Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

freieste und doch um meisten mathematische sei, die einzig geeignete, das Unaus¬
sprechliche auszudrücken, und auch die einzige, die man in allgemeine Formeln
wie eine algebraische Gleichung bringen könne.

Ein merkwürdiger Charakter unter diesen dr^oss ^eus ist der Schauspieler
Tombre, der die Pantomimik für den Gipfel der dramatischen Kunst hält, weil
das Wort dem Genie des Schauspielers doch immer Fesseln anlege und den
Seelenzustand nie so kräftig und wahr wiedergeben könne, wie das mimische
Spiel. Nach seiner Ansicht müssen die Verse ganz monoton ausgesprochen
werden, der Inhalt und die Bedeutung der Verse dagegen ist durch "organische
Physiognomie" auszudrücken, die der Rolle wissenschaftlich angepaßt werden
muß. Der Schauspieler hat also gleichsam durch die verschiedenen Variationen
seiner Stellungen, seines Mienenspiels und seiner Bewegungen die charakteri¬
stischen Worte zu unterstreiche". In dieser Auffassung spielt denn auch Tombre
die Rolle des Orest; seine Verse tönen einförmig wie das Brummen einer
großen Orgelflöte, aber sein gewundener und verrenkter Körper phrasirt alle
Gedanken, Wörter, ja sogar Silben mit den Beinen, singt sie mit den Lenden,
betont sie mit den Hüften, donnert sie mit den Schultern heraus und giebt
ihnen Klangfarbe mit den Armen. Das Publikum sitzt vor dieser außerordent¬
lichen Leistung einer pantomimischen Phrasiruug mit offnem Munde wie ver¬
blüfft da; dann aber erhebt es seine Stimme zu einem brüllenden und wiehernden
Gelächter und weiß dem Künstler durch dieses Organ mindestens ebenso deutlich
seinen Seelenzustand auszudrücken, wie durch die Pantomimik. Nichcpin will
hiermit einen Hieb gegen die Symbolisten ausführen, die in der Poesie ledig¬
lich eine Kunst der Rhythmen und der Silben sehen und mit ihren Dichtungen
darauf ausgehen, durch eine mystische Beziehung zwischen Wortklang und
Empfindung musikalische Erregungen in der Seele des Lesers wachzurufen.
Daher schwärmen die Symbolisten unter der Führerschafe eines Stuphane
Mallarmv und Paul Verlaine auch nur für die mystische Musik eines Wagner,
für Parzival und den heiligen Gral, für die Präraphaeliten, für die Gemälde
eines Puvis de Chavcmnes und eines Gustave Moreau, denn nach ihrer An¬
sicht ist nicht nur jede Musik und jedes Gedicht, sondern auch jede Landschaft
weiter nichts, als ein "we cle- 1'Airs.

Schon in I^a Uhr hat sich Jean Richepin gegen diese Schule der Sym¬
bolisten gewandt: "Wir meinen -- sagt er in einem Gedicht --, daß die Natur
ihr eignes Antlitz habe, und daß wir uns nicht immer selbst in ihr bewundern
dürfen, wir wollen ii? ihre Ursachen und Wirkungen eindringen, die Natur¬
kräfte verfolgen in ihren Wandlungen uuter den verschiedensten Wesen, die
von der Natur geschaffen und vernichtet werden. Die Oberfläche gefällt uns,
aber noch mehr die Tiefe; wir überlassen es den Träumern, die Sterne an¬
zubellen. Denn um das Leben in der Natur besingen zu können, dazu gehört
heutzutage mehr: (lest pen, ä'se.i-6 ^>ovo, 11 kaut Serf savant!"




Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

freieste und doch um meisten mathematische sei, die einzig geeignete, das Unaus¬
sprechliche auszudrücken, und auch die einzige, die man in allgemeine Formeln
wie eine algebraische Gleichung bringen könne.

