Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.Judith Trachteiibetg Lea Barbara in der Todesstunde das Wiedersehen zu versagen, nimmt sich der Mit diesem Entschluß beginnt eine Reihe seltsamer Demütigungen für Judith Trachteiibetg Lea Barbara in der Todesstunde das Wiedersehen zu versagen, nimmt sich der Mit diesem Entschluß beginnt eine Reihe seltsamer Demütigungen für <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209561"/> <fw type="header" place="top"> Judith Trachteiibetg</fw><lb/> <p xml:id="ID_930" prev="#ID_929"> Lea Barbara in der Todesstunde das Wiedersehen zu versagen, nimmt sich der<lb/> doppelt ansgestoszenen an und vergönnt ihr Zuflucht in ihrem ärmlichen<lb/> Häuschen. In dem Augenblicke, wo sich in der Judengemeinde ihres Heimats-<lb/> ortes die Kunde von ihrer Rückkehr als Betrogene, als Vettleriu, als Tod¬<lb/> kranke verbreitet, erfährt auch Graf Baranowski, was geschehen ist, und da er<lb/> schon vorher, nach einer Verständigung mit seinem braven Rechtsanwalt, ent¬<lb/> schlossen war, seinen Frevel durch eine wirkliche Taufe Judiths und eine wirk¬<lb/> liche Heirat mit ihr zu sühnen, so ist er jetzt doppelt dazu erbötig. Nun<lb/> aber trifft er bei Judith Trachtenberg aus einen harten Widerstand. Sie hat<lb/> erfahren, daß ihr der sterbende Vater auf dem „guten Ort" das Grab neben<lb/> dem seinen hat sichern lassen, falls sie als Jüdin stirbt, und jetzt erscheint ihr<lb/> dieses Grab als das Beste, was ihr geblieben ist, als ihr teuerstes Erbe. An<lb/> die Stelle der früheren leidenschaftlichen Liebe zu Baranowski ist eine Art<lb/> Haß getreten. „Er raubte, er stahl mir meine Ehre vor den Menschen, aber<lb/> er »ahn nicht, ohne zu geben. Ein andres jedoch stahl und raubte er mir,<lb/> ohne es zu ersetzen, und das war wahrlich noch ein heiligeres Gut. Er stahl<lb/> mir meinen Glauben und gab mir dafür — einige Tropfen Wasser aus der<lb/> Hand eines Gauners." Judith ist in den Erschütterungen ihrer Leidensmonate<lb/> wieder ganz Jüdin, und zwar jetzt fanatische Jüdin geworden. Sie sagt dem<lb/> vermittelnden Arzte I)r. Reiser- „Ich hab' oft genug gehört: wir haben alle<lb/> nur einen Vater im Himmel! Ich habe selbst daran geglaubt! Aber nun,<lb/> wenn ich mein eignes Geschick erwäge nud daS der andern um mich her, nun<lb/> kann ich nicht mehr daran glauben! Wie, wir sollten um unsers Glaubens<lb/> willen so viel gelitten haben, und es war eigentlich überflüssig? Es ist ihm<lb/> gleichgiltig, wenn wir Juden bleiben oder nicht? Warum läßt er uns dann<lb/> als Juden geboren werden? Nein, er muß wissen, was er damit will, nicht<lb/> zwecklos fließt unser Blut, unsre Thräne — sonst wäre er nicht der All¬<lb/> erbarmende, der Allgerechte!" Sie weist das Anerbieten Baranowskis zurück<lb/> und deutet nur an, daß es eine Versöhnung gebe, wenn der Graf auf das<lb/> Opfer ihres Väterglaubens verzichten und sich im Grvßherzogtnm Sachsen-<lb/> Weimar, wo Ehen zwischen Christen und Juden gesetzlich gestattet sind, mit<lb/> ihr trauen lassen wolle. Graf Baranowski, der, um der unerträglichen Situa¬<lb/> tion ein Ende zu machen, sich schon selbst bei dem neuen Kreiskommissar Groza<lb/> angezeigt hat, überwindet sich auch so weit und geht darauf ein.</p><lb/> <p xml:id="ID_931" next="#ID_932"> Mit diesem Entschluß beginnt eine Reihe seltsamer Demütigungen für<lb/> den Grafen Agenor, Demütigungen, die ihren Quell in der starren Entschlossen¬<lb/> heit des jungen Weibes haben, die vor Zeiten so biegsam in der Hand ihres<lb/> Geliebten gewesen ist. Judith Trachtenberg weigert sich nach der Trauung<lb/> in Weimar, mit ihren: Gemahl nach Italien zu gehen, fordert vielmehr, daß<lb/> in Wien der Versuch gemacht werde, die Anerkennung der seltsamen Ehe für<lb/> Österreich zu erwirken, und setzt ihre Forderung in einer Audienz bei Fürst</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0328]
