Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sollen wir das Beste vergessen?

Wie jedes an seiner Stelle zum Gcsamteüidruck beiträgt, wie die Sprache,
wie die Rhythmen dein Inhalt entsprechen und wie gewaltig sie wirken.
Wer sich nicht berufen glaubt, eine solche Erklärung für die Dichter zu
leisten, denn nicht allen Sterblichen geht die urewige Schönheit der Poesie
in gleicher Weise auf, der findet auch auf dem Gebiete der Prosaiker ein dank¬
bares Feld. Denn auch hier ist mit grammatischen Übungen noch lange nicht
alles gethan. Die Gesamtstellung eines Historikers in der Entwicklung der
von ihm gepflegten Gattung, seine Auffassung vom Wesen der Geschicht¬
schreibung, sein Standpunkt im öffentlichen Leben, sein Urteil über Personen
und Verhältnisse, das Besondre seines Stils, das alles sind Dinge, ohne deren
zeitweilige Erörterung viel von dem Nutzen, den die Lektüre bieten könnte,
verloren geht. Einen Thukydides soll mau doch vor allem als Geschicht¬
schreiber würdigen; da weiß man denn wirklich nicht, was mau dazu sagen soll,
wenn seine geschichtliche Erzählung uur flüchtig berührt oder gar übersprungen
wird, um eine desto ausführlichere Behandlung den eingestreuten Reden zuzu¬
wenden. Gerade das Umgekehrte wäre am Platze.

Nach unsern Erfahrungen muß die vorige Generation der Gymnasiallehrer
der Aufgaben in dieser Richtung sich noch mehr bewußt gewesen sein, unter der
jetzigen beginnt dieses Bewußtsein zu schwinden. Unsre heutigen jungen Philo¬
logen folgen dem Strome der wissenschaftlichen Forschung und legen uicht mehr
den Hauptwert auf ihren zukünftige" Beruf. So kommt es auch, daß, wenn sie
in diesen eintreten, ihre wissenschaftlichen Interessen ihnen vielfach höher stehen,
aber diese gehen nicht mehr mit denen der Schule zusammen, und die alten
Klassiker kommen dabei zu kurz. Verständnis, Liebe und Begeisterung für sie
wird meist nicht mehr erweckt, weil die, die das alles erwecken sollen, es
selber verloren haben. Man mag dagegen einwenden, was man will, so
viele einzelne Ausnahmen man auch als Gegenbeweise bringen mag, im großen
und ganzen verhält es sich so, man täusche sich darüber uicht. Mau sagt
Wohl, es habe immer gute und schlechte Lehrer gegeben. Aber dabei darf
man sich nicht beruhige". Es handelt sich hier nicht um eine vereinzelte
Erscheinung, sondern nur einen allgemeine" Zug der Zeit. Auch die Tüchtigsten
folgen mehr "ud mehr diesem Zuge. Wohl drängt sich de" Philologen selbst
diese Wahriiehmuug unerbittlich auf, und es erscheint wie eine bewußte Re¬
aktion, wenn gerade in neuerer Zeit von hervorragenden Gelehrten Kommentare
wesentlich zu Dichtern geschrieben werden, aus denen allerdings die zukünftigen
Lehrer zu lernen vermöchten, wie sie der Jugend das Verständnis der Alten
näher rücken können. Aber noch besitzen wir keine auch nur annähernd ge¬
nügende Zahl solcher Kommentare, und besaßen wir sie, es wäre damit nichts
geholfen. Der Student kann uicht alles lesen, und zudem fruchtet weit
mehr das lebendige Wort. Es tritt vielmehr gebieterisch die Notwendigkeit
an die Universitäten heran, den philologische" Hörern in weit größerem


Grenzboten 1 1391 2!)
Sollen wir das Beste vergessen?