Ein merkwürdiger Charakter unter diesen dr^oss ^eus ist der Schauspieler
Tombre, der die Pantomimik für den Gipfel der dramatischen Kunst hält, weil
das Wort dem Genie des Schauspielers doch immer Fesseln anlege und den
Seelenzustand nie so kräftig und wahr wiedergeben könne, wie das mimische
Spiel. Nach seiner Ansicht müssen die Verse ganz monoton ausgesprochen
werden, der Inhalt und die Bedeutung der Verse dagegen ist durch „organische
Physiognomie" auszudrücken, die der Rolle wissenschaftlich angepaßt werden
muß. Der Schauspieler hat also gleichsam durch die verschiedenen Variationen
seiner Stellungen, seines Mienenspiels und seiner Bewegungen die charakteri¬
stischen Worte zu unterstreiche». In dieser Auffassung spielt denn auch Tombre
die Rolle des Orest; seine Verse tönen einförmig wie das Brummen einer
großen Orgelflöte, aber sein gewundener und verrenkter Körper phrasirt alle
Gedanken, Wörter, ja sogar Silben mit den Beinen, singt sie mit den Lenden,
betont sie mit den Hüften, donnert sie mit den Schultern heraus und giebt
ihnen Klangfarbe mit den Armen. Das Publikum sitzt vor dieser außerordent¬
lichen Leistung einer pantomimischen Phrasiruug mit offnem Munde wie ver¬
blüfft da; dann aber erhebt es seine Stimme zu einem brüllenden und wiehernden
Gelächter und weiß dem Künstler durch dieses Organ mindestens ebenso deutlich
seinen Seelenzustand auszudrücken, wie durch die Pantomimik. Nichcpin will
hiermit einen Hieb gegen die Symbolisten ausführen, die in der Poesie ledig¬
lich eine Kunst der Rhythmen und der Silben sehen und mit ihren Dichtungen
darauf ausgehen, durch eine mystische Beziehung zwischen Wortklang und
Empfindung musikalische Erregungen in der Seele des Lesers wachzurufen.
Daher schwärmen die Symbolisten unter der Führerschafe eines Stuphane
Mallarmv und Paul Verlaine auch nur für die mystische Musik eines Wagner,
für Parzival und den heiligen Gral, für die Präraphaeliten, für die Gemälde
eines Puvis de Chavcmnes und eines Gustave Moreau, denn nach ihrer An¬
sicht ist nicht nur jede Musik und jedes Gedicht, sondern auch jede Landschaft
weiter nichts, als ein «we cle- 1'Airs.

Schon in I^a Uhr hat sich Jean Richepin gegen diese Schule der Sym¬
bolisten gewandt: „Wir meinen — sagt er in einem Gedicht —, daß die Natur
ihr eignes Antlitz habe, und daß wir uns nicht immer selbst in ihr bewundern
dürfen, wir wollen ii? ihre Ursachen und Wirkungen eindringen, die Natur¬
kräfte verfolgen in ihren Wandlungen uuter den verschiedensten Wesen, die
von der Natur geschaffen und vernichtet werden. Die Oberfläche gefällt uns,
aber noch mehr die Tiefe; wir überlassen es den Träumern, die Sterne an¬
zubellen. Denn um das Leben in der Natur besingen zu können, dazu gehört
heutzutage mehr: (lest pen, ä'se.i-6 ^>ovo, 11 kaut Serf savant!"




