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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Sollen wir das Beste vergessen?

für sein ganzes Leben mitbrachte und die alten Schriftsteller als Quelle eines
reinen Genusses in dankbarer Erinnerung behielt, hört man jetzt überall
-- wenn auch mit manchen rühmlichen Ausnahmen -- vonseiten sollst höchst ver¬
ständiger und einsichtsvoller Männer, obschon sie auf dem Gymnasium vor¬
gebildet wurden, die lautesten Klagen über das "trockene Zeug," mit dem sie
sich ans der Schule hätten plagen müssen. Gegen diese anerkannte Thatsache
hilft kein vornehmes Achselzucken des klassischen Philologen, helfen keine
Redensarten, wie die, daß Kaviar nicht fürs Volk sei, und wie sie alle heißen
mögen, mit denen man die unbequeme Thatsache der Berechtigung dieser
Gegenströmung aus der Welt zu schaffen sucht. Es ist ein ganz unbilliges
Verlangen, daß anch nur des begabten Schülers Interesse von selbst rege
werden solle ohne Anleitung, doppelt unbillig, wenn sich dieser erst durch eine
fremde Sprache hindurchzuarbeiten hat, wo der gute Wille leicht erlahmt, und
der Blick für das Ganze sich verliert. Vermögen wir nicht mehr für einen
Lehrstoff, der einen so hauptsächlichen Bestandteil des Unterrichts ausmacht,
wie der humanistische, Lust und Liebe, wenigstens bei den begabteren Schülern,
zu erregen, senden wir Abiturienten in die Welt hinaus, die kaum eine Ahnung
davon haben, was denn eigentlich die Schriftsteller wert sind, mit denen sie
sich jahrelang geplagt haben, und finden wir sogar häufig Geringschätzung an
Stelle der frühern Begeisterung, da hat man doch wohl das Recht, bedenklich
zu werden und sich zu fragen, ob wir es denn mit unserm heutigem Gymnasinl-
unterricht wirklich gar so herrlich weit gebracht haben. Wie geht es zu, daß
auf deu Gymnasien im allgemeinen -- die Ausnahmen bestätigen nur die
Regel -- nicht mehr die gleiche Begeisterung für das klassische Altertum er¬
weckt zu werden vermag wie ehedem? und läßt sich hoffen, daß hier Abhilfe
geschaffen werden kann? Das sind die Fragen, die sich gebieterisch aufdrüugeu,
und denen man fest ins Auge sehen muß.

Um diesen Fragen näher zu treten, sei zunächst daran erinnert, daß es
zwei streng zu scheidende Aufgaben sind, die der klassischen Philologie gestellt
sind: die Heranbildung von Lehrern einerseits, und anderseits die Förderung
der Wissenschaft, sei es durch eigne Forschung, sei es dnrch Heranbildung von
selbständigen Forschern. Nennen wir die eine Richtiliig die praktische, die andre
die rein wissenschaftliche Philologie. Mag sich der eine Universitätslehrer
mehr der einen, ein andrer mehr der andern Aufgabe zuwenden, gelöst müssen
beide werden. Und beide, obwohl ihre Ziele verschieden sind, hatten ehedem
gar vielfach die Grundlage gemeinsam. Nun aber hat seit einigen Jahrzehnten
die wissenschaftliche Philologie eine Richtung angenommen, die wenig mehr
mit der praktischen Philologie gemein hat oder gemein haben sollte, und doch
hat sie, und das ist der Kern der Sache, die praktische Philologie mit in ihre
Bahnen gerissen. -

Wir wollen uns deutlicher erklären. Zunächst die wissenschaftliche


Sollen wir das Beste vergessen?

für sein ganzes Leben mitbrachte und die alten Schriftsteller als Quelle eines
reinen Genusses in dankbarer Erinnerung behielt, hört man jetzt überall
— wenn auch mit manchen rühmlichen Ausnahmen — vonseiten sollst höchst ver¬
ständiger und einsichtsvoller Männer, obschon sie auf dem Gymnasium vor¬
gebildet wurden, die lautesten Klagen über das „trockene Zeug," mit dem sie
sich ans der Schule hätten plagen müssen. Gegen diese anerkannte Thatsache
hilft kein vornehmes Achselzucken des klassischen Philologen, helfen keine
Redensarten, wie die, daß Kaviar nicht fürs Volk sei, und wie sie alle heißen
mögen, mit denen man die unbequeme Thatsache der Berechtigung dieser
Gegenströmung aus der Welt zu schaffen sucht. Es ist ein ganz unbilliges
Verlangen, daß anch nur des begabten Schülers Interesse von selbst rege
werden solle ohne Anleitung, doppelt unbillig, wenn sich dieser erst durch eine
fremde Sprache hindurchzuarbeiten hat, wo der gute Wille leicht erlahmt, und
der Blick für das Ganze sich verliert. Vermögen wir nicht mehr für einen
Lehrstoff, der einen so hauptsächlichen Bestandteil des Unterrichts ausmacht,
wie der humanistische, Lust und Liebe, wenigstens bei den begabteren Schülern,
zu erregen, senden wir Abiturienten in die Welt hinaus, die kaum eine Ahnung
davon haben, was denn eigentlich die Schriftsteller wert sind, mit denen sie
sich jahrelang geplagt haben, und finden wir sogar häufig Geringschätzung an
Stelle der frühern Begeisterung, da hat man doch wohl das Recht, bedenklich
zu werden und sich zu fragen, ob wir es denn mit unserm heutigem Gymnasinl-
unterricht wirklich gar so herrlich weit gebracht haben. Wie geht es zu, daß
auf deu Gymnasien im allgemeinen — die Ausnahmen bestätigen nur die
Regel — nicht mehr die gleiche Begeisterung für das klassische Altertum er¬
weckt zu werden vermag wie ehedem? und läßt sich hoffen, daß hier Abhilfe
geschaffen werden kann? Das sind die Fragen, die sich gebieterisch aufdrüugeu,
und denen man fest ins Auge sehen muß.

