Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

andres als ein durch eine geschickte Taktik errungener Scheinsieg, der uns nur
über die Größe der uus drohenden Gefahr hinwegtäuschen würde. Die That¬
sache, daß es in Deutschland ein bis zwei Millionen wahlfähiger Männer
giebt, die mit den bestehenden Zustanden so unzufrieden sind, daß sie kein Be¬
denken tragen, sich eiuer Partei anzuschließen, die den völligen Umsturz herbei¬
sehnt, diese Thatsache wird durch eine geschickte Wahlmache nicht aus der Welt
geschafft. Und in dieser Thatsache liegt doch allein das Entscheidende. Die
Zeiten sind zu ernst zu Taschenspielerkuuststückeu, mit denen vielleicht diese
oder jene unsrer Reichstagsparteien einige Vorteile einheimsen könnte, die aber
der Gesamtheit in keiner Weise zu gute kommeu würden.

Aber nicht bloß nicht gefördert würde das Interesse der Gesamtheit durch
jenen Zusammenschluß der stantserhaltenden Parteien, es würde in der aller-
empfindlichsten Weise durch ihn geschädigt werden. "Zusammenschluß aller
staatserhaltenden Parteien," das würde nichts andres als den Sieg derjenigen
Richtung innerhalb der "Ordnungsparteien" bedeuten, die sich insofern als die
am hervorragendsten staatserhaltendc erweist, als sie alles beim Alten lassen
Null, als sie jedes Eingreifen des Staates zurückweist, den Sieg derjenigen
nationalökonomischen Richtung, die alles dem "freien Spiel der Kräfte" über¬
lassen will, und die für die von Tag zu Tag greller hervortretenden wirt¬
schaftlichen Mißstände kein andres Rezept hat, als die Erhaltung aller der
wirtschaftlichen Freiheiten des Einzelnen, die gerade der Nährboden aller
sozialen Gefahren, der Nährboden der Sozialdemokratie sind. Arm in Arm
mit dem Mcmchestertum die Sozialdemokratie bekämpfen wollen, das heißt nicht
mehr und nicht weniger als den Grundgedanken der kaiserlichen Botschaft vom
17. November 1881 und mit ihm die ganze seitdem geschaffene sozialreforma-
tvrische Gesetzgebung aufgeben. Will man das, nun gut, so sage man es,
und wir werdeu wissen, woran wir sind. Aber Lobhhmnen singen ans die
kaiserliche Botschaft und auf die soziale Reform, und auf der andern Seite
wieder auffordern zur Vereinigung mit ihren größten Gegnern, um mit ihnen
die Sozialdemokratie zu bekämpfen, das geht, wie die Dinge liegen, nicht mehr.
Der Augenblick ist da, wo Farbe bekannt werden muß für oder wider ein
staatliches Eingreifen in die wirtschaftlichen Verhältnisse, für oder wider die
soziale Reform, die nicht stille stehen kann und nicht stille stehen wird bei
Kranken-, Unfall- und Alters- und Jnvalidenversicherungsgesetz. Wer jetzt
noch schwankt, wer sich jetzt noch bemüht, das eine zu vertreten und zugleich
das Gegenteil, über den wird zur Tagesordnung übergegangen werden. Das
mögen sich die Nativnalliberalen gesagt sein lassen, die unter der Flagge des
nationalen Gedankens eine Partei aufrecht erhalten wollen, die in traulichem
Beieinander Mnnchestermänner neben Svzinlrefvrmern enthält, das möge Herr
Windthorst beherzigen, der sich, obgleich katholische Sozialisten in seiner eignen
Fraktion sitzen, noch jüngst, in gemütlicher Weise Sozialismus und Sozial-


andres als ein durch eine geschickte Taktik errungener Scheinsieg, der uns nur
über die Größe der uus drohenden Gefahr hinwegtäuschen würde. Die That¬
sache, daß es in Deutschland ein bis zwei Millionen wahlfähiger Männer
giebt, die mit den bestehenden Zustanden so unzufrieden sind, daß sie kein Be¬
denken tragen, sich eiuer Partei anzuschließen, die den völligen Umsturz herbei¬
sehnt, diese Thatsache wird durch eine geschickte Wahlmache nicht aus der Welt
geschafft. Und in dieser Thatsache liegt doch allein das Entscheidende. Die
Zeiten sind zu ernst zu Taschenspielerkuuststückeu, mit denen vielleicht diese
oder jene unsrer Reichstagsparteien einige Vorteile einheimsen könnte, die aber
der Gesamtheit in keiner Weise zu gute kommeu würden.

