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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Agitation nicht einseitiger, seichter Dilettantismus sein soll, ist erst recht nicht
die Rede. Man denke nur an das geistige Elend, das sich auf dem Partei-
kvngreß in Halle i" hohlem, lächerlichem Bombast breit gemacht hat. Bis
zum heutigen Tage kann die Partei noch nicht einen einzigen Kopf ersten
Ranges unter den Gelehrten, Künstlern, Geschäftsmännern aller Art, ja nicht
einen Kopf in ihren Mitgliederlisten ausweisen, der in der deutschen Geistes¬
aristokratie mit Ehren genannt werden könnte. Herr Liebknecht z. V. weiß
sich stets im sichern Besitz der "Wissenschaft," aber deS Dinges von "Wissen¬
schaft," das Gott verneint. Er null einen gesellschaftlichen Zustand, der ohne
Religion, d. h. ohne die Erkenntnis Gottes, ohne persönliches Eigentum und
folgerichtig ohne Familie, ohne Gesetz, ohne staatlichen Zwang, ja ohne Staat
überhaupt neben der menschlichen Natur, dein Einzelegoismus, möglich sein
müßte, und wenn man ihn fragt, wie er sich so etwas in der Wirklichkeit denkt,
so "weiß" dieser Mann der "echten Wissenschaft" nichts andres zu antworten,
als daß der Frager ein doktrinärer Dummkopf sei.

Aber wenn sie auch etwas Gründliches wüßten, so würde sie doch, der
Natur der Sache nach, die Mehrzahl der Arbeiter nicht verstehen können, weil
deren Köpfe zu den hierzu nötigen Abstraktionen und begrifflichen Feinheiten
unmöglich geschult genng sein können. Sie spielen also wirklich nur mit der
Leidenschaft im Menschen, mit der Begehrlichkeit, die allen, mit der Not, die
mindestens !)0 bis 95 Prozent der Bevölkerung eigen ist. Der Spekulation
auf die Begehrlichkeit leistet aber das eherne Lohngcsetz von dem Augenblick
an keinen Vorschub mehr, wo erkannt wird, daß es auch im sozialdemokra-
tischen Staate für den Arbeiter nicht mehr, als nur den notdürftigen Lebens¬
unterhalt zuläßt, und gegenüber der Not entwindet es den gewerbsmäßigen
Agitatoren ihre bewährteste Waffe, nämlich den Hinweis auf die indirekten
Steuern und Zölle, womit die Unbemittelten zum Hasse wider das gegen¬
wärtige Negierungsshstem aufgereizt wurden. Denn wenn es sich nach dem
ehernen Lohngesetze völlig gleich bleibt, ob der Lebensunterhalt und ihm ent¬
sprechend der Lohn hoch oder niedrig sei , wenn der Arbeiter bei teueren oder
billigem Lebensunterhalte, hohem oder niedrigem Lohn, immer nur das er¬
werben kann, was der landesübliche notdürftige Unterhalt erfordert, so ist es
für ihn offenbar ebenso gleichgiltig, ob die Zoll- und Steuerpolitik direkte
oder indirekte Besteuerung, Freihandel oder Schutzzoll will.

Die Verlegenheit der bessern Köpfe unter den sozialdemokratischen Führern
gegenüber dein ehernen Lohngesetz ist übrigens nicht nen; ebenso wenig das
Auskunftsmittel, sich ans ihr zu befreien: die Lüge. Lassalle und Marx haben
sich der Lüge ebenso frisch und fröhlich zu demagogischen Zwecken bedient, wie
es heute vou ihren kleinen Nachbetern geschieht - jener in seiner Verteidigungs¬
rede vor dem Berliner Kammcrgerichte, dieser in dem ersten Teile seines
Buches: Das Kapital. Darin bringt er es fertig, daß er erst das eherne


Agitation nicht einseitiger, seichter Dilettantismus sein soll, ist erst recht nicht
die Rede. Man denke nur an das geistige Elend, das sich auf dem Partei-
kvngreß in Halle i» hohlem, lächerlichem Bombast breit gemacht hat. Bis
zum heutigen Tage kann die Partei noch nicht einen einzigen Kopf ersten
Ranges unter den Gelehrten, Künstlern, Geschäftsmännern aller Art, ja nicht
einen Kopf in ihren Mitgliederlisten ausweisen, der in der deutschen Geistes¬
aristokratie mit Ehren genannt werden könnte. Herr Liebknecht z. V. weiß
sich stets im sichern Besitz der „Wissenschaft," aber deS Dinges von „Wissen¬
schaft," das Gott verneint. Er null einen gesellschaftlichen Zustand, der ohne
Religion, d. h. ohne die Erkenntnis Gottes, ohne persönliches Eigentum und
folgerichtig ohne Familie, ohne Gesetz, ohne staatlichen Zwang, ja ohne Staat
überhaupt neben der menschlichen Natur, dein Einzelegoismus, möglich sein
müßte, und wenn man ihn fragt, wie er sich so etwas in der Wirklichkeit denkt,
so „weiß" dieser Mann der „echten Wissenschaft" nichts andres zu antworten,
als daß der Frager ein doktrinärer Dummkopf sei.

Aber wenn sie auch etwas Gründliches wüßten, so würde sie doch, der
Natur der Sache nach, die Mehrzahl der Arbeiter nicht verstehen können, weil
deren Köpfe zu den hierzu nötigen Abstraktionen und begrifflichen Feinheiten
unmöglich geschult genng sein können. Sie spielen also wirklich nur mit der
Leidenschaft im Menschen, mit der Begehrlichkeit, die allen, mit der Not, die
mindestens !)0 bis 95 Prozent der Bevölkerung eigen ist. Der Spekulation
auf die Begehrlichkeit leistet aber das eherne Lohngcsetz von dem Augenblick
an keinen Vorschub mehr, wo erkannt wird, daß es auch im sozialdemokra-
tischen Staate für den Arbeiter nicht mehr, als nur den notdürftigen Lebens¬
unterhalt zuläßt, und gegenüber der Not entwindet es den gewerbsmäßigen
Agitatoren ihre bewährteste Waffe, nämlich den Hinweis auf die indirekten
Steuern und Zölle, womit die Unbemittelten zum Hasse wider das gegen¬
wärtige Negierungsshstem aufgereizt wurden. Denn wenn es sich nach dem
ehernen Lohngesetze völlig gleich bleibt, ob der Lebensunterhalt und ihm ent¬
sprechend der Lohn hoch oder niedrig sei , wenn der Arbeiter bei teueren oder
billigem Lebensunterhalte, hohem oder niedrigem Lohn, immer nur das er¬
werben kann, was der landesübliche notdürftige Unterhalt erfordert, so ist es
für ihn offenbar ebenso gleichgiltig, ob die Zoll- und Steuerpolitik direkte
oder indirekte Besteuerung, Freihandel oder Schutzzoll will.

Die Verlegenheit der bessern Köpfe unter den sozialdemokratischen Führern
gegenüber dein ehernen Lohngesetz ist übrigens nicht nen; ebenso wenig das
Auskunftsmittel, sich ans ihr zu befreien: die Lüge. Lassalle und Marx haben
sich der Lüge ebenso frisch und fröhlich zu demagogischen Zwecken bedient, wie
es heute vou ihren kleinen Nachbetern geschieht - jener in seiner Verteidigungs¬
rede vor dem Berliner Kammcrgerichte, dieser in dem ersten Teile seines
Buches: Das Kapital. Darin bringt er es fertig, daß er erst das eherne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/118>, abgerufen am 23.07.2024.