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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Linn und der öozinlismus

dem Kalkschasf auf dem Kopfe hohe Gerüste zu erklimmen. Auch hat er voll¬
kommen Recht mit seinem Spott über die, die ihn anklagen, er wolle durch
seine öffentliche Erziehung die Kinder von den Eltern losreißen. Als ob nicht
in seiner sozialistischen Gesellschaft, falls sie möglich wäre, die Eltern ohne
Ausnahme weit mehr Zeit haben würden, sich mit ihren Kindern in deren
Freistunden zu beschäftigen, als alle heutigen Proletariereltern! Als ob nicht
die meisten Eltern des Mittelstandes alltäglich froh wären, wenn die Kinder
in die Schule fort sind, und namentlich am Schluß der Ferien, daß die Schale
wieder angeht! Als ob nicht die meisten vornehmen Eltern ihre Kinder fremden
Leuten anvertrauten und sie sich möglichst vom Leibe hielten! Als ob sich
nicht die meisten vornehmen Mütter der Erfüllung der ersten und heiligsten
Mutterpflicht, die ja sogar schon für etwas Unanständiges gilt, entzögen und
Dirnen als Vertreterinnen mieteten, während Bebel fordert, daß jede Mutter
diese Pflicht selbst erfülle!

Das fünfte, was wir an Bebels Phantasiegebäude entschieden verwerfen,
ist der darin herrschende Atheismus. Einen persönlichen Vorwurf freilich
können wir ihm auch daraus nicht machen. Das ganze Prvfessorentum aller
christlichen Länder ist atheistisch, und wenn auch die Ausnahmen in England
und Deutschland etwas häufiger zu werden scheinen, so bleiben sie doch vor¬
läufig noch Ausnahmen. Und überall, in gelehrten Werken wie in populari-
sirenden Zeitschriften und Vorträgen, wird der Atheismus als das unabweis¬
bare Ergebnis der Denkarbeit dargestellt. Wer sich zum Glauben an einen
persönlichen Gott zu bekennen den Mut hat, der verzichtet damit auf den Ruf
eines Vertreters der Wissenschaft. Wenn nun der Mann aus dem Volke zu¬
gleich unzähligemal vernimmt, daß die Erhebung des ganzen Volkes anf die
Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis das nächste Ziel des Kulturfortschrittes
sei, wie sollte er sich da nicht beeilen, dnrch Abwerfung des Glaubens an
Gott die erste so leicht zu erklimmende Stufe zu besteigen? Unter diesen Um¬
ständen muß man die Aufstellung des sozialistischen Zuknnstsideals, so thöricht
und falsch es auch sein mag, noch als ein großes Glück preisen. Denn mit
der Hoffnung hört das Streben auf; verliert also der arme Mann die Hoff¬
nung ans den jenseitigen Himmel, so muß er an einen diesseitigen glauben,
wenn er nicht stumpfsinniger Trägheit, der Trunksucht, der Verzweiflung,
nihilistischer Mord- oder Selbstmordmanie anheimfallen soll.

Diesen sozialistischen Optimismus kaun demnach unser Volk so lange nicht
entbehren, als es den christlichen nicht wiedergewonnen hat. Es wäre geradezu
entsetzlich, wenn statt seiner das Schvpenhanertum sich der Massen bemächtigt
hätte; unser Volk würde damit ans die Stufe des russischen hinabgesunken sein.
Und an Bebels wunderbar hoffnungsfrohen Optimismus ist noch besonders
sein guter sittlicher Kern anzuerkennen, der sich u. n. in der Bekämpfung der
Darwinianer und Mnlthnsiauer offenbart. Den erster" wirft er mit Recht


Die Linn und der öozinlismus

dem Kalkschasf auf dem Kopfe hohe Gerüste zu erklimmen. Auch hat er voll¬
kommen Recht mit seinem Spott über die, die ihn anklagen, er wolle durch
seine öffentliche Erziehung die Kinder von den Eltern losreißen. Als ob nicht
in seiner sozialistischen Gesellschaft, falls sie möglich wäre, die Eltern ohne
Ausnahme weit mehr Zeit haben würden, sich mit ihren Kindern in deren
Freistunden zu beschäftigen, als alle heutigen Proletariereltern! Als ob nicht
die meisten Eltern des Mittelstandes alltäglich froh wären, wenn die Kinder
in die Schule fort sind, und namentlich am Schluß der Ferien, daß die Schale
wieder angeht! Als ob nicht die meisten vornehmen Eltern ihre Kinder fremden
Leuten anvertrauten und sie sich möglichst vom Leibe hielten! Als ob sich
nicht die meisten vornehmen Mütter der Erfüllung der ersten und heiligsten
Mutterpflicht, die ja sogar schon für etwas Unanständiges gilt, entzögen und
Dirnen als Vertreterinnen mieteten, während Bebel fordert, daß jede Mutter
diese Pflicht selbst erfülle!

