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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Punkte bei ihm überhaupt gesprochen werden darf. Aber Hai es einen, so
könnte die Erde so gilt dieser Mittelpunkt, und zwar der unbewegte Mittel¬
punkt sein wie irgend ein andrer Körper. Man muß sich nur daran erinnern,
das; Bewegung ein relativer Begriff ist, und dnß z. B. ein Manu, der
sich auf dem Verdeck eines Schiffes mit derselben Geschwindigkeit wie dieses,
aber in entgegengesetzter Richtung bewegt, thatsächlich seine Stellung zur Erd¬
oberfläche nicht verändert, also in Beziehung auf diese still steht. So könnte
es wohl sein, daß in dem verwickelten Wirbel der Welten gerade unsre Erde
der einzige wirklich ruhende Punkt wäre. Den Vorwurf des Hochmuts, den uns
diese Phantasie eintragen wird, nehmen wir gelassen hin. Jeder ist ans seine
Weise hochmütig; und die Herren, die sich als Teile des Universums nicht
klein genug macheu können, nehmen es gewöhnlich sehr übel, wenn man sie
am geistigen Himmel, der doch wohl auch ihrer Ansicht nach ein Himmel
höherer Ordnung ist, als der Fixsternhimmel nicht als Sterne erster Größe
anerkennen will. Denken wir an Dantes Konstruktion des Weltgebäudes, so
bleibt diese in ihrem moralischen Sinne, der dem Dichter nach seiner eignen
Erklärung die Hauptsache wär, ganz unangreifbar.

Welches auch immer der eigentliche, höchste und letzte Zweck des Weltalls
und der Weltgeschichte sein mag, für uns Menschen kommt er nur so weit in
Betracht, als wir darau beteiligt sind. Ohne mich hier schon ans die Frage
einzulassen, worin jene Vollendung des Menschen bestehen mag, die ohne
Zweifel der Endzweck seines Erdendaseins ist, ob und wie diese Vollendung
ihn beseligt, und ob die Vollendung oder die Beseligung die Hauptsache ist,
stelle ich hier nur die allgemein anerkannte Thatsache fest, daß selbstverständlich
von Vollendung oder Beglückung einer einzelnen Person außerhalb jeder Ver¬
bindung mit dem Ganzen keine Rede sein kann. Die Flucht des Asketen in
die Wüste zu dem Zweck, dort seine Seligkeit zu wirken, ist nicht minder eine
Berirruug, wie das Treiben des Habsüchtigen oder Ehrsüchtigen oder Wol¬
lüstlings, der mitten unter Menschen immer uur sich selbst sucht. Es versteht
sich also, daß der Mensch sein Ziel nur in der Familie, oder im Staate, oder
in der Kirche, oder im Reiche Gottes (das nicht immer mit der Kirche zu-
sammenfällt) oder in irgend einer andern Form der Gesellschaft, oder in
gleichzeitiger Teilnahme an mehreren Gesellschaftsformen erreichen kann. Nur
darf keine dieser Formen als Begriff, als Abstraktum genommen werden. Wenn
z. B. gesagt wird, der Einzelne müsse seinen Willen und sein Wohl dem
Staate unterordnen, so muß man unter Staat die Gesamtheit der setzt diesen
Staat bildenden Menschen verstehen und derer, die ihn in der nächsten Zukunft
bilden werden, nicht etwa den Stantsbegriff oder die Staatsidee. Die Be¬
griffe haben ihren Wert und ihre Wirklichkeit nur in den einzelnen Dingen,
hier also in den einzelnen lebendigen Menschen. Der Götzendienst toter Be¬
griffe ist zwar nicht der unedelste, entspringt er doch einer geistigen Über-


Geschichisphilc'soi'hische cfledauke»

Punkte bei ihm überhaupt gesprochen werden darf. Aber Hai es einen, so
könnte die Erde so gilt dieser Mittelpunkt, und zwar der unbewegte Mittel¬
punkt sein wie irgend ein andrer Körper. Man muß sich nur daran erinnern,
das; Bewegung ein relativer Begriff ist, und dnß z. B. ein Manu, der
sich auf dem Verdeck eines Schiffes mit derselben Geschwindigkeit wie dieses,
aber in entgegengesetzter Richtung bewegt, thatsächlich seine Stellung zur Erd¬
oberfläche nicht verändert, also in Beziehung auf diese still steht. So könnte
es wohl sein, daß in dem verwickelten Wirbel der Welten gerade unsre Erde
der einzige wirklich ruhende Punkt wäre. Den Vorwurf des Hochmuts, den uns
diese Phantasie eintragen wird, nehmen wir gelassen hin. Jeder ist ans seine
Weise hochmütig; und die Herren, die sich als Teile des Universums nicht
klein genug macheu können, nehmen es gewöhnlich sehr übel, wenn man sie
am geistigen Himmel, der doch wohl auch ihrer Ansicht nach ein Himmel
höherer Ordnung ist, als der Fixsternhimmel nicht als Sterne erster Größe
anerkennen will. Denken wir an Dantes Konstruktion des Weltgebäudes, so
bleibt diese in ihrem moralischen Sinne, der dem Dichter nach seiner eignen
Erklärung die Hauptsache wär, ganz unangreifbar.

