichten auf.

Demnach sind die beiden Forderungen: Strebe nach Glückseligkeit! und:
Erfülle deine Pflicht! als allgemeine Richtschnur sür das Handeln die eine
genau, so viel wert wie die andre, sofern es ans Erzielung von Gleichmäßig¬
keit im Verhalten und Herstellung einer friedlichen Ordnung abgesehen ist.
Die erste der beide» Forderungen macht sich in alle» Meiische» gelte»d und
gettügt auf rohere» Kulturstufe» zur Herstellung einer leidlichen Ordnung.
Die zweite entspringt a»f einer höheren Kulturstufe in den edleren Geistern
und wird von diesen den übrigen durch Erziehung eingepflanzt. Aber während
sie einerseits den Glückseligkeitstrieb disziplinirt, läutert und berichtigt, indem
sie der Seele ein Reich höherer Glückseligkeit erschließt, wird sie anderseits
zugleich doch auch el» Quell neuer Verwirruuge» und Kämpfe. Selbst wem,
es gelänge, alle Kirchen nud Sekten auszurotten, würden im Staate selbst
noch bis in den Schoß der Regierung hinein die Ansichten über das, was
im Augenblicke den Staatsbürgern als Pflicht vorzustellen sei, immer ver¬
schieden ausfallen. Und gelingt es einen, Gewnltherrn vorübergehend, seinen
eignen Willen dem ganzen Volke als Pflichtgebot äußerlich aufzuzwüige», so
wuchern unter der Oberfläche gesetzlichen Verhaltens weithin die Verschwö¬
rungen, deren Teilnehmer es als ihre heiligste Pflicht ansehen, den Despoten


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[0504] Geschichtsphilc>sopln'sche Gedanken Sittlichkeit oder dein Pflichtgefühl anders verhalte, und dnß Glückseligkeit ein ganz unbestimmter und unbestimmbarer Begriff sei. Vielmehr besteht much in dieser Beziehung die innigste Verwandtschaft und Ähnlichkeit zwischen den beiden Seiten des Seelenlebens. Die Ansichten über das, was gut und böse, Pflicht- mäßig und pflichtwidrig sei, gehen nicht Nieniger weit ans einander als die über das Angenehme und Unangenehme, aber ans beiden Gebieten bewegen sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb gewisser Grenzen. Niemand hält den auf die Folter gespannte», niemand den von allen Menschen gehaßten und gemiedenen, niemand den in tierischer Unwissenheit und Roheit dahin¬ lebenden für glücklich. Zum Glück gehört also nach der übereinstimmenden Ansicht der zivilisirten Meuscheu ein niedrigstes Maß der Befriedigung unsrer leiblichen, geistigen und Herzensbedürfnisse. Ganz ebenso verhält es sich mit der Sittlichkeit. Von China bis nach Frankreich und von Coufuzius bis auf Kant sind es so ziemlich dieselben Eigenschaften und Gewohnheiten, die man als Laster und als Tugenden zu bezeichnen Pflegt, und wie ein laster¬ hafter Mensch nie und nirgends als sittlich gut gepriesen wird, so schilt man den Tugendhaften nicht einen Bösewicht. Aber ob Ignatius von Loyola, John Knvx, Napoleon. I. und Goethe sittliche oder unsittliche Menschen Ware», darüber wird ewig gestritten werden. Die Ursache ist eine doppelte. Einmal hegen die Menschen verschiedne sittliche Ideale, weil die einen von Natur mehr dieser, die andern mehr einer andern der sittlichen Ideen zuneige». Sodann legen die Kirche», die Staate», die Zeiten, die Tagesmeinungen dem Einzelnen sehr verschiedne und zum Teil widersprechende Pflichten auf. Demnach sind die beiden Forderungen: Strebe nach Glückseligkeit! und: Erfülle deine Pflicht! als allgemeine Richtschnur sür das Handeln die eine genau, so viel wert wie die andre, sofern es ans Erzielung von Gleichmäßig¬ keit im Verhalten und Herstellung einer friedlichen Ordnung abgesehen ist. Die erste der beide» Forderungen macht sich in alle» Meiische» gelte»d und gettügt auf rohere» Kulturstufe» zur Herstellung einer leidlichen Ordnung. Die zweite entspringt a»f einer höheren Kulturstufe in den edleren Geistern und wird von diesen den übrigen durch Erziehung eingepflanzt. Aber während sie einerseits den Glückseligkeitstrieb disziplinirt, läutert und berichtigt, indem sie der Seele ein Reich höherer Glückseligkeit erschließt, wird sie anderseits zugleich doch auch el» Quell neuer Verwirruuge» und Kämpfe. Selbst wem, es gelänge, alle Kirchen nud Sekten auszurotten, würden im Staate selbst noch bis in den Schoß der Regierung hinein die Ansichten über das, was im Augenblicke den Staatsbürgern als Pflicht vorzustellen sei, immer ver¬ schieden ausfallen. Und gelingt es einen, Gewnltherrn vorübergehend, seinen eignen Willen dem ganzen Volke als Pflichtgebot äußerlich aufzuzwüige», so wuchern unter der Oberfläche gesetzlichen Verhaltens weithin die Verschwö¬ rungen, deren Teilnehmer es als ihre heiligste Pflicht ansehen, den Despoten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/504>, abgerufen am 23.07.2024.