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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Das eherne Lohugesetz

hat. Auch ist es nicht, wie manche gern glauben machen möchten, ein Irr¬
tum, sondern einer der wenigen sichern Nachweise über wirtschaftliche Ursachen
und Wirkungen, die wir jener wissenschaftlich überwundenen Altweiberschnle
zu danken haben; es ist die Erkenntnis, in die diese Schule münden und
mit der sie entweder versteinern oder in Sozialwissenschaft umschlagen
mußte.

Was bei dem Stande der wirtschaftlichen Forschung um die Zeit
Nieardos zu erklären war, war der Widerspruch zwischen zwei Erscheinungen,
dem mit der Vervollkommnung und Verfeinerung der Werkzeuge, also mit
der unermeßlich gestiegenen Erzengungskraft der Arbeit erstaunlich wachsenden
Reichtume weniger und der fast in gleicher Geschwindigkeit wachsenden Armut
der Massen. Woher kam es, daß nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, nur
etwa fünf bis höchstens zehn aufs Hundert, Träger des Reichtums war,
während der ganze Nest, 90 bis 95 Prozent, Träger der Armut blieb, und
zwar dauernd und in dem Grade blieb, daß das Mißverhältnis dauernd wuchs,
daß der Armen immer mehr, der Reichen immer weniger wurden?

Der scharfsinnige Ricardo antwortete: Weil die Wesenheit der Lohnarbeit
genau die Wesenheit der leblosen Ware ist. Ihr Preis richtet sich, wie der
Preis dieser, durchaus nicht uach dein Nutzen, den sie schafft, sondern lediglich
nach den Kosten, die ihr Dasein, ihr Werden erheischt, und der einfach, wie
bei der Ware, dnrch Angebot und Nachfrage von selbst geregelt wird. Wie
sich die Herstellung von Waren mehrt oder mindert, je nachdem ihr Preis
in Angebot und Nachfrage den Erzengniskosten nahe kommt, so mehren oder
mindern sich die Arbeiterehen nach Maßgabe des notdürftigen landesüblichen
Lebensunterhaltes, so mehrt oder mindert sich die Bevölkerung und damit das
Angebot der menschlichen Arbeitskraft so lange, bis der in Angebot und Nach¬
frage sich regelnde Arbeitslohn wieder in der Nähe jener Linie angekommen ist.

Diese Auskunft ist nnn durchaus zutreffend und erfahrungsgemäß. Nur
muß mau sich der Natur des wirtschaftlichen Gesetzes bewußt sein, die nur
auf deu Durchschnitt, niemals auf die Einzelheit der Erscheinungen geht und
darum ausnahmslos nur in seiner Verletzung zum Ausdruck kommt. So ist
nach einem innern wirtschaftlichen Gesetze z. B. die mittlere Lebensdauer in
Leipzig -- sagen wir -- dreißig und ein gewisser Dczimalbruchteil Jahre.
Dies ist die einzige Erkenntnis, die die Wissenschaft zu Grunde legen kann,
wenn sie sich mit Verhältnissen beschäftigt, die mit der Sterblichkeit der Ge-
samtbevölkerung von Leipzig zusammenhängen. Gleichwohl hat niemals in
Leipzig ein Mensch gelebt und wird niemals einer leben, dessen Lebensdauer genau
der Durchschnittsziffer, also dem wissenschaftlichen Ausgangspunkt entspräche.
So wird der landesübliche durchschnittliche Lebensunterhalt der Arbeiter eine
Zahl mit irgend einem Dezimnlbruchteil ergeben, aber unter den vielen
Millionen von Arbeitern, die unter diesem Gesetz stehen, wird aus der Ver-


Das eherne Lohugesetz

hat. Auch ist es nicht, wie manche gern glauben machen möchten, ein Irr¬
tum, sondern einer der wenigen sichern Nachweise über wirtschaftliche Ursachen
und Wirkungen, die wir jener wissenschaftlich überwundenen Altweiberschnle
zu danken haben; es ist die Erkenntnis, in die diese Schule münden und
mit der sie entweder versteinern oder in Sozialwissenschaft umschlagen
mußte.

Was bei dem Stande der wirtschaftlichen Forschung um die Zeit
Nieardos zu erklären war, war der Widerspruch zwischen zwei Erscheinungen,
dem mit der Vervollkommnung und Verfeinerung der Werkzeuge, also mit
der unermeßlich gestiegenen Erzengungskraft der Arbeit erstaunlich wachsenden
Reichtume weniger und der fast in gleicher Geschwindigkeit wachsenden Armut
der Massen. Woher kam es, daß nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, nur
etwa fünf bis höchstens zehn aufs Hundert, Träger des Reichtums war,
während der ganze Nest, 90 bis 95 Prozent, Träger der Armut blieb, und
zwar dauernd und in dem Grade blieb, daß das Mißverhältnis dauernd wuchs,
daß der Armen immer mehr, der Reichen immer weniger wurden?

