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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Judith Trachtenberg

das menschliche Mitleid durch einen Zusatz von Ekel und Mißmut nicht tötet,
aber lahmt, etwas, was die poetische Wirkung, die jedes Kunstwerk hinterlassen
soll, in sozialpolitische Erörterungen und Betrachtungen umzuwandeln droht,

Judith Trachtenberg, die Titelheldin der Geschichte, ist die einzige Tochter
und das zweite Kind eines jüdischen Fabrikanten und Kaufmanns Nathanicl
Trachtenberg, der in einer kleinen Stadt Ostgaliziens seine Geschäfte betreibt und
seinen Reichtum mehrt. Er vermag sich durch seine günstigen Vermögens¬
verhältnisse eine bessere Bildung anzueignen, als damals -- die Geschichte
spielt vor etwa zwei Menschenaltern unter der Negierung des Kaisers Franz
-- den meisten seiner Glaubensgenossen vergönnt war. Er ist aber trotzdem
ein strenggläubiger Jude in der Art, wie sie nur der Osten Europas noch
kennt. Er läßt seine Kinder, den Sohn Nafciel und die Tochter Judith, in
der eignen Strengglüubigkeit erziehen. "Ich will -- sagt er dem Lehrer-- nicht
entscheiden, ob es ein Glück oder ein Unglück ist, als Jude geboren zu sein;
ich habe darüber meine besondern Gedanken, welche l.!) Sie, den kindlichfrvmmen
Mann, vielleicht tief erschrecken würden. Aber ein Schicksal ist es, und sein
Schicksal soll der Mensch uuverbittert tragen lernen. Darum suche ich meine
Kinder in der vollen Pietät für das Juden tun zu erziehen; die Demütigungen,
welche <!) ihnen ans ihrer Abstammung erwachsen werden, kann ich ihnen nicht
lindern oder gar fernhalten, so suche ich ihnen wenigstens als Wegzehrung
den Trost ius Leben mitzugeben, daß sie für etwas leiden, was ihren Herzen
teuer und der Schmerzen wert ist." Wie er bei dieser Auffassung doch dazu
kommt, den Kindern einen nähern Umgang mit christlichen Kindern der Landstadt zu
erlauben, ist nicht näher begründet, jedenfalls erwächst aus dem Verkehr Judiths
in der Familie des kaiserlichen Kreiskommissars, des Herrn Ludwig von Wrv-
blewsti, schweres Unheil. Der Beamte ist einer von den gemeinen, genußsüchtigen,
bestechlichen altösterreichischen Beamten, deren Franzos eine ganze Anzahl ge¬
schildert hat, und die merkwürdigerweise immer und ausschließlich Polen sind.
Er weiß sehr wohl, warum er deu Fabrikanten, in dessen Hanse er umsonst
wohnt, und dessen Tochter als gesellschaftlich Gleichgestellte behandelt, Nathaniel
Trachtenberg aber legt sich die Dinge so zurecht, wie sie ihm passen. Da er bei
sich beschlossen hat, den Sohn Rafael die Rechte studiren zu lassen, die Tochter schon
früh nu einen aufgeklärten und gebildeten Juden in Deutschland zu verheirate",
und gewohnt ist, in Dingen, die er wohl überlegt und richtig berechnet hat,
seinen Willen zu haben, so hält er es gar nicht für möglich, daß ein innres
Leben in der Seele eines seiner Kinder seine Pläne kreuzen könne. Unglück¬
licherweise hat aber Judith Trachteuberg aus dem Umgange mit den Wrvblewskis
und andern christlichen Familien das Verlangen gewonnen, sich der Welt des
Ghetto zu entziehen, und gerät darüber zuerst in Zerwürfnis mit ihrem ge¬
liebten Bruder Rafael, der sich trotzig und fanatisch an eben diese Welt an¬
klammert, dann aber in einen Herzenskonflikt der verhängnisvollsten Art.


