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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Staat machen, das gerade Gegenteil davon. Und wenn eine vornehme Dame
von fremden Besuchern nicht im Morgenkleide überrascht werden mag, das sie
anständig verhüllt, so sind nicht Sittlichkeitsrücksichten der Grund davon, wie
schon der Umstand beweist, daß sie sich schämen würde, auch nur einen
"Scmktimeter" weniger tief ausgeschnitten ans dem Balle zu erscheinen, als es
die Mode gerade fordert. Ein Lehrer protestirte kürzlich sehr lebhaft gegen
die von einem Kollegen erhobne Forderung, daß die Kinder im Sommer aus
Gesundheitsrücksichten zum Vnrfußgehen aufgemuntert werden sollten, und er¬
klärte: "Ich verlange, daß die Kinder wenigstens in die Schule anständig ge¬
kleidet kommen." Worauf der andre erwiderte, es sei ihm interessant, zu er¬
fahren, daß Moses, die Propheten, Christus und die Apostel unanständige
Leute gewesen seien. Es wäre geradezu drollig, wenn jemand die heutigen
Stutzer ihrer Lackstiefeln wegen für sittlicher hielte als die Apostel. Wie immer
nun auch die Volksschullehrer diesen einzelnen Punkt auffassen mögen, daß sie
im allgemeinen allein Volkstümlichen abhold sind, ist nur zu erklärlich. Sind
sie doch ihrer Ausbildung und ihrer amtlichen Stellung nach halb Vücher-
menschen und halb Bureaukraten. Die Bureaukraten aber und die Vücher-
menschen sind vou der Überzeugung durchdrungen, daß jedes nicht durch Bücher
gebildete und nicht nach einem obrigkeitlich vorgeschriebenen Reglement lebende
Volk unbedingt dumm, roh, unsittlich und unglücklich sein müsse, und daß sie
berufen seien, diese Unglücklichen durch Einbläunng der gerade herrschenden
Zeitmeinuugeu und durch Einfügung in die zuletzt erfnndne Lebensordnung zu
erziehen und zu beglücken. Was freilich die Büchermeuscheu anlangt, so hat
ein Teil von ihnen die überraschende Entdeckung gemacht, daß jener Wust von
Aberglauben, Unsitte und Unkultur, den ihre Vorgänger sich rühmten aus-
gefegt und vernichtet zu haben, höchst wertvolle Gegenstände wissenschaftlicher
Forschung und ästhetischer Beschauung enthalte, und daß, wenn nicht glück¬
licherweise weit mehr davon übrig geblieben wäre, als die stolzen Aufklärer
sich träumen ließen, die Wissenschaft vou den menschlichen Dingen sehr bald
auf eine ungeheure Anzahl statistischer Tabellen zurückgeführt sein würde.
Man würde dann nur noch zu lernen brauchen, wie viel Millionen Doppel¬
zentner Roggen, Weizen, Kohlen, Reis, Kaffee, Seife, Petroleum, Papier,
Wolle und Baumwolle jedes Jahr in jedem Lande verbraucht werdeu, und
wie viel tausend Menschen in jedem Staate geboren, wie viel andre tausend
durch Baeillen oder Bacillentöter, durch Feuer, Wasser, explodirende Gase und
Maschinen- oder Wagenräder umgebracht werden, und man besäße die ganze
Wissenschaft; mit den Menschen im einzelnen sich zu beschäftigen, hätte keinen
Zweck mehr, weil sie einander im Äußern und Innern so vollkommen gleichen
würden, wie die Mehlmasfen und Kvhleustücke, die sie verbrauchen.

Damit wäre uns der Weg zur Höhe der Betrachtung gewiesen. Dr. Jahr
hat den Lehrern als Beweggründe zur Pflege des Volkstümlichen ans Herz


Staat machen, das gerade Gegenteil davon. Und wenn eine vornehme Dame
von fremden Besuchern nicht im Morgenkleide überrascht werden mag, das sie
anständig verhüllt, so sind nicht Sittlichkeitsrücksichten der Grund davon, wie
schon der Umstand beweist, daß sie sich schämen würde, auch nur einen
„Scmktimeter" weniger tief ausgeschnitten ans dem Balle zu erscheinen, als es
die Mode gerade fordert. Ein Lehrer protestirte kürzlich sehr lebhaft gegen
die von einem Kollegen erhobne Forderung, daß die Kinder im Sommer aus
Gesundheitsrücksichten zum Vnrfußgehen aufgemuntert werden sollten, und er¬
klärte: „Ich verlange, daß die Kinder wenigstens in die Schule anständig ge¬
kleidet kommen." Worauf der andre erwiderte, es sei ihm interessant, zu er¬
fahren, daß Moses, die Propheten, Christus und die Apostel unanständige
Leute gewesen seien. Es wäre geradezu drollig, wenn jemand die heutigen
Stutzer ihrer Lackstiefeln wegen für sittlicher hielte als die Apostel. Wie immer
nun auch die Volksschullehrer diesen einzelnen Punkt auffassen mögen, daß sie
im allgemeinen allein Volkstümlichen abhold sind, ist nur zu erklärlich. Sind
sie doch ihrer Ausbildung und ihrer amtlichen Stellung nach halb Vücher-
menschen und halb Bureaukraten. Die Bureaukraten aber und die Vücher-
menschen sind vou der Überzeugung durchdrungen, daß jedes nicht durch Bücher
gebildete und nicht nach einem obrigkeitlich vorgeschriebenen Reglement lebende
Volk unbedingt dumm, roh, unsittlich und unglücklich sein müsse, und daß sie
berufen seien, diese Unglücklichen durch Einbläunng der gerade herrschenden
Zeitmeinuugeu und durch Einfügung in die zuletzt erfnndne Lebensordnung zu
erziehen und zu beglücken. Was freilich die Büchermeuscheu anlangt, so hat
ein Teil von ihnen die überraschende Entdeckung gemacht, daß jener Wust von
Aberglauben, Unsitte und Unkultur, den ihre Vorgänger sich rühmten aus-
gefegt und vernichtet zu haben, höchst wertvolle Gegenstände wissenschaftlicher
Forschung und ästhetischer Beschauung enthalte, und daß, wenn nicht glück¬
licherweise weit mehr davon übrig geblieben wäre, als die stolzen Aufklärer
sich träumen ließen, die Wissenschaft vou den menschlichen Dingen sehr bald
auf eine ungeheure Anzahl statistischer Tabellen zurückgeführt sein würde.
Man würde dann nur noch zu lernen brauchen, wie viel Millionen Doppel¬
zentner Roggen, Weizen, Kohlen, Reis, Kaffee, Seife, Petroleum, Papier,
Wolle und Baumwolle jedes Jahr in jedem Lande verbraucht werdeu, und
wie viel tausend Menschen in jedem Staate geboren, wie viel andre tausend
durch Baeillen oder Bacillentöter, durch Feuer, Wasser, explodirende Gase und
Maschinen- oder Wagenräder umgebracht werden, und man besäße die ganze
Wissenschaft; mit den Menschen im einzelnen sich zu beschäftigen, hätte keinen
Zweck mehr, weil sie einander im Äußern und Innern so vollkommen gleichen
würden, wie die Mehlmasfen und Kvhleustücke, die sie verbrauchen.