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209520"/>
          <fw type="header" place="top"> Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_812" prev="#ID_811"> freieste und doch um meisten mathematische sei, die einzig geeignete, das Unaus¬<lb/>
sprechliche auszudrücken, und auch die einzige, die man in allgemeine Formeln<lb/>
wie eine algebraische Gleichung bringen könne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_813"> Ein merkwürdiger Charakter unter diesen dr^oss ^eus ist der Schauspieler<lb/>
Tombre, der die Pantomimik für den Gipfel der dramatischen Kunst hält, weil<lb/>
das Wort dem Genie des Schauspielers doch immer Fesseln anlege und den<lb/>
Seelenzustand nie so kräftig und wahr wiedergeben könne, wie das mimische<lb/>
Spiel. Nach seiner Ansicht müssen die Verse ganz monoton ausgesprochen<lb/>
werden, der Inhalt und die Bedeutung der Verse dagegen ist durch &#x201E;organische<lb/>
Physiognomie" auszudrücken, die der Rolle wissenschaftlich angepaßt werden<lb/>
muß. Der Schauspieler hat also gleichsam durch die verschiedenen Variationen<lb/>
seiner Stellungen, seines Mienenspiels und seiner Bewegungen die charakteri¬<lb/>
stischen Worte zu unterstreiche». In dieser Auffassung spielt denn auch Tombre<lb/>
die Rolle des Orest; seine Verse tönen einförmig wie das Brummen einer<lb/>
großen Orgelflöte, aber sein gewundener und verrenkter Körper phrasirt alle<lb/>
Gedanken, Wörter, ja sogar Silben mit den Beinen, singt sie mit den Lenden,<lb/>
betont sie mit den Hüften, donnert sie mit den Schultern heraus und giebt<lb/>
ihnen Klangfarbe mit den Armen. Das Publikum sitzt vor dieser außerordent¬<lb/>
lichen Leistung einer pantomimischen Phrasiruug mit offnem Munde wie ver¬<lb/>
blüfft da; dann aber erhebt es seine Stimme zu einem brüllenden und wiehernden<lb/>
Gelächter und weiß dem Künstler durch dieses Organ mindestens ebenso deutlich<lb/>
seinen Seelenzustand auszudrücken, wie durch die Pantomimik. Nichcpin will<lb/>
hiermit einen Hieb gegen die Symbolisten ausführen, die in der Poesie ledig¬<lb/>
lich eine Kunst der Rhythmen und der Silben sehen und mit ihren Dichtungen<lb/>
darauf ausgehen, durch eine mystische Beziehung zwischen Wortklang und<lb/>
Empfindung musikalische Erregungen in der Seele des Lesers wachzurufen.<lb/>
Daher schwärmen die Symbolisten unter der Führerschafe eines Stuphane<lb/>
Mallarmv und Paul Verlaine auch nur für die mystische Musik eines Wagner,<lb/>
für Parzival und den heiligen Gral, für die Präraphaeliten, für die Gemälde<lb/>
eines Puvis de Chavcmnes und eines Gustave Moreau, denn nach ihrer An¬<lb/>
sicht ist nicht nur jede Musik und jedes Gedicht, sondern auch jede Landschaft<lb/>
weiter nichts, als ein «we cle- 1'Airs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_814"> Schon in I^a Uhr hat sich Jean Richepin gegen diese Schule der Sym¬<lb/>
bolisten gewandt: &#x201E;Wir meinen &#x2014; sagt er in einem Gedicht &#x2014;, daß die Natur<lb/>
ihr eignes Antlitz habe, und daß wir uns nicht immer selbst in ihr bewundern<lb/>
dürfen, wir wollen ii? ihre Ursachen und Wirkungen eindringen, die Natur¬<lb/>
kräfte verfolgen in ihren Wandlungen uuter den verschiedensten Wesen, die<lb/>
von der Natur geschaffen und vernichtet werden. Die Oberfläche gefällt uns,<lb/>
aber noch mehr die Tiefe; wir überlassen es den Träumern, die Sterne an¬<lb/>
zubellen. Denn um das Leben in der Natur besingen zu können, dazu gehört<lb/>
heutzutage mehr: (lest pen, ä'se.i-6 ^&gt;ovo, 11 kaut Serf savant!"</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart freieste und doch um meisten mathematische sei, die einzig geeignete, das Unaus¬ sprechliche auszudrücken, und auch die einzige, die man in allgemeine Formeln wie eine algebraische Gleichung bringen könne. Ein merkwürdiger Charakter unter diesen dr^oss ^eus ist der Schauspieler Tombre, der die Pantomimik für den Gipfel der dramatischen Kunst hält, weil das Wort dem Genie des Schauspielers doch immer Fesseln anlege und den Seelenzustand nie so kräftig und wahr wiedergeben könne, wie das mimische Spiel. Nach seiner Ansicht müssen die Verse ganz monoton ausgesprochen werden, der Inhalt und die Bedeutung der Verse dagegen ist durch „organische Physiognomie" auszudrücken, die der Rolle wissenschaftlich angepaßt werden muß. Der Schauspieler hat also gleichsam durch die verschiedenen Variationen seiner Stellungen, seines Mienenspiels und seiner Bewegungen die charakteri¬ stischen Worte zu unterstreiche». In dieser Auffassung spielt denn auch Tombre die Rolle des Orest; seine Verse tönen einförmig wie das Brummen einer großen Orgelflöte, aber sein gewundener und verrenkter Körper phrasirt alle Gedanken, Wörter, ja sogar Silben mit den Beinen, singt sie mit den Lenden, betont sie mit den Hüften, donnert sie mit den Schultern heraus und giebt ihnen Klangfarbe mit den Armen. Das Publikum sitzt vor dieser außerordent¬ lichen Leistung einer pantomimischen Phrasiruug mit offnem Munde wie ver¬ blüfft da; dann aber erhebt es seine Stimme zu einem brüllenden und wiehernden Gelächter und weiß dem Künstler durch dieses Organ mindestens ebenso deutlich seinen Seelenzustand auszudrücken, wie durch die Pantomimik. Nichcpin will hiermit einen Hieb gegen die Symbolisten ausführen, die in der Poesie ledig¬ lich eine Kunst der Rhythmen und der Silben sehen und mit ihren Dichtungen darauf ausgehen, durch eine mystische Beziehung zwischen Wortklang und Empfindung musikalische Erregungen in der Seele des Lesers wachzurufen. Daher schwärmen die Symbolisten unter der Führerschafe eines Stuphane Mallarmv und Paul Verlaine auch nur für die mystische Musik eines Wagner, für Parzival und den heiligen Gral, für die Präraphaeliten, für die Gemälde eines Puvis de Chavcmnes und eines Gustave Moreau, denn nach ihrer An¬ sicht ist nicht nur jede Musik und jedes Gedicht, sondern auch jede Landschaft weiter nichts, als ein «we cle- 1'Airs. Schon in I^a Uhr hat sich Jean Richepin gegen diese Schule der Sym¬ bolisten gewandt: „Wir meinen — sagt er in einem Gedicht —, daß die Natur ihr eignes Antlitz habe, und daß wir uns nicht immer selbst in ihr bewundern dürfen, wir wollen ii? ihre Ursachen und Wirkungen eindringen, die Natur¬ kräfte verfolgen in ihren Wandlungen uuter den verschiedensten Wesen, die von der Natur geschaffen und vernichtet werden. Die Oberfläche gefällt uns, aber noch mehr die Tiefe; wir überlassen es den Träumern, die Sterne an¬ zubellen. Denn um das Leben in der Natur besingen zu können, dazu gehört heutzutage mehr: (lest pen, ä'se.i-6 ^>ovo, 11 kaut Serf savant!"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/287>, abgerufen am 23.07.2024.