Aber nicht bloß nicht gefördert würde das Interesse der Gesamtheit durch
jenen Zusammenschluß der stantserhaltenden Parteien, es würde in der aller-
empfindlichsten Weise durch ihn geschädigt werden. „Zusammenschluß aller
staatserhaltenden Parteien," das würde nichts andres als den Sieg derjenigen
Richtung innerhalb der „Ordnungsparteien" bedeuten, die sich insofern als die
am hervorragendsten staatserhaltendc erweist, als sie alles beim Alten lassen
Null, als sie jedes Eingreifen des Staates zurückweist, den Sieg derjenigen
nationalökonomischen Richtung, die alles dem „freien Spiel der Kräfte" über¬
lassen will, und die für die von Tag zu Tag greller hervortretenden wirt¬
schaftlichen Mißstände kein andres Rezept hat, als die Erhaltung aller der
wirtschaftlichen Freiheiten des Einzelnen, die gerade der Nährboden aller
sozialen Gefahren, der Nährboden der Sozialdemokratie sind. Arm in Arm
mit dem Mcmchestertum die Sozialdemokratie bekämpfen wollen, das heißt nicht
mehr und nicht weniger als den Grundgedanken der kaiserlichen Botschaft vom
17. November 1881 und mit ihm die ganze seitdem geschaffene sozialreforma-
tvrische Gesetzgebung aufgeben. Will man das, nun gut, so sage man es,
und wir werdeu wissen, woran wir sind. Aber Lobhhmnen singen ans die
kaiserliche Botschaft und auf die soziale Reform, und auf der andern Seite
wieder auffordern zur Vereinigung mit ihren größten Gegnern, um mit ihnen
die Sozialdemokratie zu bekämpfen, das geht, wie die Dinge liegen, nicht mehr.
Der Augenblick ist da, wo Farbe bekannt werden muß für oder wider ein
staatliches Eingreifen in die wirtschaftlichen Verhältnisse, für oder wider die
soziale Reform, die nicht stille stehen kann und nicht stille stehen wird bei
Kranken-, Unfall- und Alters- und Jnvalidenversicherungsgesetz. Wer jetzt
noch schwankt, wer sich jetzt noch bemüht, das eine zu vertreten und zugleich
das Gegenteil, über den wird zur Tagesordnung übergegangen werden. Das
mögen sich die Nativnalliberalen gesagt sein lassen, die unter der Flagge des
nationalen Gedankens eine Partei aufrecht erhalten wollen, die in traulichem
Beieinander Mnnchestermänner neben Svzinlrefvrmern enthält, das möge Herr
Windthorst beherzigen, der sich, obgleich katholische Sozialisten in seiner eignen
Fraktion sitzen, noch jüngst, in gemütlicher Weise Sozialismus und Sozial-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0106" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209339"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_281" prev="#ID_280"> andres als ein durch eine geschickte Taktik errungener Scheinsieg, der uns nur<lb/>
über die Größe der uus drohenden Gefahr hinwegtäuschen würde. Die That¬<lb/>
sache, daß es in Deutschland ein bis zwei Millionen wahlfähiger Männer<lb/>
giebt, die mit den bestehenden Zustanden so unzufrieden sind, daß sie kein Be¬<lb/>
denken tragen, sich eiuer Partei anzuschließen, die den völligen Umsturz herbei¬<lb/>
sehnt, diese Thatsache wird durch eine geschickte Wahlmache nicht aus der Welt<lb/>
geschafft. Und in dieser Thatsache liegt doch allein das Entscheidende. Die<lb/>
Zeiten sind zu ernst zu Taschenspielerkuuststückeu, mit denen vielleicht diese<lb/>
oder jene unsrer Reichstagsparteien einige Vorteile einheimsen könnte, die aber<lb/>
der Gesamtheit in keiner Weise zu gute kommeu würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_282" next="#ID_283"> Aber nicht bloß nicht gefördert würde das Interesse der Gesamtheit durch<lb/>
jenen Zusammenschluß der stantserhaltenden Parteien, es würde in der aller-<lb/>
empfindlichsten Weise durch ihn geschädigt werden. &#x201E;Zusammenschluß aller<lb/>
staatserhaltenden Parteien," das würde nichts andres als den Sieg derjenigen<lb/>
Richtung innerhalb der &#x201E;Ordnungsparteien" bedeuten, die sich insofern als die<lb/>
am hervorragendsten staatserhaltendc erweist, als sie alles beim Alten lassen<lb/>
Null, als sie jedes Eingreifen des Staates zurückweist, den Sieg derjenigen<lb/>
nationalökonomischen Richtung, die alles dem &#x201E;freien Spiel der Kräfte" über¬<lb/>
lassen will, und die für die von Tag zu Tag greller hervortretenden wirt¬<lb/>
schaftlichen Mißstände kein andres Rezept hat, als die Erhaltung aller der<lb/>
wirtschaftlichen Freiheiten des Einzelnen, die gerade der Nährboden aller<lb/>
sozialen Gefahren, der Nährboden der Sozialdemokratie sind. Arm in Arm<lb/>
mit dem Mcmchestertum die Sozialdemokratie bekämpfen wollen, das heißt nicht<lb/>
mehr und nicht weniger als den Grundgedanken der kaiserlichen Botschaft vom<lb/>
17. November 1881 und mit ihm die ganze seitdem geschaffene sozialreforma-<lb/>
