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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschlchtsphiloscphische Gedanken

beipflichtet, oder ob man alle solche Fragen, als unlösbar und daher als un¬
verständig beiseite läßt. Etwas andres ist es, wenn das Gemüt das Be¬
dürfnis empfindet, sich sein Verhältnis zu Gott so innig wie möglich zu denken,
wenn die Seele im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Kind Gottes sein
will. Diesem Drange entspricht der SemiPantheismus besser als der streng
trat istische Theismus, und daher sind alle Mystiker unter den Philosophen
und Theologen von jeher Pantheisten gewesen. Hier entscheiden nicht Gründe
der Wissenschaft, der Moral und des praktischem Lebens, sondern Herzeus¬
bedürfnisse des Einzelnen, und wo das Wissen aufhört, dn hat die Phantasie
freien Spielraum, sich die Beziehungen zu Gott so schön, so mannichfaltig und
so innig auszumalen, wie sie nur kann und mag.

Eben deshalb, weil weder unsre Sinne noch unser Verstand ins Jenseits
einzudringen vermögen, ist die Behauptung abzuweisen, ein persönlicher Gott
sei ein Widerspruch in sich selbst, sei unmöglich. Die Gesetze unsers Ver¬
standes gelten im Gebiete des unsrer sinnlichen Wahrnehmung erreichbaren,
darüber hinaus aber dürfen wir sie nicht anwenden wollen. Und mich der Ur¬
sprung dieses Gebietes, eben der uns erkennbaren und erreichbaren Welt, liegt
darüber hinaus in einem Jenseits, vou dem wir nichts wissen, nichts verstehen,
und über das wir nur Vermutungen anstellen können. So z. B. wissen wir
allerdings, daß jeder Körper, der im luftleeren Raume frei herabfällt, in der
zweiten Sekunde seiner Fallzeit einen Weg von 14,7 Meter zurücklegt, unbe¬
dingt zurücklegen muß, und wenn wir einmal ein andres Ergebnis beobachten,
so würden wir entweder an unserm Chronometer, oder an unsern gesunden
Sinnen, oder an unserm Verstände zweifeln, nicht aber an der Unverbrüchlichkeit
des Fallgesetzes. Aber wie es kommt, daß die Körper mit gleichmäßig be¬
schleunigter Geschwindigkeit fallen, das wissen wir nicht, ebensowenig wie wir
wissen, warum die Planeten in gleichen Zeiträumen gleiche Flächen ihrer
Bahnen beschreiben. Von den Gesetzen der Physik und Chemie ist kein einziges,
sowie die Lehrsätze der Mathematik, ans dem Wege der logischen Ableitung
ans einem oder mehreren Grundsätzen gefunden worden, sondern sie wurden
ans beobachteten Naturereignissen abgeleitet, und so oft der Verstand versuchte,
Naturgesetze aus sich selber heranszuspiuuen, ging er irre, wie ans den Schick¬
salen der scholastischen Naturwissenschaft zur Genüge bekannt ist. Die Natur¬
gesetze also wurzeln nicht in unserm Verstände. Die Logik zwingt uns zwar,
das einmnl gefundene Gesetz auf jede" einzelnen Fall anzuwenden, aber sie
zwingt uns nicht, das Gesetz von vornherein so zu deuten, wie es die Er¬
fahrung nachträglich findet. Warum, sagt Lotze, sollten es Körper, die ein¬
ander anziehen, nicht ebenso machen, wie wir selbst, wenn wir von einer
andern Person oder von einen. Orte angezogen werden? Wir pflege" dann
anfangs zu eilen. Später gehen wir langsamer, teils weil wir müde geworden
sind, teils weil wir nun der Erreichung des Zieles gewiß sind. Und sind


Geschlchtsphiloscphische Gedanken

beipflichtet, oder ob man alle solche Fragen, als unlösbar und daher als un¬
verständig beiseite läßt. Etwas andres ist es, wenn das Gemüt das Be¬
dürfnis empfindet, sich sein Verhältnis zu Gott so innig wie möglich zu denken,
wenn die Seele im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Kind Gottes sein
will. Diesem Drange entspricht der SemiPantheismus besser als der streng
trat istische Theismus, und daher sind alle Mystiker unter den Philosophen
und Theologen von jeher Pantheisten gewesen. Hier entscheiden nicht Gründe
der Wissenschaft, der Moral und des praktischem Lebens, sondern Herzeus¬
bedürfnisse des Einzelnen, und wo das Wissen aufhört, dn hat die Phantasie
freien Spielraum, sich die Beziehungen zu Gott so schön, so mannichfaltig und
so innig auszumalen, wie sie nur kann und mag.

