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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß aller Grdnungsparteien

in der Tiefe ruhenden Kräften des Volksgeistes muß die elementare Bewegung
hervorgehen, auf die wir hoffen.

Wird diese Bewegung kommen? Man hat denen, die, wie wir, die An¬
sicht vertreten, daß es möglich sei, durch eine Politik durchgreifender sozialer
Reformen die Sozialdemokratie nicht nur unschädlich zu machen, sondern sogar
aus ihr eine berechtigte und nützliche Neformpcirtei zu schaffen, vorgeworfen,
daß sie einem ungerechtfertigten und gefährlichen Optimismus huldigten. Ob
die, die diesen Vorwurf erheben, sich wohl selbst darüber klar sind, gegen wen
sich ihr Vorwurf richtet? Wenn sie nicht in den: Wahne befangen sind, daß
eine Bewegung, wie die sozialdemokratische, in sich zerfallen werde oder dnrch
das Mittel der Gewalt vernichtet werden könne, wenn sie also nicht ihrerseits
ganz unverbesserliche Optimisten sind, dann sagen sie mit ihrem Vorwurfe nichts
andres, als daß sie zu der Zukunft des deutschen Volkes, zu seinem gesunden
Sinn und den ihm innewohnenden Kräften kein Vertrauen haben, dann erklären sie
damit, daß sie nicht glauben, wir könnten Herr werden jener schweren, sich immer
weiter ausbreitenden wirtschaftlichen und sittlichen Erkrankung, die nicht etwa
eins ist mit der Sozialdemokratie, souderu, viel weiter greifend, in ihr nur zur
sichtbarsten Erscheinung tritt; dann sind sie ratlose und bedauernswerte Pessimisten.

Allerdings, wenn Nur wahrnehmen, wie der Geist, den die Sozialdemo¬
kratie in ein System zu bringen versucht hat, immer mehr nur sich greift in
allen Schichten der Bevölkerung, wie der Glaube -- wir reden nicht von be¬
stimmten religiösen Bekenntnissen -- immer mehr schwindet, daß es noch etwas
Höheres gebe, als die Dinge dieser Welt und den eignen materiellen Vorteil,
wie die Fähigkeit, sich für eine große Idee zu begeistern, sein eignes Interesse
auf dem Altar des Vaterlandes zu Gunsten der Gesamtheit zu opfern, in
immer weitern .Kreisen abnimmt, wie dagegen krasser Egoismus, Genußsucht,
Üppigkeit und Unsittlichkeit zunehmen und dem Neide der Besitzlosen auf der
andern Seite die Geld- und Habgier der Besitzenden gegenübersteht, wie alle
Dinge betrachtet werden nnter dem platten Gesichtspunkte des eignen Nutzens
-- wenn ein angeblich von einem "Deutschen" geschriebenes Werk, wie ,,Rem-
brandt als Erzieher," das, undeutsch bis ins Innerste seines Wesens, sodaß
sein einziger Vorzug uur mit dem französischen Worte ö8xrit bezeichnet werden
kann, von dem schrankenlosesten Individualismus die Gesundung unsrer sozialen
Zustände erwartet, ein Werk, in dessen Sittenkodex der Begriff der Pflicht
nicht vorzukommen scheint, eine Aufnahme beim deutschen Publikum findet, wie
wir sie kaum je erlebt haben, und wie sie durch die geistreiche oder geist-
reichelnde Form des Gebotenen allein nicht erklärt werden kann --dann
muß auch zuweilen den: Mutigen die Frage kommen, ob jene Pessimisten nicht
doch Recht haben, ob es nicht zu Ende geht mit unserm Volke, und ob wir
uns nicht schon jetzt auf der absteigenden Linie bewegen, auf der vor uns viele
andre Kulturvölker ihrem Untergange zugeschritten sind.


Der Zusammenschluß aller Grdnungsparteien

in der Tiefe ruhenden Kräften des Volksgeistes muß die elementare Bewegung
hervorgehen, auf die wir hoffen.

Wird diese Bewegung kommen? Man hat denen, die, wie wir, die An¬
sicht vertreten, daß es möglich sei, durch eine Politik durchgreifender sozialer
Reformen die Sozialdemokratie nicht nur unschädlich zu machen, sondern sogar
aus ihr eine berechtigte und nützliche Neformpcirtei zu schaffen, vorgeworfen,
daß sie einem ungerechtfertigten und gefährlichen Optimismus huldigten. Ob
die, die diesen Vorwurf erheben, sich wohl selbst darüber klar sind, gegen wen
sich ihr Vorwurf richtet? Wenn sie nicht in den: Wahne befangen sind, daß
eine Bewegung, wie die sozialdemokratische, in sich zerfallen werde oder dnrch
das Mittel der Gewalt vernichtet werden könne, wenn sie also nicht ihrerseits
ganz unverbesserliche Optimisten sind, dann sagen sie mit ihrem Vorwurfe nichts
andres, als daß sie zu der Zukunft des deutschen Volkes, zu seinem gesunden
Sinn und den ihm innewohnenden Kräften kein Vertrauen haben, dann erklären sie
damit, daß sie nicht glauben, wir könnten Herr werden jener schweren, sich immer
weiter ausbreitenden wirtschaftlichen und sittlichen Erkrankung, die nicht etwa
eins ist mit der Sozialdemokratie, souderu, viel weiter greifend, in ihr nur zur
sichtbarsten Erscheinung tritt; dann sind sie ratlose und bedauernswerte Pessimisten.

Allerdings, wenn Nur wahrnehmen, wie der Geist, den die Sozialdemo¬
kratie in ein System zu bringen versucht hat, immer mehr nur sich greift in
allen Schichten der Bevölkerung, wie der Glaube — wir reden nicht von be¬
stimmten religiösen Bekenntnissen — immer mehr schwindet, daß es noch etwas
Höheres gebe, als die Dinge dieser Welt und den eignen materiellen Vorteil,
wie die Fähigkeit, sich für eine große Idee zu begeistern, sein eignes Interesse
auf dem Altar des Vaterlandes zu Gunsten der Gesamtheit zu opfern, in
immer weitern .Kreisen abnimmt, wie dagegen krasser Egoismus, Genußsucht,
Üppigkeit und Unsittlichkeit zunehmen und dem Neide der Besitzlosen auf der
andern Seite die Geld- und Habgier der Besitzenden gegenübersteht, wie alle
Dinge betrachtet werden nnter dem platten Gesichtspunkte des eignen Nutzens
— wenn ein angeblich von einem „Deutschen" geschriebenes Werk, wie ,,Rem-
brandt als Erzieher," das, undeutsch bis ins Innerste seines Wesens, sodaß
sein einziger Vorzug uur mit dem französischen Worte ö8xrit bezeichnet werden
kann, von dem schrankenlosesten Individualismus die Gesundung unsrer sozialen
Zustände erwartet, ein Werk, in dessen Sittenkodex der Begriff der Pflicht
nicht vorzukommen scheint, eine Aufnahme beim deutschen Publikum findet, wie
wir sie kaum je erlebt haben, und wie sie durch die geistreiche oder geist-
reichelnde Form des Gebotenen allein nicht erklärt werden kann —dann
muß auch zuweilen den: Mutigen die Frage kommen, ob jene Pessimisten nicht
doch Recht haben, ob es nicht zu Ende geht mit unserm Volke, und ob wir
uns nicht schon jetzt auf der absteigenden Linie bewegen, auf der vor uns viele
andre Kulturvölker ihrem Untergange zugeschritten sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/110>, abgerufen am 23.07.2024.