Judith Trachtenberg

das menschliche Mitleid durch einen Zusatz von Ekel und Mißmut nicht tötet,
aber lahmt, etwas, was die poetische Wirkung, die jedes Kunstwerk hinterlassen
soll, in sozialpolitische Erörterungen und Betrachtungen umzuwandeln droht,

Judith Trachtenberg, die Titelheldin der Geschichte, ist die einzige Tochter
und das zweite Kind eines jüdischen Fabrikanten und Kaufmanns Nathanicl
Trachtenberg, der in einer kleinen Stadt Ostgaliziens seine Geschäfte betreibt und
seinen Reichtum mehrt. Er vermag sich durch seine günstigen Vermögens¬
verhältnisse eine bessere Bildung anzueignen, als damals — die Geschichte
spielt vor etwa zwei Menschenaltern unter der Negierung des Kaisers Franz
— den meisten seiner Glaubensgenossen vergönnt war. Er ist aber trotzdem
ein strenggläubiger Jude in der Art, wie sie nur der Osten Europas noch
kennt. Er läßt seine Kinder, den Sohn Nafciel und die Tochter Judith, in
der eignen Strengglüubigkeit erziehen. „Ich will — sagt er dem Lehrer— nicht
entscheiden, ob es ein Glück oder ein Unglück ist, als Jude geboren zu sein;
ich habe darüber meine besondern Gedanken, welche l.!) Sie, den kindlichfrvmmen
Mann, vielleicht tief erschrecken würden. Aber ein Schicksal ist es, und sein
Schicksal soll der Mensch uuverbittert tragen lernen. Darum suche ich meine
Kinder in der vollen Pietät für das Juden tun zu erziehen; die Demütigungen,
welche <!) ihnen ans ihrer Abstammung erwachsen werden, kann ich ihnen nicht
lindern oder gar fernhalten, so suche ich ihnen wenigstens als Wegzehrung
den Trost ius Leben mitzugeben, daß sie für etwas leiden, was ihren Herzen
teuer und der Schmerzen wert ist." Wie er bei dieser Auffassung doch dazu
kommt, den Kindern einen nähern Umgang mit christlichen Kindern der Landstadt zu
erlauben, ist nicht näher begründet, jedenfalls erwächst aus dem Verkehr Judiths
in der Familie des kaiserlichen Kreiskommissars, des Herrn Ludwig von Wrv-
blewsti, schweres Unheil. Der Beamte ist einer von den gemeinen, genußsüchtigen,
bestechlichen altösterreichischen Beamten, deren Franzos eine ganze Anzahl ge¬
schildert hat, und die merkwürdigerweise immer und ausschließlich Polen sind.
Er weiß sehr wohl, warum er deu Fabrikanten, in dessen Hanse er umsonst
wohnt, und dessen Tochter als gesellschaftlich Gleichgestellte behandelt, Nathaniel
Trachtenberg aber legt sich die Dinge so zurecht, wie sie ihm passen. Da er bei
sich beschlossen hat, den Sohn Rafael die Rechte studiren zu lassen, die Tochter schon
früh nu einen aufgeklärten und gebildeten Juden in Deutschland zu verheirate»,
und gewohnt ist, in Dingen, die er wohl überlegt und richtig berechnet hat,
seinen Willen zu haben, so hält er es gar nicht für möglich, daß ein innres
Leben in der Seele eines seiner Kinder seine Pläne kreuzen könne. Unglück¬
licherweise hat aber Judith Trachteuberg aus dem Umgange mit den Wrvblewskis
und andern christlichen Familien das Verlangen gewonnen, sich der Welt des
Ghetto zu entziehen, und gerät darüber zuerst in Zerwürfnis mit ihrem ge¬
liebten Bruder Rafael, der sich trotzig und fanatisch an eben diese Welt an¬
klammert, dann aber in einen Herzenskonflikt der verhängnisvollsten Art.