Der scharfsinnige Ricardo antwortete: Weil die Wesenheit der Lohnarbeit
genau die Wesenheit der leblosen Ware ist. Ihr Preis richtet sich, wie der
Preis dieser, durchaus nicht uach dein Nutzen, den sie schafft, sondern lediglich
nach den Kosten, die ihr Dasein, ihr Werden erheischt, und der einfach, wie
bei der Ware, dnrch Angebot und Nachfrage von selbst geregelt wird. Wie
sich die Herstellung von Waren mehrt oder mindert, je nachdem ihr Preis
in Angebot und Nachfrage den Erzengniskosten nahe kommt, so mehren oder
mindern sich die Arbeiterehen nach Maßgabe des notdürftigen landesüblichen
Lebensunterhaltes, so mehrt oder mindert sich die Bevölkerung und damit das
Angebot der menschlichen Arbeitskraft so lange, bis der in Angebot und Nach¬
frage sich regelnde Arbeitslohn wieder in der Nähe jener Linie angekommen ist.

Diese Auskunft ist nnn durchaus zutreffend und erfahrungsgemäß. Nur
muß mau sich der Natur des wirtschaftlichen Gesetzes bewußt sein, die nur
auf deu Durchschnitt, niemals auf die Einzelheit der Erscheinungen geht und
darum ausnahmslos nur in seiner Verletzung zum Ausdruck kommt. So ist
nach einem innern wirtschaftlichen Gesetze z. B. die mittlere Lebensdauer in
Leipzig — sagen wir — dreißig und ein gewisser Dczimalbruchteil Jahre.
Dies ist die einzige Erkenntnis, die die Wissenschaft zu Grunde legen kann,
wenn sie sich mit Verhältnissen beschäftigt, die mit der Sterblichkeit der Ge-
samtbevölkerung von Leipzig zusammenhängen. Gleichwohl hat niemals in
Leipzig ein Mensch gelebt und wird niemals einer leben, dessen Lebensdauer genau
der Durchschnittsziffer, also dem wissenschaftlichen Ausgangspunkt entspräche.
So wird der landesübliche durchschnittliche Lebensunterhalt der Arbeiter eine
Zahl mit irgend einem Dezimnlbruchteil ergeben, aber unter den vielen
Millionen von Arbeitern, die unter diesem Gesetz stehen, wird aus der Ver-


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[0115] Das eherne Lohugesetz hat. Auch ist es nicht, wie manche gern glauben machen möchten, ein Irr¬ tum, sondern einer der wenigen sichern Nachweise über wirtschaftliche Ursachen und Wirkungen, die wir jener wissenschaftlich überwundenen Altweiberschnle zu danken haben; es ist die Erkenntnis, in die diese Schule münden und mit der sie entweder versteinern oder in Sozialwissenschaft umschlagen mußte. Was bei dem Stande der wirtschaftlichen Forschung um die Zeit Nieardos zu erklären war, war der Widerspruch zwischen zwei Erscheinungen, dem mit der Vervollkommnung und Verfeinerung der Werkzeuge, also mit der unermeßlich gestiegenen Erzengungskraft der Arbeit erstaunlich wachsenden Reichtume weniger und der fast in gleicher Geschwindigkeit wachsenden Armut der Massen. Woher kam es, daß nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, nur etwa fünf bis höchstens zehn aufs Hundert, Träger des Reichtums war, während der ganze Nest, 90 bis 95 Prozent, Träger der Armut blieb, und zwar dauernd und in dem Grade blieb, daß das Mißverhältnis dauernd wuchs, daß der Armen immer mehr, der Reichen immer weniger wurden? Der scharfsinnige Ricardo antwortete: Weil die Wesenheit der Lohnarbeit genau die Wesenheit der leblosen Ware ist. Ihr Preis richtet sich, wie der Preis dieser, durchaus nicht uach dein Nutzen, den sie schafft, sondern lediglich nach den Kosten, die ihr Dasein, ihr Werden erheischt, und der einfach, wie bei der Ware, dnrch Angebot und Nachfrage von selbst geregelt wird. Wie sich die Herstellung von Waren mehrt oder mindert, je nachdem ihr Preis in Angebot und Nachfrage den Erzengniskosten nahe kommt, so mehren oder mindern sich die Arbeiterehen nach Maßgabe des notdürftigen landesüblichen Lebensunterhaltes, so mehrt oder mindert sich die Bevölkerung und damit das Angebot der menschlichen Arbeitskraft so lange, bis der in Angebot und Nach¬ frage sich regelnde Arbeitslohn wieder in der Nähe jener Linie angekommen ist. Diese Auskunft ist nnn durchaus zutreffend und erfahrungsgemäß. Nur muß mau sich der Natur des wirtschaftlichen Gesetzes bewußt sein, die nur auf deu Durchschnitt, niemals auf die Einzelheit der Erscheinungen geht und darum ausnahmslos nur in seiner Verletzung zum Ausdruck kommt. So ist nach einem innern wirtschaftlichen Gesetze z. B. die mittlere Lebensdauer in Leipzig — sagen wir — dreißig und ein gewisser Dczimalbruchteil Jahre. Dies ist die einzige Erkenntnis, die die Wissenschaft zu Grunde legen kann, wenn sie sich mit Verhältnissen beschäftigt, die mit der Sterblichkeit der Ge- samtbevölkerung von Leipzig zusammenhängen. Gleichwohl hat niemals in Leipzig ein Mensch gelebt und wird niemals einer leben, dessen Lebensdauer genau der Durchschnittsziffer, also dem wissenschaftlichen Ausgangspunkt entspräche. So wird der landesübliche durchschnittliche Lebensunterhalt der Arbeiter eine Zahl mit irgend einem Dezimnlbruchteil ergeben, aber unter den vielen Millionen von Arbeitern, die unter diesem Gesetz stehen, wird aus der Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/115>, abgerufen am 23.07.2024.