Eben deshalb, weil weder unsre Sinne noch unser Verstand ins Jenseits
einzudringen vermögen, ist die Behauptung abzuweisen, ein persönlicher Gott
sei ein Widerspruch in sich selbst, sei unmöglich. Die Gesetze unsers Ver¬
standes gelten im Gebiete des unsrer sinnlichen Wahrnehmung erreichbaren,
darüber hinaus aber dürfen wir sie nicht anwenden wollen. Und mich der Ur¬
sprung dieses Gebietes, eben der uns erkennbaren und erreichbaren Welt, liegt
darüber hinaus in einem Jenseits, vou dem wir nichts wissen, nichts verstehen,
und über das wir nur Vermutungen anstellen können. So z. B. wissen wir
allerdings, daß jeder Körper, der im luftleeren Raume frei herabfällt, in der
zweiten Sekunde seiner Fallzeit einen Weg von 14,7 Meter zurücklegt, unbe¬
dingt zurücklegen muß, und wenn wir einmal ein andres Ergebnis beobachten,
so würden wir entweder an unserm Chronometer, oder an unsern gesunden
Sinnen, oder an unserm Verstände zweifeln, nicht aber an der Unverbrüchlichkeit
des Fallgesetzes. Aber wie es kommt, daß die Körper mit gleichmäßig be¬
schleunigter Geschwindigkeit fallen, das wissen wir nicht, ebensowenig wie wir
wissen, warum die Planeten in gleichen Zeiträumen gleiche Flächen ihrer
Bahnen beschreiben. Von den Gesetzen der Physik und Chemie ist kein einziges,
sowie die Lehrsätze der Mathematik, ans dem Wege der logischen Ableitung
ans einem oder mehreren Grundsätzen gefunden worden, sondern sie wurden
ans beobachteten Naturereignissen abgeleitet, und so oft der Verstand versuchte,
Naturgesetze aus sich selber heranszuspiuuen, ging er irre, wie ans den Schick¬
salen der scholastischen Naturwissenschaft zur Genüge bekannt ist. Die Natur¬
gesetze also wurzeln nicht in unserm Verstände. Die Logik zwingt uns zwar,
das einmnl gefundene Gesetz auf jede» einzelnen Fall anzuwenden, aber sie
zwingt uns nicht, das Gesetz von vornherein so zu deuten, wie es die Er¬
fahrung nachträglich findet. Warum, sagt Lotze, sollten es Körper, die ein¬
ander anziehen, nicht ebenso machen, wie wir selbst, wenn wir von einer
andern Person oder von einen. Orte angezogen werden? Wir pflege» dann
anfangs zu eilen. Später gehen wir langsamer, teils weil wir müde geworden
sind, teils weil wir nun der Erreichung des Zieles gewiß sind. Und sind


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[0455] Geschlchtsphiloscphische Gedanken beipflichtet, oder ob man alle solche Fragen, als unlösbar und daher als un¬ verständig beiseite läßt. Etwas andres ist es, wenn das Gemüt das Be¬ dürfnis empfindet, sich sein Verhältnis zu Gott so innig wie möglich zu denken, wenn die Seele im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Kind Gottes sein will. Diesem Drange entspricht der SemiPantheismus besser als der streng trat istische Theismus, und daher sind alle Mystiker unter den Philosophen und Theologen von jeher Pantheisten gewesen. Hier entscheiden nicht Gründe der Wissenschaft, der Moral und des praktischem Lebens, sondern Herzeus¬ bedürfnisse des Einzelnen, und wo das Wissen aufhört, dn hat die Phantasie freien Spielraum, sich die Beziehungen zu Gott so schön, so mannichfaltig und so innig auszumalen, wie sie nur kann und mag. Eben deshalb, weil weder unsre Sinne noch unser Verstand ins Jenseits einzudringen vermögen, ist die Behauptung abzuweisen, ein persönlicher Gott sei ein Widerspruch in sich selbst, sei unmöglich. Die Gesetze unsers Ver¬ standes gelten im Gebiete des unsrer sinnlichen Wahrnehmung erreichbaren, darüber hinaus aber dürfen wir sie nicht anwenden wollen. Und mich der Ur¬ sprung dieses Gebietes, eben der uns erkennbaren und erreichbaren Welt, liegt darüber hinaus in einem Jenseits, vou dem wir nichts wissen, nichts verstehen, und über das wir nur Vermutungen anstellen können. So z. B. wissen wir allerdings, daß jeder Körper, der im luftleeren Raume frei herabfällt, in der zweiten Sekunde seiner Fallzeit einen Weg von 14,7 Meter zurücklegt, unbe¬ dingt zurücklegen muß, und wenn wir einmal ein andres Ergebnis beobachten, so würden wir entweder an unserm Chronometer, oder an unsern gesunden Sinnen, oder an unserm Verstände zweifeln, nicht aber an der Unverbrüchlichkeit des Fallgesetzes. Aber wie es kommt, daß die Körper mit gleichmäßig be¬ schleunigter Geschwindigkeit fallen, das wissen wir nicht, ebensowenig wie wir wissen, warum die Planeten in gleichen Zeiträumen gleiche Flächen ihrer Bahnen beschreiben. Von den Gesetzen der Physik und Chemie ist kein einziges, sowie die Lehrsätze der Mathematik, ans dem Wege der logischen Ableitung ans einem oder mehreren Grundsätzen gefunden worden, sondern sie wurden ans beobachteten Naturereignissen abgeleitet, und so oft der Verstand versuchte, Naturgesetze aus sich selber heranszuspiuuen, ging er irre, wie ans den Schick¬ salen der scholastischen Naturwissenschaft zur Genüge bekannt ist. Die Natur¬ gesetze also wurzeln nicht in unserm Verstände. Die Logik zwingt uns zwar, das einmnl gefundene Gesetz auf jede» einzelnen Fall anzuwenden, aber sie zwingt uns nicht, das Gesetz von vornherein so zu deuten, wie es die Er¬ fahrung nachträglich findet. Warum, sagt Lotze, sollten es Körper, die ein¬ ander anziehen, nicht ebenso machen, wie wir selbst, wenn wir von einer andern Person oder von einen. Orte angezogen werden? Wir pflege» dann anfangs zu eilen. Später gehen wir langsamer, teils weil wir müde geworden sind, teils weil wir nun der Erreichung des Zieles gewiß sind. Und sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/455>, abgerufen am 23.07.2024.