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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Tochter erhalten läßt und von den armen Frauen obenein in dein lächerlichen
Wahn, daß er der Kunst nicht entsage" dürfe, sonder" weiter kämpfen, d. h.
auf ihre Kosten gut leben und faulenzen müsse, gutmütig unterstützt wird.
Diese Bewunderung ist nicht unberechtigt, denn Delvbelle ist unstreitig eine
wohlgelungene Figur, aber der Charakter ist trotz eigentümlicher Züge in seinen
Grundlinien doch nicht originell.

Der ältere Bruder Delobelles ist Mr. Turvehdrop in Dickens Roman
"Vleathouse," jener geschniegelte Tcinzmeister, der von den Stuudeuhouoraren
erst seiner Frau, dann seines Sohnes behaglich lebt und nur die eine Aufgabe
kennt, stets als ein Muster anständiger Haltung zu erscheinen. Wie er in der
Erinnerung an die schmeichelhaften Worte des Prinzregenten, der ihm als das
Ideal eines Gentleman erscheint, selbstgefällig schwelgt, so gedenkt Delobelle,
so oft es angeht, des goldenen Lorbeerkranzes der Abonnenten von Ulen^on,
und setzt man die Vergleichung fort, so finden sich noch mehr gemeinsame Züge
von Eitelkeit, Selbstsucht und sittlicher Haltlosigkeit.

Ich sehe in dieser Ähnlichkeit keinen Grund zum Tadel, wohl aber einen
Anlaß, gewisse Partien namentlich in frühern Werken Daudets, die zu deutlich
eine Anregung von Dickens verraten, nicht zu überschätzen. So wird ein
Kenner des englischen Humoristen schwerlich umhin können, bei der Lektüre
des Romans "Der kleine Dingsda" an Dickens Einfluß zu denken. Kein
andrer Romandichter hat mit solcher Vorliebe Kinder und Kinderleben ge¬
schildert. Eine große Anzahl seiner Erzählungen beginnt mit dem jugendlichsten
Alter des Helden oder der Heldin und schildert ihre weitere Entwicklung. Am
berühmtesten ist "David Copperfield," besonders interessant noch dadurch, daß
Dickens persönliche Erfahrungen hineinverwoben hat. Dasselbe hat Dandet
im "Kleinen Dingsda" gethan, wenn auch seinen Angaben zufolge die eignen
Erlebnisse einen beschränktem Teil des Inhalts bilden, als es im David Copper¬
field der Fall ist.

Wer kann aber die Schilderung des Gymnasiums zu Sarlande, den
Fall Boucohrau (vergl. Steerforth-Meil) und andre Partien lesen, ohne leb¬
haft an Personen und Ereignisse in "David Copperfield" erinnert zu werden?
Allerdings berichtet Daudet in seinem Buche "Dreißig Jahre Paris," daß er
zu einer Zeit, wo er Dickens noch gar nicht gelesen hatte, mit ihm verglichen
worden sei, "lange bevor ein aus England zurückkehrender Freund ihm von
der Ähnlichkeit David Copperfields mit dem "Kleinen Dingsda" gesprochen
hatte." Er führt daun die stellenweise recht auffallende Ähnlichkeit auf eine
gewisse Geistesverwandtschaft zurück, auf eine gleiche Liebe zu den Mühseligen
und Beladenen, vor allem auf die ähnliche traurige Jngend.

Ich lasse dahingestellt, ob diese Worte als eine ausreichende Erklärung
für die erwähnten und andre Ähnlichkeiten -- auch die Schilderung von
Dr, Jenkins bethlehcmitischer Stiftung im "Nabob" erinnert stark an die Armen-


Tochter erhalten läßt und von den armen Frauen obenein in dein lächerlichen
Wahn, daß er der Kunst nicht entsage» dürfe, sonder» weiter kämpfen, d. h.
auf ihre Kosten gut leben und faulenzen müsse, gutmütig unterstützt wird.
Diese Bewunderung ist nicht unberechtigt, denn Delvbelle ist unstreitig eine
wohlgelungene Figur, aber der Charakter ist trotz eigentümlicher Züge in seinen
Grundlinien doch nicht originell.

Der ältere Bruder Delobelles ist Mr. Turvehdrop in Dickens Roman
„Vleathouse," jener geschniegelte Tcinzmeister, der von den Stuudeuhouoraren
erst seiner Frau, dann seines Sohnes behaglich lebt und nur die eine Aufgabe
kennt, stets als ein Muster anständiger Haltung zu erscheinen. Wie er in der
Erinnerung an die schmeichelhaften Worte des Prinzregenten, der ihm als das
Ideal eines Gentleman erscheint, selbstgefällig schwelgt, so gedenkt Delobelle,
so oft es angeht, des goldenen Lorbeerkranzes der Abonnenten von Ulen^on,
und setzt man die Vergleichung fort, so finden sich noch mehr gemeinsame Züge
von Eitelkeit, Selbstsucht und sittlicher Haltlosigkeit.

Ich sehe in dieser Ähnlichkeit keinen Grund zum Tadel, wohl aber einen
Anlaß, gewisse Partien namentlich in frühern Werken Daudets, die zu deutlich
eine Anregung von Dickens verraten, nicht zu überschätzen. So wird ein
Kenner des englischen Humoristen schwerlich umhin können, bei der Lektüre
des Romans „Der kleine Dingsda" an Dickens Einfluß zu denken. Kein
andrer Romandichter hat mit solcher Vorliebe Kinder und Kinderleben ge¬
schildert. Eine große Anzahl seiner Erzählungen beginnt mit dem jugendlichsten
Alter des Helden oder der Heldin und schildert ihre weitere Entwicklung. Am
berühmtesten ist „David Copperfield," besonders interessant noch dadurch, daß
Dickens persönliche Erfahrungen hineinverwoben hat. Dasselbe hat Dandet
im „Kleinen Dingsda" gethan, wenn auch seinen Angaben zufolge die eignen
Erlebnisse einen beschränktem Teil des Inhalts bilden, als es im David Copper¬
field der Fall ist.

Wer kann aber die Schilderung des Gymnasiums zu Sarlande, den
Fall Boucohrau (vergl. Steerforth-Meil) und andre Partien lesen, ohne leb¬
haft an Personen und Ereignisse in „David Copperfield" erinnert zu werden?
Allerdings berichtet Daudet in seinem Buche „Dreißig Jahre Paris," daß er
zu einer Zeit, wo er Dickens noch gar nicht gelesen hatte, mit ihm verglichen
worden sei, „lange bevor ein aus England zurückkehrender Freund ihm von
der Ähnlichkeit David Copperfields mit dem »Kleinen Dingsda« gesprochen
hatte." Er führt daun die stellenweise recht auffallende Ähnlichkeit auf eine
gewisse Geistesverwandtschaft zurück, auf eine gleiche Liebe zu den Mühseligen
und Beladenen, vor allem auf die ähnliche traurige Jngend.

Ich lasse dahingestellt, ob diese Worte als eine ausreichende Erklärung
für die erwähnten und andre Ähnlichkeiten — auch die Schilderung von
Dr, Jenkins bethlehcmitischer Stiftung im „Nabob" erinnert stark an die Armen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/188>, abgerufen am 23.07.2024.