Um diesen Fragen näher zu treten, sei zunächst daran erinnert, daß es
zwei streng zu scheidende Aufgaben sind, die der klassischen Philologie gestellt
sind: die Heranbildung von Lehrern einerseits, und anderseits die Förderung
der Wissenschaft, sei es durch eigne Forschung, sei es dnrch Heranbildung von
selbständigen Forschern. Nennen wir die eine Richtiliig die praktische, die andre
die rein wissenschaftliche Philologie. Mag sich der eine Universitätslehrer
mehr der einen, ein andrer mehr der andern Aufgabe zuwenden, gelöst müssen
beide werden. Und beide, obwohl ihre Ziele verschieden sind, hatten ehedem
gar vielfach die Grundlage gemeinsam. Nun aber hat seit einigen Jahrzehnten
die wissenschaftliche Philologie eine Richtung angenommen, die wenig mehr
mit der praktischen Philologie gemein hat oder gemein haben sollte, und doch
hat sie, und das ist der Kern der Sache, die praktische Philologie mit in ihre
Bahnen gerissen. -

Wir wollen uns deutlicher erklären. Zunächst die wissenschaftliche


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[0178] Sollen wir das Beste vergessen? für sein ganzes Leben mitbrachte und die alten Schriftsteller als Quelle eines reinen Genusses in dankbarer Erinnerung behielt, hört man jetzt überall — wenn auch mit manchen rühmlichen Ausnahmen — vonseiten sollst höchst ver¬ ständiger und einsichtsvoller Männer, obschon sie auf dem Gymnasium vor¬ gebildet wurden, die lautesten Klagen über das „trockene Zeug," mit dem sie sich ans der Schule hätten plagen müssen. Gegen diese anerkannte Thatsache hilft kein vornehmes Achselzucken des klassischen Philologen, helfen keine Redensarten, wie die, daß Kaviar nicht fürs Volk sei, und wie sie alle heißen mögen, mit denen man die unbequeme Thatsache der Berechtigung dieser Gegenströmung aus der Welt zu schaffen sucht. Es ist ein ganz unbilliges Verlangen, daß anch nur des begabten Schülers Interesse von selbst rege werden solle ohne Anleitung, doppelt unbillig, wenn sich dieser erst durch eine fremde Sprache hindurchzuarbeiten hat, wo der gute Wille leicht erlahmt, und der Blick für das Ganze sich verliert. Vermögen wir nicht mehr für einen Lehrstoff, der einen so hauptsächlichen Bestandteil des Unterrichts ausmacht, wie der humanistische, Lust und Liebe, wenigstens bei den begabteren Schülern, zu erregen, senden wir Abiturienten in die Welt hinaus, die kaum eine Ahnung davon haben, was denn eigentlich die Schriftsteller wert sind, mit denen sie sich jahrelang geplagt haben, und finden wir sogar häufig Geringschätzung an Stelle der frühern Begeisterung, da hat man doch wohl das Recht, bedenklich zu werden und sich zu fragen, ob wir es denn mit unserm heutigem Gymnasinl- unterricht wirklich gar so herrlich weit gebracht haben. Wie geht es zu, daß auf deu Gymnasien im allgemeinen — die Ausnahmen bestätigen nur die Regel — nicht mehr die gleiche Begeisterung für das klassische Altertum er¬ weckt zu werden vermag wie ehedem? und läßt sich hoffen, daß hier Abhilfe geschaffen werden kann? Das sind die Fragen, die sich gebieterisch aufdrüugeu, und denen man fest ins Auge sehen muß. Um diesen Fragen näher zu treten, sei zunächst daran erinnert, daß es zwei streng zu scheidende Aufgaben sind, die der klassischen Philologie gestellt sind: die Heranbildung von Lehrern einerseits, und anderseits die Förderung der Wissenschaft, sei es durch eigne Forschung, sei es dnrch Heranbildung von selbständigen Forschern. Nennen wir die eine Richtiliig die praktische, die andre die rein wissenschaftliche Philologie. Mag sich der eine Universitätslehrer mehr der einen, ein andrer mehr der andern Aufgabe zuwenden, gelöst müssen beide werden. Und beide, obwohl ihre Ziele verschieden sind, hatten ehedem gar vielfach die Grundlage gemeinsam. Nun aber hat seit einigen Jahrzehnten die wissenschaftliche Philologie eine Richtung angenommen, die wenig mehr mit der praktischen Philologie gemein hat oder gemein haben sollte, und doch hat sie, und das ist der Kern der Sache, die praktische Philologie mit in ihre Bahnen gerissen. - Wir wollen uns deutlicher erklären. Zunächst die wissenschaftliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/178>, abgerufen am 25.08.2024.