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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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ihn und sein Reich über den Häuser warf. Ein neues Beispiel des Undankes
bot das Verhalten Rußlands nach dem Jahre 1878, als Fürst Bismarck auf
dem Berliner Kongreß zum Besten kehrte, was sich irgend aus der verfahrnen
orientalischen Lage, in der Rußland steckte, zurechtrücken ließ. Aus jenen
Tagen stammt der russische Haß gegen Deutschland als eine nationale Gruud-
empfindung, die gewissermaßen zum nationalen Glaubensbekenntnis jedes Russen
gehört. Und während Fürst Bismarck stets bemüht war, diesen Stachel
wieder zu entfernen, indem er in rücksichtsvollster Schonung der nationalen
Empfindlichkeit der Russen ihren Herausforderungen gegenüber beide Augen
zudrückte, steigerte sich bei ihnen der Haß in geradezu krankhafter Weise, ja er
spitzte sich direkt auf die Person des Fürsten Bismarck zu, der für alles ver¬
antwortlich gemacht wurde: für die schlechten russischen Finanzen wie für die
bulgarischen Mißerfolge, für die Not der russische" Landwirtschaft wie für den
Widerstand der deutsch-protestantischen Grenzprovinzen gegen die planmüßige
Russisizirung, durch die sie vernichtet werden sollten.

Einen Augenblick schien sich diese Stimmung zu ändern, als die Nachricht
vom Rücktritt Bismnrcks in Rußland eintraf. Da regte sich das slawische
Mitleid gegenüber der gefallenen Größe, der Haß, der den einen Main? ge¬
troffen hatte, wandte sich wieder dem deutschen Volle als Ganzem zu, ja es
gab einige Monate hindurch, nachdem Herr Lwow die Ehre gehabt hatte, in
Friedrichsruh empfangen zu werden, keine populärere Persönlichkeit in Rußland
als den Fürsten Bismarck. Aber doch nur einen Augenblick. Mußte man
auch zugeben, daß die Fabel vom Berliner Kongreß, an der man so lange
gezerrt hatte, eine Fabel war, man griff doch wieder zu den alten Ein¬
bildungen zurück, und heute, wo uns die Neujahrsrückblicke der russischen
Blätter vorliegen, finden wir keine Stimme, die auch nur ein Wort des Be^
dauerns äußerte. Im Gegenteil: lauter Jubel schallt auf der ganzen Linie.
Pauslawisteu und Reaktionäre, Slawophilen und Liberale stimmen in den Ruf
ein: Gottlob, daß er nicht mehr da steht, wo er stand!

Gewiß ein Beispiel politischer Undankbarkeit, das zu denken giebt. Deal
daß Fürst Bismarck ein politischer Freund Rußlands gewesen ist und ihm, so
lange er nicht in den Stand der Notwehr gedrängt war, alles Gute nicht nur
gönnte, sondern auch zuzuwenden bemüht war und auch zuwandte, ist eine
geschichtliche Thatsache, an der sich nicht rütteln läßt.

Während nun in der Abwendung von dem Fürsten ganz Rußland einig
ist, gehen in der Beurteilung Kaiser Wilhelms II. die Parteien weit aus¬
einander. Das Organ der heute an die Wand gedrückten und fast mundtot
gemachten Liberalen Rußlands, der ^Vöswilc .Isvrox^, hat unserm Kaiser eine
so begeisterte Würdigung zu teil werden lassen, daß sie sogar in Deutschland
schwer übertroffen werden könnte, die übrigen, HrWlnianin, ^lovvojv ^roms",
die russische Petersburger und die russische Moskaner Zeitung, haben den Haß,


wirtschaftlichen Grundlagen der russischen Machtstellung

ihn und sein Reich über den Häuser warf. Ein neues Beispiel des Undankes
bot das Verhalten Rußlands nach dem Jahre 1878, als Fürst Bismarck auf
dem Berliner Kongreß zum Besten kehrte, was sich irgend aus der verfahrnen
orientalischen Lage, in der Rußland steckte, zurechtrücken ließ. Aus jenen
Tagen stammt der russische Haß gegen Deutschland als eine nationale Gruud-
empfindung, die gewissermaßen zum nationalen Glaubensbekenntnis jedes Russen
gehört. Und während Fürst Bismarck stets bemüht war, diesen Stachel
wieder zu entfernen, indem er in rücksichtsvollster Schonung der nationalen
Empfindlichkeit der Russen ihren Herausforderungen gegenüber beide Augen
zudrückte, steigerte sich bei ihnen der Haß in geradezu krankhafter Weise, ja er
spitzte sich direkt auf die Person des Fürsten Bismarck zu, der für alles ver¬
antwortlich gemacht wurde: für die schlechten russischen Finanzen wie für die
bulgarischen Mißerfolge, für die Not der russische» Landwirtschaft wie für den
Widerstand der deutsch-protestantischen Grenzprovinzen gegen die planmüßige
Russisizirung, durch die sie vernichtet werden sollten.

Einen Augenblick schien sich diese Stimmung zu ändern, als die Nachricht
vom Rücktritt Bismnrcks in Rußland eintraf. Da regte sich das slawische
Mitleid gegenüber der gefallenen Größe, der Haß, der den einen Main? ge¬
troffen hatte, wandte sich wieder dem deutschen Volle als Ganzem zu, ja es
gab einige Monate hindurch, nachdem Herr Lwow die Ehre gehabt hatte, in
Friedrichsruh empfangen zu werden, keine populärere Persönlichkeit in Rußland
als den Fürsten Bismarck. Aber doch nur einen Augenblick. Mußte man
auch zugeben, daß die Fabel vom Berliner Kongreß, an der man so lange
gezerrt hatte, eine Fabel war, man griff doch wieder zu den alten Ein¬
bildungen zurück, und heute, wo uns die Neujahrsrückblicke der russischen
Blätter vorliegen, finden wir keine Stimme, die auch nur ein Wort des Be^
dauerns äußerte. Im Gegenteil: lauter Jubel schallt auf der ganzen Linie.
Pauslawisteu und Reaktionäre, Slawophilen und Liberale stimmen in den Ruf
ein: Gottlob, daß er nicht mehr da steht, wo er stand!

Gewiß ein Beispiel politischer Undankbarkeit, das zu denken giebt. Deal
daß Fürst Bismarck ein politischer Freund Rußlands gewesen ist und ihm, so
lange er nicht in den Stand der Notwehr gedrängt war, alles Gute nicht nur
gönnte, sondern auch zuzuwenden bemüht war und auch zuwandte, ist eine
geschichtliche Thatsache, an der sich nicht rütteln läßt.

Während nun in der Abwendung von dem Fürsten ganz Rußland einig
ist, gehen in der Beurteilung Kaiser Wilhelms II. die Parteien weit aus¬
einander. Das Organ der heute an die Wand gedrückten und fast mundtot
gemachten Liberalen Rußlands, der ^Vöswilc .Isvrox^, hat unserm Kaiser eine
so begeisterte Würdigung zu teil werden lassen, daß sie sogar in Deutschland
schwer übertroffen werden könnte, die übrigen, HrWlnianin, ^lovvojv ^roms»,
die russische Petersburger und die russische Moskaner Zeitung, haben den Haß,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/250>, abgerufen am 23.07.2024.