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[0324] Judith Trachtenberg das menschliche Mitleid durch einen Zusatz von Ekel und Mißmut nicht tötet, aber lahmt, etwas, was die poetische Wirkung, die jedes Kunstwerk hinterlassen soll, in sozialpolitische Erörterungen und Betrachtungen umzuwandeln droht, Judith Trachtenberg, die Titelheldin der Geschichte, ist die einzige Tochter und das zweite Kind eines jüdischen Fabrikanten und Kaufmanns Nathanicl Trachtenberg, der in einer kleinen Stadt Ostgaliziens seine Geschäfte betreibt und seinen Reichtum mehrt. Er vermag sich durch seine günstigen Vermögens¬ verhältnisse eine bessere Bildung anzueignen, als damals — die Geschichte spielt vor etwa zwei Menschenaltern unter der Negierung des Kaisers Franz — den meisten seiner Glaubensgenossen vergönnt war. Er ist aber trotzdem ein strenggläubiger Jude in der Art, wie sie nur der Osten Europas noch kennt. Er läßt seine Kinder, den Sohn Nafciel und die Tochter Judith, in der eignen Strengglüubigkeit erziehen. „Ich will — sagt er dem Lehrer— nicht entscheiden, ob es ein Glück oder ein Unglück ist, als Jude geboren zu sein; ich habe darüber meine besondern Gedanken, welche l.!) Sie, den kindlichfrvmmen Mann, vielleicht tief erschrecken würden. Aber ein Schicksal ist es, und sein Schicksal soll der Mensch uuverbittert tragen lernen. Darum suche ich meine Kinder in der vollen Pietät für das Juden tun zu erziehen; die Demütigungen, welche <!) ihnen ans ihrer Abstammung erwachsen werden, kann ich ihnen nicht lindern oder gar fernhalten, so suche ich ihnen wenigstens als Wegzehrung den Trost ius Leben mitzugeben, daß sie für etwas leiden, was ihren Herzen teuer und der Schmerzen wert ist." Wie er bei dieser Auffassung doch dazu kommt, den Kindern einen nähern Umgang mit christlichen Kindern der Landstadt zu erlauben, ist nicht näher begründet, jedenfalls erwächst aus dem Verkehr Judiths in der Familie des kaiserlichen Kreiskommissars, des Herrn Ludwig von Wrv- blewsti, schweres Unheil. Der Beamte ist einer von den gemeinen, genußsüchtigen, bestechlichen altösterreichischen Beamten, deren Franzos eine ganze Anzahl ge¬ schildert hat, und die merkwürdigerweise immer und ausschließlich Polen sind. Er weiß sehr wohl, warum er deu Fabrikanten, in dessen Hanse er umsonst wohnt, und dessen Tochter als gesellschaftlich Gleichgestellte behandelt, Nathaniel Trachtenberg aber legt sich die Dinge so zurecht, wie sie ihm passen. Da er bei sich beschlossen hat, den Sohn Rafael die Rechte studiren zu lassen, die Tochter schon früh nu einen aufgeklärten und gebildeten Juden in Deutschland zu verheirate», und gewohnt ist, in Dingen, die er wohl überlegt und richtig berechnet hat, seinen Willen zu haben, so hält er es gar nicht für möglich, daß ein innres Leben in der Seele eines seiner Kinder seine Pläne kreuzen könne. Unglück¬ licherweise hat aber Judith Trachteuberg aus dem Umgange mit den Wrvblewskis und andern christlichen Familien das Verlangen gewonnen, sich der Welt des Ghetto zu entziehen, und gerät darüber zuerst in Zerwürfnis mit ihrem ge¬ liebten Bruder Rafael, der sich trotzig und fanatisch an eben diese Welt an¬ klammert, dann aber in einen Herzenskonflikt der verhängnisvollsten Art.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/324>, abgerufen am 23.07.2024.