Wie jedes an seiner Stelle zum Gcsamteüidruck beiträgt, wie die Sprache,
wie die Rhythmen dein Inhalt entsprechen und wie gewaltig sie wirken.
Wer sich nicht berufen glaubt, eine solche Erklärung für die Dichter zu
leisten, denn nicht allen Sterblichen geht die urewige Schönheit der Poesie
in gleicher Weise auf, der findet auch auf dem Gebiete der Prosaiker ein dank¬
bares Feld. Denn auch hier ist mit grammatischen Übungen noch lange nicht
alles gethan. Die Gesamtstellung eines Historikers in der Entwicklung der
von ihm gepflegten Gattung, seine Auffassung vom Wesen der Geschicht¬
schreibung, sein Standpunkt im öffentlichen Leben, sein Urteil über Personen
und Verhältnisse, das Besondre seines Stils, das alles sind Dinge, ohne deren
zeitweilige Erörterung viel von dem Nutzen, den die Lektüre bieten könnte,
verloren geht. Einen Thukydides soll mau doch vor allem als Geschicht¬
schreiber würdigen; da weiß man denn wirklich nicht, was mau dazu sagen soll,
wenn seine geschichtliche Erzählung uur flüchtig berührt oder gar übersprungen
wird, um eine desto ausführlichere Behandlung den eingestreuten Reden zuzu¬
wenden. Gerade das Umgekehrte wäre am Platze.

Nach unsern Erfahrungen muß die vorige Generation der Gymnasiallehrer
der Aufgaben in dieser Richtung sich noch mehr bewußt gewesen sein, unter der
jetzigen beginnt dieses Bewußtsein zu schwinden. Unsre heutigen jungen Philo¬
logen folgen dem Strome der wissenschaftlichen Forschung und legen uicht mehr
den Hauptwert auf ihren zukünftige» Beruf. So kommt es auch, daß, wenn sie
in diesen eintreten, ihre wissenschaftlichen Interessen ihnen vielfach höher stehen,
aber diese gehen nicht mehr mit denen der Schule zusammen, und die alten
Klassiker kommen dabei zu kurz. Verständnis, Liebe und Begeisterung für sie
wird meist nicht mehr erweckt, weil die, die das alles erwecken sollen, es
selber verloren haben. Man mag dagegen einwenden, was man will, so
viele einzelne Ausnahmen man auch als Gegenbeweise bringen mag, im großen
und ganzen verhält es sich so, man täusche sich darüber uicht. Mau sagt
Wohl, es habe immer gute und schlechte Lehrer gegeben. Aber dabei darf
man sich nicht beruhige». Es handelt sich hier nicht um eine vereinzelte
Erscheinung, sondern nur einen allgemeine» Zug der Zeit. Auch die Tüchtigsten
folgen mehr »ud mehr diesem Zuge. Wohl drängt sich de» Philologen selbst
diese Wahriiehmuug unerbittlich auf, und es erscheint wie eine bewußte Re¬
aktion, wenn gerade in neuerer Zeit von hervorragenden Gelehrten Kommentare
wesentlich zu Dichtern geschrieben werden, aus denen allerdings die zukünftigen
Lehrer zu lernen vermöchten, wie sie der Jugend das Verständnis der Alten
näher rücken können. Aber noch besitzen wir keine auch nur annähernd ge¬
nügende Zahl solcher Kommentare, und besaßen wir sie, es wäre damit nichts
geholfen. Der Student kann uicht alles lesen, und zudem fruchtet weit
mehr das lebendige Wort. Es tritt vielmehr gebieterisch die Notwendigkeit
an die Universitäten heran, den philologische» Hörern in weit größerem


Grenzboten 1 1391 2!)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209418"/>
          <fw type="header" place="top"> Sollen wir das Beste vergessen?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_532" prev="#ID_531"> Wie jedes an seiner Stelle zum Gcsamteüidruck beiträgt, wie die Sprache,<lb/>