Welches auch immer der eigentliche, höchste und letzte Zweck des Weltalls
und der Weltgeschichte sein mag, für uns Menschen kommt er nur so weit in
Betracht, als wir darau beteiligt sind. Ohne mich hier schon ans die Frage
einzulassen, worin jene Vollendung des Menschen bestehen mag, die ohne
Zweifel der Endzweck seines Erdendaseins ist, ob und wie diese Vollendung
ihn beseligt, und ob die Vollendung oder die Beseligung die Hauptsache ist,
stelle ich hier nur die allgemein anerkannte Thatsache fest, daß selbstverständlich
von Vollendung oder Beglückung einer einzelnen Person außerhalb jeder Ver¬
bindung mit dem Ganzen keine Rede sein kann. Die Flucht des Asketen in
die Wüste zu dem Zweck, dort seine Seligkeit zu wirken, ist nicht minder eine
Berirruug, wie das Treiben des Habsüchtigen oder Ehrsüchtigen oder Wol¬
lüstlings, der mitten unter Menschen immer uur sich selbst sucht. Es versteht
sich also, daß der Mensch sein Ziel nur in der Familie, oder im Staate, oder
in der Kirche, oder im Reiche Gottes (das nicht immer mit der Kirche zu-
sammenfällt) oder in irgend einer andern Form der Gesellschaft, oder in
gleichzeitiger Teilnahme an mehreren Gesellschaftsformen erreichen kann. Nur
darf keine dieser Formen als Begriff, als Abstraktum genommen werden. Wenn
z. B. gesagt wird, der Einzelne müsse seinen Willen und sein Wohl dem
Staate unterordnen, so muß man unter Staat die Gesamtheit der setzt diesen
Staat bildenden Menschen verstehen und derer, die ihn in der nächsten Zukunft
bilden werden, nicht etwa den Stantsbegriff oder die Staatsidee. Die Be¬
griffe haben ihren Wert und ihre Wirklichkeit nur in den einzelnen Dingen,
hier also in den einzelnen lebendigen Menschen. Der Götzendienst toter Be¬
griffe ist zwar nicht der unedelste, entspringt er doch einer geistigen Über-


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[0459] Geschichisphilc'soi'hische cfledauke» Punkte bei ihm überhaupt gesprochen werden darf. Aber Hai es einen, so könnte die Erde so gilt dieser Mittelpunkt, und zwar der unbewegte Mittel¬ punkt sein wie irgend ein andrer Körper. Man muß sich nur daran erinnern, das; Bewegung ein relativer Begriff ist, und dnß z. B. ein Manu, der sich auf dem Verdeck eines Schiffes mit derselben Geschwindigkeit wie dieses, aber in entgegengesetzter Richtung bewegt, thatsächlich seine Stellung zur Erd¬ oberfläche nicht verändert, also in Beziehung auf diese still steht. So könnte es wohl sein, daß in dem verwickelten Wirbel der Welten gerade unsre Erde der einzige wirklich ruhende Punkt wäre. Den Vorwurf des Hochmuts, den uns diese Phantasie eintragen wird, nehmen wir gelassen hin. Jeder ist ans seine Weise hochmütig; und die Herren, die sich als Teile des Universums nicht klein genug macheu können, nehmen es gewöhnlich sehr übel, wenn man sie am geistigen Himmel, der doch wohl auch ihrer Ansicht nach ein Himmel höherer Ordnung ist, als der Fixsternhimmel nicht als Sterne erster Größe anerkennen will. Denken wir an Dantes Konstruktion des Weltgebäudes, so bleibt diese in ihrem moralischen Sinne, der dem Dichter nach seiner eignen Erklärung die Hauptsache wär, ganz unangreifbar. Welches auch immer der eigentliche, höchste und letzte Zweck des Weltalls und der Weltgeschichte sein mag, für uns Menschen kommt er nur so weit in Betracht, als wir darau beteiligt sind. Ohne mich hier schon ans die Frage einzulassen, worin jene Vollendung des Menschen bestehen mag, die ohne Zweifel der Endzweck seines Erdendaseins ist, ob und wie diese Vollendung ihn beseligt, und ob die Vollendung oder die Beseligung die Hauptsache ist, stelle ich hier nur die allgemein anerkannte Thatsache fest, daß selbstverständlich von Vollendung oder Beglückung einer einzelnen Person außerhalb jeder Ver¬ bindung mit dem Ganzen keine Rede sein kann. Die Flucht des Asketen in die Wüste zu dem Zweck, dort seine Seligkeit zu wirken, ist nicht minder eine Berirruug, wie das Treiben des Habsüchtigen oder Ehrsüchtigen oder Wol¬ lüstlings, der mitten unter Menschen immer uur sich selbst sucht. Es versteht sich also, daß der Mensch sein Ziel nur in der Familie, oder im Staate, oder in der Kirche, oder im Reiche Gottes (das nicht immer mit der Kirche zu- sammenfällt) oder in irgend einer andern Form der Gesellschaft, oder in gleichzeitiger Teilnahme an mehreren Gesellschaftsformen erreichen kann. Nur darf keine dieser Formen als Begriff, als Abstraktum genommen werden. Wenn z. B. gesagt wird, der Einzelne müsse seinen Willen und sein Wohl dem Staate unterordnen, so muß man unter Staat die Gesamtheit der setzt diesen Staat bildenden Menschen verstehen und derer, die ihn in der nächsten Zukunft bilden werden, nicht etwa den Stantsbegriff oder die Staatsidee. Die Be¬ griffe haben ihren Wert und ihre Wirklichkeit nur in den einzelnen Dingen, hier also in den einzelnen lebendigen Menschen. Der Götzendienst toter Be¬ griffe ist zwar nicht der unedelste, entspringt er doch einer geistigen Über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/459>, abgerufen am 26.06.2024.