Damit wäre uns der Weg zur Höhe der Betrachtung gewiesen. Dr. Jahr
hat den Lehrern als Beweggründe zur Pflege des Volkstümlichen ans Herz


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[0268] Staat machen, das gerade Gegenteil davon. Und wenn eine vornehme Dame von fremden Besuchern nicht im Morgenkleide überrascht werden mag, das sie anständig verhüllt, so sind nicht Sittlichkeitsrücksichten der Grund davon, wie schon der Umstand beweist, daß sie sich schämen würde, auch nur einen „Scmktimeter" weniger tief ausgeschnitten ans dem Balle zu erscheinen, als es die Mode gerade fordert. Ein Lehrer protestirte kürzlich sehr lebhaft gegen die von einem Kollegen erhobne Forderung, daß die Kinder im Sommer aus Gesundheitsrücksichten zum Vnrfußgehen aufgemuntert werden sollten, und er¬ klärte: „Ich verlange, daß die Kinder wenigstens in die Schule anständig ge¬ kleidet kommen." Worauf der andre erwiderte, es sei ihm interessant, zu er¬ fahren, daß Moses, die Propheten, Christus und die Apostel unanständige Leute gewesen seien. Es wäre geradezu drollig, wenn jemand die heutigen Stutzer ihrer Lackstiefeln wegen für sittlicher hielte als die Apostel. Wie immer nun auch die Volksschullehrer diesen einzelnen Punkt auffassen mögen, daß sie im allgemeinen allein Volkstümlichen abhold sind, ist nur zu erklärlich. Sind sie doch ihrer Ausbildung und ihrer amtlichen Stellung nach halb Vücher- menschen und halb Bureaukraten. Die Bureaukraten aber und die Vücher- menschen sind vou der Überzeugung durchdrungen, daß jedes nicht durch Bücher gebildete und nicht nach einem obrigkeitlich vorgeschriebenen Reglement lebende Volk unbedingt dumm, roh, unsittlich und unglücklich sein müsse, und daß sie berufen seien, diese Unglücklichen durch Einbläunng der gerade herrschenden Zeitmeinuugeu und durch Einfügung in die zuletzt erfnndne Lebensordnung zu erziehen und zu beglücken. Was freilich die Büchermeuscheu anlangt, so hat ein Teil von ihnen die überraschende Entdeckung gemacht, daß jener Wust von Aberglauben, Unsitte und Unkultur, den ihre Vorgänger sich rühmten aus- gefegt und vernichtet zu haben, höchst wertvolle Gegenstände wissenschaftlicher Forschung und ästhetischer Beschauung enthalte, und daß, wenn nicht glück¬ licherweise weit mehr davon übrig geblieben wäre, als die stolzen Aufklärer sich träumen ließen, die Wissenschaft vou den menschlichen Dingen sehr bald auf eine ungeheure Anzahl statistischer Tabellen zurückgeführt sein würde. Man würde dann nur noch zu lernen brauchen, wie viel Millionen Doppel¬ zentner Roggen, Weizen, Kohlen, Reis, Kaffee, Seife, Petroleum, Papier, Wolle und Baumwolle jedes Jahr in jedem Lande verbraucht werdeu, und wie viel tausend Menschen in jedem Staate geboren, wie viel andre tausend durch Baeillen oder Bacillentöter, durch Feuer, Wasser, explodirende Gase und Maschinen- oder Wagenräder umgebracht werden, und man besäße die ganze Wissenschaft; mit den Menschen im einzelnen sich zu beschäftigen, hätte keinen Zweck mehr, weil sie einander im Äußern und Innern so vollkommen gleichen würden, wie die Mehlmasfen und Kvhleustücke, die sie verbrauchen. Damit wäre uns der Weg zur Höhe der Betrachtung gewiesen. Dr. Jahr hat den Lehrern als Beweggründe zur Pflege des Volkstümlichen ans Herz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/268>, abgerufen am 23.07.2024.