wie die Rhythmen dein Inhalt entsprechen und wie gewaltig sie wirken.<lb/>
Wer sich nicht berufen glaubt, eine solche Erklärung für die Dichter zu<lb/>
leisten, denn nicht allen Sterblichen geht die urewige Schönheit der Poesie<lb/>
in gleicher Weise auf, der findet auch auf dem Gebiete der Prosaiker ein dank¬<lb/>
bares Feld. Denn auch hier ist mit grammatischen Übungen noch lange nicht<lb/>
alles gethan. Die Gesamtstellung eines Historikers in der Entwicklung der<lb/>
von ihm gepflegten Gattung, seine Auffassung vom Wesen der Geschicht¬<lb/>
schreibung, sein Standpunkt im öffentlichen Leben, sein Urteil über Personen<lb/>
und Verhältnisse, das Besondre seines Stils, das alles sind Dinge, ohne deren<lb/>
zeitweilige Erörterung viel von dem Nutzen, den die Lektüre bieten könnte,<lb/>
verloren geht. Einen Thukydides soll mau doch vor allem als Geschicht¬<lb/>
schreiber würdigen; da weiß man denn wirklich nicht, was mau dazu sagen soll,<lb/>
wenn seine geschichtliche Erzählung uur flüchtig berührt oder gar übersprungen<lb/>
wird, um eine desto ausführlichere Behandlung den eingestreuten Reden zuzu¬<lb/>
wenden.  Gerade das Umgekehrte wäre am Platze.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_533" next="#ID_534"> Nach unsern Erfahrungen muß die vorige Generation der Gymnasiallehrer<lb/>
der Aufgaben in dieser Richtung sich noch mehr bewußt gewesen sein, unter der<lb/>
jetzigen beginnt dieses Bewußtsein zu schwinden. Unsre heutigen jungen Philo¬<lb/>
logen folgen dem Strome der wissenschaftlichen Forschung und legen uicht mehr<lb/>
den Hauptwert auf ihren zukünftige» Beruf. So kommt es auch, daß, wenn sie<lb/>
in diesen eintreten, ihre wissenschaftlichen Interessen ihnen vielfach höher stehen,<lb/>
aber diese gehen nicht mehr mit denen der Schule zusammen, und die alten<lb/>
Klassiker kommen dabei zu kurz. Verständnis, Liebe und Begeisterung für sie<lb/>
wird meist nicht mehr erweckt, weil die, die das alles erwecken sollen, es<lb/>
selber verloren haben. Man mag dagegen einwenden, was man will, so<lb/>
viele einzelne Ausnahmen man auch als Gegenbeweise bringen mag, im großen<lb/>
und ganzen verhält es sich so, man täusche sich darüber uicht. Mau sagt<lb/>
Wohl, es habe immer gute und schlechte Lehrer gegeben. Aber dabei darf<lb/>
man sich nicht beruhige». Es handelt sich hier nicht um eine vereinzelte<lb/>
Erscheinung, sondern nur einen allgemeine» Zug der Zeit. Auch die Tüchtigsten<lb/>
folgen mehr »ud mehr diesem Zuge. Wohl drängt sich de» Philologen selbst<lb/>
diese Wahriiehmuug unerbittlich auf, und es erscheint wie eine bewußte Re¬<lb/>
aktion, wenn gerade in neuerer Zeit von hervorragenden Gelehrten Kommentare<lb/>
wesentlich zu Dichtern geschrieben werden, aus denen allerdings die zukünftigen<lb/>
Lehrer zu lernen vermöchten, wie sie der Jugend das Verständnis der Alten<lb/>
näher rücken können. Aber noch besitzen wir keine auch nur annähernd ge¬<lb/>
nügende Zahl solcher Kommentare, und besaßen wir sie, es wäre damit nichts<lb/>
geholfen. Der Student kann uicht alles lesen, und zudem fruchtet weit<lb/>
mehr das lebendige Wort. Es tritt vielmehr gebieterisch die Notwendigkeit<lb/>