tvrische Gesetzgebung aufgeben. Will man das, nun gut, so sage man es,<lb/>
und wir werdeu wissen, woran wir sind. Aber Lobhhmnen singen ans die<lb/>
kaiserliche Botschaft und auf die soziale Reform, und auf der andern Seite<lb/>
wieder auffordern zur Vereinigung mit ihren größten Gegnern, um mit ihnen<lb/>
die Sozialdemokratie zu bekämpfen, das geht, wie die Dinge liegen, nicht mehr.<lb/>
Der Augenblick ist da, wo Farbe bekannt werden muß für oder wider ein<lb/>
staatliches Eingreifen in die wirtschaftlichen Verhältnisse, für oder wider die<lb/>
soziale Reform, die nicht stille stehen kann und nicht stille stehen wird bei<lb/>
Kranken-, Unfall- und Alters- und Jnvalidenversicherungsgesetz. Wer jetzt<lb/>
noch schwankt, wer sich jetzt noch bemüht, das eine zu vertreten und zugleich<lb/>
das Gegenteil, über den wird zur Tagesordnung übergegangen werden. Das<lb/>
mögen sich die Nativnalliberalen gesagt sein lassen, die unter der Flagge des<lb/>
nationalen Gedankens eine Partei aufrecht erhalten wollen, die in traulichem<lb/>
Beieinander Mnnchestermänner neben Svzinlrefvrmern enthält, das möge Herr<lb/>
Windthorst beherzigen, der sich, obgleich katholische Sozialisten in seiner eignen<lb/>
Fraktion sitzen, noch jüngst, in gemütlicher Weise Sozialismus und Sozial-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0106] andres als ein durch eine geschickte Taktik errungener Scheinsieg, der uns nur über die Größe der uus drohenden Gefahr hinwegtäuschen würde. Die That¬ sache, daß es in Deutschland ein bis zwei Millionen wahlfähiger Männer giebt, die mit den bestehenden Zustanden so unzufrieden sind, daß sie kein Be¬ denken tragen, sich eiuer Partei anzuschließen, die den völligen Umsturz herbei¬ sehnt, diese Thatsache wird durch eine geschickte Wahlmache nicht aus der Welt geschafft. Und in dieser Thatsache liegt doch allein das Entscheidende. Die Zeiten sind zu ernst zu Taschenspielerkuuststückeu, mit denen vielleicht diese oder jene unsrer Reichstagsparteien einige Vorteile einheimsen könnte, die aber der Gesamtheit in keiner Weise zu gute kommeu würden. Aber nicht bloß nicht gefördert würde das Interesse der Gesamtheit durch jenen Zusammenschluß der stantserhaltenden Parteien, es würde in der aller- empfindlichsten Weise durch ihn geschädigt werden. „Zusammenschluß aller staatserhaltenden Parteien," das würde nichts andres als den Sieg derjenigen Richtung innerhalb der „Ordnungsparteien" bedeuten, die sich insofern als die am hervorragendsten staatserhaltendc erweist, als sie alles beim Alten lassen Null, als sie jedes Eingreifen des Staates zurückweist, den Sieg derjenigen nationalökonomischen Richtung, die alles dem „freien Spiel der Kräfte" über¬ lassen will, und die für die von Tag zu Tag greller hervortretenden wirt¬ schaftlichen Mißstände kein andres Rezept hat, als die Erhaltung aller der wirtschaftlichen Freiheiten des Einzelnen, die gerade der Nährboden aller sozialen Gefahren, der Nährboden der Sozialdemokratie sind. Arm in Arm mit dem Mcmchestertum die Sozialdemokratie bekämpfen wollen, das heißt nicht mehr und nicht weniger als den Grundgedanken der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 und mit ihm die ganze seitdem geschaffene sozialreforma- tvrische Gesetzgebung aufgeben. Will man das, nun gut, so sage man es, und wir werdeu wissen, woran wir sind. Aber Lobhhmnen singen ans die kaiserliche Botschaft und auf die soziale Reform, und auf der andern Seite wieder auffordern zur Vereinigung mit ihren größten Gegnern, um mit ihnen die Sozialdemokratie zu bekämpfen, das geht, wie die Dinge liegen, nicht mehr. Der Augenblick ist da, wo Farbe bekannt werden muß für oder wider ein staatliches Eingreifen in die wirtschaftlichen Verhältnisse, für oder wider die soziale Reform, die nicht stille stehen kann und nicht stille stehen wird bei Kranken-, Unfall- und Alters- und Jnvalidenversicherungsgesetz. Wer jetzt noch schwankt, wer sich jetzt noch bemüht, das eine zu vertreten und zugleich das Gegenteil, über den wird zur Tagesordnung übergegangen werden. Das mögen sich die Nativnalliberalen gesagt sein lassen, die unter der Flagge des nationalen Gedankens eine Partei aufrecht erhalten wollen, die in traulichem Beieinander Mnnchestermänner neben Svzinlrefvrmern enthält, das möge Herr Windthorst beherzigen, der sich, obgleich katholische Sozialisten in seiner eignen Fraktion sitzen, noch jüngst, in gemütlicher Weise Sozialismus und Sozial-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/106
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/106>, abgerufen am 23.07.2024.