Das fünfte, was wir an Bebels Phantasiegebäude entschieden verwerfen,
ist der darin herrschende Atheismus. Einen persönlichen Vorwurf freilich
können wir ihm auch daraus nicht machen. Das ganze Prvfessorentum aller
christlichen Länder ist atheistisch, und wenn auch die Ausnahmen in England
und Deutschland etwas häufiger zu werden scheinen, so bleiben sie doch vor¬
läufig noch Ausnahmen. Und überall, in gelehrten Werken wie in populari-
sirenden Zeitschriften und Vorträgen, wird der Atheismus als das unabweis¬
bare Ergebnis der Denkarbeit dargestellt. Wer sich zum Glauben an einen
persönlichen Gott zu bekennen den Mut hat, der verzichtet damit auf den Ruf
eines Vertreters der Wissenschaft. Wenn nun der Mann aus dem Volke zu¬
gleich unzähligemal vernimmt, daß die Erhebung des ganzen Volkes anf die
Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis das nächste Ziel des Kulturfortschrittes
sei, wie sollte er sich da nicht beeilen, dnrch Abwerfung des Glaubens an
Gott die erste so leicht zu erklimmende Stufe zu besteigen? Unter diesen Um¬
ständen muß man die Aufstellung des sozialistischen Zuknnstsideals, so thöricht
und falsch es auch sein mag, noch als ein großes Glück preisen. Denn mit
der Hoffnung hört das Streben auf; verliert also der arme Mann die Hoff¬
nung ans den jenseitigen Himmel, so muß er an einen diesseitigen glauben,
wenn er nicht stumpfsinniger Trägheit, der Trunksucht, der Verzweiflung,
nihilistischer Mord- oder Selbstmordmanie anheimfallen soll.

Diesen sozialistischen Optimismus kaun demnach unser Volk so lange nicht
entbehren, als es den christlichen nicht wiedergewonnen hat. Es wäre geradezu
entsetzlich, wenn statt seiner das Schvpenhanertum sich der Massen bemächtigt
hätte; unser Volk würde damit ans die Stufe des russischen hinabgesunken sein.
Und an Bebels wunderbar hoffnungsfrohen Optimismus ist noch besonders
sein guter sittlicher Kern anzuerkennen, der sich u. n. in der Bekämpfung der
Darwinianer und Mnlthnsiauer offenbart. Den erster» wirft er mit Recht


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[0406] Die Linn und der öozinlismus dem Kalkschasf auf dem Kopfe hohe Gerüste zu erklimmen. Auch hat er voll¬ kommen Recht mit seinem Spott über die, die ihn anklagen, er wolle durch seine öffentliche Erziehung die Kinder von den Eltern losreißen. Als ob nicht in seiner sozialistischen Gesellschaft, falls sie möglich wäre, die Eltern ohne Ausnahme weit mehr Zeit haben würden, sich mit ihren Kindern in deren Freistunden zu beschäftigen, als alle heutigen Proletariereltern! Als ob nicht die meisten Eltern des Mittelstandes alltäglich froh wären, wenn die Kinder in die Schule fort sind, und namentlich am Schluß der Ferien, daß die Schale wieder angeht! Als ob nicht die meisten vornehmen Eltern ihre Kinder fremden Leuten anvertrauten und sie sich möglichst vom Leibe hielten! Als ob sich nicht die meisten vornehmen Mütter der Erfüllung der ersten und heiligsten Mutterpflicht, die ja sogar schon für etwas Unanständiges gilt, entzögen und Dirnen als Vertreterinnen mieteten, während Bebel fordert, daß jede Mutter diese Pflicht selbst erfülle! Das fünfte, was wir an Bebels Phantasiegebäude entschieden verwerfen, ist der darin herrschende Atheismus. Einen persönlichen Vorwurf freilich können wir ihm auch daraus nicht machen. Das ganze Prvfessorentum aller christlichen Länder ist atheistisch, und wenn auch die Ausnahmen in England und Deutschland etwas häufiger zu werden scheinen, so bleiben sie doch vor¬ läufig noch Ausnahmen. Und überall, in gelehrten Werken wie in populari- sirenden Zeitschriften und Vorträgen, wird der Atheismus als das unabweis¬ bare Ergebnis der Denkarbeit dargestellt. Wer sich zum Glauben an einen persönlichen Gott zu bekennen den Mut hat, der verzichtet damit auf den Ruf eines Vertreters der Wissenschaft. Wenn nun der Mann aus dem Volke zu¬ gleich unzähligemal vernimmt, daß die Erhebung des ganzen Volkes anf die Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis das nächste Ziel des Kulturfortschrittes sei, wie sollte er sich da nicht beeilen, dnrch Abwerfung des Glaubens an Gott die erste so leicht zu erklimmende Stufe zu besteigen? Unter diesen Um¬ ständen muß man die Aufstellung des sozialistischen Zuknnstsideals, so thöricht und falsch es auch sein mag, noch als ein großes Glück preisen. Denn mit der Hoffnung hört das Streben auf; verliert also der arme Mann die Hoff¬ nung ans den jenseitigen Himmel, so muß er an einen diesseitigen glauben, wenn er nicht stumpfsinniger Trägheit, der Trunksucht, der Verzweiflung, nihilistischer Mord- oder Selbstmordmanie anheimfallen soll. Diesen sozialistischen Optimismus kaun demnach unser Volk so lange nicht entbehren, als es den christlichen nicht wiedergewonnen hat. Es wäre geradezu entsetzlich, wenn statt seiner das Schvpenhanertum sich der Massen bemächtigt hätte; unser Volk würde damit ans die Stufe des russischen hinabgesunken sein. Und an Bebels wunderbar hoffnungsfrohen Optimismus ist noch besonders sein guter sittlicher Kern anzuerkennen, der sich u. n. in der Bekämpfung der Darwinianer und Mnlthnsiauer offenbart. Den erster» wirft er mit Recht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/406>, abgerufen am 23.07.2024.