Judith Trachteiibetg
Lea Barbara in der Todesstunde das Wiedersehen zu versagen, nimmt sich der
doppelt ansgestoszenen an und vergönnt ihr Zuflucht in ihrem ärmlichen
Häuschen. In dem Augenblicke, wo sich in der Judengemeinde ihres Heimats-
ortes die Kunde von ihrer Rückkehr als Betrogene, als Vettleriu, als Tod¬
kranke verbreitet, erfährt auch Graf Baranowski, was geschehen ist, und da er
schon vorher, nach einer Verständigung mit seinem braven Rechtsanwalt, ent¬
schlossen war, seinen Frevel durch eine wirkliche Taufe Judiths und eine wirk¬
liche Heirat mit ihr zu sühnen, so ist er jetzt doppelt dazu erbötig. Nun
aber trifft er bei Judith Trachtenberg aus einen harten Widerstand. Sie hat
erfahren, daß ihr der sterbende Vater auf dem „guten Ort" das Grab neben
dem seinen hat sichern lassen, falls sie als Jüdin stirbt, und jetzt erscheint ihr
dieses Grab als das Beste, was ihr geblieben ist, als ihr teuerstes Erbe. An
die Stelle der früheren leidenschaftlichen Liebe zu Baranowski ist eine Art
Haß getreten. „Er raubte, er stahl mir meine Ehre vor den Menschen, aber
er »ahn nicht, ohne zu geben. Ein andres jedoch stahl und raubte er mir,
ohne es zu ersetzen, und das war wahrlich noch ein heiligeres Gut. Er stahl
mir meinen Glauben und gab mir dafür — einige Tropfen Wasser aus der
Hand eines Gauners." Judith ist in den Erschütterungen ihrer Leidensmonate
wieder ganz Jüdin, und zwar jetzt fanatische Jüdin geworden. Sie sagt dem
vermittelnden Arzte I)r. Reiser- „Ich hab' oft genug gehört: wir haben alle
nur einen Vater im Himmel! Ich habe selbst daran geglaubt! Aber nun,
wenn ich mein eignes Geschick erwäge nud daS der andern um mich her, nun
kann ich nicht mehr daran glauben! Wie, wir sollten um unsers Glaubens
willen so viel gelitten haben, und es war eigentlich überflüssig? Es ist ihm
gleichgiltig, wenn wir Juden bleiben oder nicht? Warum läßt er uns dann
als Juden geboren werden? Nein, er muß wissen, was er damit will, nicht
zwecklos fließt unser Blut, unsre Thräne — sonst wäre er nicht der All¬
erbarmende, der Allgerechte!" Sie weist das Anerbieten Baranowskis zurück
und deutet nur an, daß es eine Versöhnung gebe, wenn der Graf auf das
Opfer ihres Väterglaubens verzichten und sich im Grvßherzogtnm Sachsen-
Weimar, wo Ehen zwischen Christen und Juden gesetzlich gestattet sind, mit
ihr trauen lassen wolle. Graf Baranowski, der, um der unerträglichen Situa¬
tion ein Ende zu machen, sich schon selbst bei dem neuen Kreiskommissar Groza
angezeigt hat, überwindet sich auch so weit und geht darauf ein.
Mit diesem Entschluß beginnt eine Reihe seltsamer Demütigungen für
den Grafen Agenor, Demütigungen, die ihren Quell in der starren Entschlossen¬
heit des jungen Weibes haben, die vor Zeiten so biegsam in der Hand ihres
Geliebten gewesen ist. Judith Trachtenberg weigert sich nach der Trauung
in Weimar, mit ihren: Gemahl nach Italien zu gehen, fordert vielmehr, daß
in Wien der Versuch gemacht werde, die Anerkennung der seltsamen Ehe für
Österreich zu erwirken, und setzt ihre Forderung in einer Audienz bei Fürst
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