an die Universitäten heran, den philologische» Hörern in weit größerem</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 1 1391 2!)</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0185] Sollen wir das Beste vergessen? Wie jedes an seiner Stelle zum Gcsamteüidruck beiträgt, wie die Sprache, wie die Rhythmen dein Inhalt entsprechen und wie gewaltig sie wirken. Wer sich nicht berufen glaubt, eine solche Erklärung für die Dichter zu leisten, denn nicht allen Sterblichen geht die urewige Schönheit der Poesie in gleicher Weise auf, der findet auch auf dem Gebiete der Prosaiker ein dank¬ bares Feld. Denn auch hier ist mit grammatischen Übungen noch lange nicht alles gethan. Die Gesamtstellung eines Historikers in der Entwicklung der von ihm gepflegten Gattung, seine Auffassung vom Wesen der Geschicht¬ schreibung, sein Standpunkt im öffentlichen Leben, sein Urteil über Personen und Verhältnisse, das Besondre seines Stils, das alles sind Dinge, ohne deren zeitweilige Erörterung viel von dem Nutzen, den die Lektüre bieten könnte, verloren geht. Einen Thukydides soll mau doch vor allem als Geschicht¬ schreiber würdigen; da weiß man denn wirklich nicht, was mau dazu sagen soll, wenn seine geschichtliche Erzählung uur flüchtig berührt oder gar übersprungen wird, um eine desto ausführlichere Behandlung den eingestreuten Reden zuzu¬ wenden. Gerade das Umgekehrte wäre am Platze. Nach unsern Erfahrungen muß die vorige Generation der Gymnasiallehrer der Aufgaben in dieser Richtung sich noch mehr bewußt gewesen sein, unter der jetzigen beginnt dieses Bewußtsein zu schwinden. Unsre heutigen jungen Philo¬ logen folgen dem Strome der wissenschaftlichen Forschung und legen uicht mehr den Hauptwert auf ihren zukünftige» Beruf. So kommt es auch, daß, wenn sie in diesen eintreten, ihre wissenschaftlichen Interessen ihnen vielfach höher stehen, aber diese gehen nicht mehr mit denen der Schule zusammen, und die alten Klassiker kommen dabei zu kurz. Verständnis, Liebe und Begeisterung für sie wird meist nicht mehr erweckt, weil die, die das alles erwecken sollen, es selber verloren haben. Man mag dagegen einwenden, was man will, so viele einzelne Ausnahmen man auch als Gegenbeweise bringen mag, im großen und ganzen verhält es sich so, man täusche sich darüber uicht. Mau sagt Wohl, es habe immer gute und schlechte Lehrer gegeben. Aber dabei darf man sich nicht beruhige». Es handelt sich hier nicht um eine vereinzelte Erscheinung, sondern nur einen allgemeine» Zug der Zeit. Auch die Tüchtigsten folgen mehr »ud mehr diesem Zuge. Wohl drängt sich de» Philologen selbst diese Wahriiehmuug unerbittlich auf, und es erscheint wie eine bewußte Re¬ aktion, wenn gerade in neuerer Zeit von hervorragenden Gelehrten Kommentare wesentlich zu Dichtern geschrieben werden, aus denen allerdings die zukünftigen Lehrer zu lernen vermöchten, wie sie der Jugend das Verständnis der Alten näher rücken können. Aber noch besitzen wir keine auch nur annähernd ge¬ nügende Zahl solcher Kommentare, und besaßen wir sie, es wäre damit nichts geholfen. Der Student kann uicht alles lesen, und zudem fruchtet weit mehr das lebendige Wort. Es tritt vielmehr gebieterisch die Notwendigkeit an die Universitäten heran, den philologische» Hörern in weit größerem Grenzboten 1 1391 2!)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/185
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/185>, abgerufen am 23.07.2024.