Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Tempel und Theater

auch nicht gänzlich aufgeben konnte, wenn nicht das Beste der Wirkung ver¬
loren gehen sollte, dennoch außerhalb des Kultus zu feiern; da mußte sie vom
Tempel scheiden. Indem sie dies aber that, nahm sie von ihm gerade das
mit, was sür sie als Kultushandlung unbedingt notwendig war, die Vorhalle,
wo der, der den Dithhrambos anstimmte, jetzt der Heros, stand, und den vor
ihr befindlichen Altar mit dein Tanzplatz. Das, was von der Vorhalle des
Tempels gesehen wurde, war die Querwand, innerhalb der Vorhalle die Rück¬
wand und die sie rechts und links abschließenden Seitenwände. Aus welchem
Material diese zu kurzem, vorübergehendem Gebrauch errichteten Wände an¬
gefertigt wurden, zeigt ihre Benennung: Szene (o^-Zv^) bedeutet ursprünglich
Zelt. Es wurde also an Stelle des Tempelraumes ein Zeltgerüst aufgeschlagen,
von dem die dem Beschauer sichtbare Seite Wohl den Hauptbestandteil bildete
und die Querwand des Tempelraumes darstellte. An diese schlösse" sich rechts
und links die Proszenicn, die Seitenwände. Die Rückwand der Vorhalle folgte
nun, sobald ein neuer Heros auftrat, diesem selbst in der Weise, daß sie seinen
Aufenthaltsort charakterisirte: war er kein Gott mehr, so war der Raum kein
Tempel mehr; war er König, so wurde der innere Raum Palast, die Rückwand
der Vorhalle dessen Vorderseite. Je freier der Dichter in der Wahl seiner
Heroen, seiner "Helden" wurde, desto freier gestaltete sich auch die Rückwand.
Eins aber blieb unverändert, die geringe Tiefe der Bühne im Verhältnis zu
ihrer Breite, ein Umstand, der sich nicht verstehen läßt, wenn man nicht diese
Entstehung der Bühne zugiebt; sie ist die Vorhalle des Tempels und behält
bei aller Veränderung der äußern Erscheinung die Grundform dieser Vorhalle
bei. Ebendaraus erklären sich auch die von der Bühne zur Orchestra hinab-
führenden Treppen; zwischen beiden Teilen war von jeher der Verkehr not¬
wendig, und er bleibt es auch jetzt, da in der That ein Hinauf- und Herab¬
steigen im klassischen Drama vorkommt. Die Orchestra lehnt sich als Halbkreis
an. Bei den freistehenden, besonders den gelegentlich bei Festen unabhängig
von den Tempeln errichteten Altären stand der Chor im Kreise um den Altar;
die Gemeinde reihte sich in derselben Form an und bildete den Kranz. Schloß
sich aber der Tanzplatz mit dem Altar dem Tempel an, so mußte der Raum
zwischen Altar und Tempel frei bleiben, und die Gemeinde konnte sich erst
rechts und links an den Tempel lehnen, sie mußte um den Tanzplatz einen
Halbkreis bilden. Auch diese Form bleibt unverändert. Das Publikum aber
wohnte wie dem Gottesdienste ursprünglich auch dem Drama stehend bei, ein
Gebrauch, der so allgemein war, daß noch Cicero den Ausdruck 8eg.ut<?8 geradezu
für die Zuschauer, das Publikum, gebrauchen konnte. Sobald aber Sitze ge¬
macht wurden, folgte deren Linienzug dem im Halbkreise stehenden Publikum;
als Neues trat die Erhöhung nach hinten zu ein, eine Notwendigkeit, die
daraus entsprang, daß beim Drama in ganz andrer Weise gesehen werden
mußte, als es beim Kultus der Fall gewesen war.


Tempel und Theater

auch nicht gänzlich aufgeben konnte, wenn nicht das Beste der Wirkung ver¬
loren gehen sollte, dennoch außerhalb des Kultus zu feiern; da mußte sie vom
Tempel scheiden. Indem sie dies aber that, nahm sie von ihm gerade das
mit, was sür sie als Kultushandlung unbedingt notwendig war, die Vorhalle,
wo der, der den Dithhrambos anstimmte, jetzt der Heros, stand, und den vor
ihr befindlichen Altar mit dein Tanzplatz. Das, was von der Vorhalle des
Tempels gesehen wurde, war die Querwand, innerhalb der Vorhalle die Rück¬
wand und die sie rechts und links abschließenden Seitenwände. Aus welchem
Material diese zu kurzem, vorübergehendem Gebrauch errichteten Wände an¬
gefertigt wurden, zeigt ihre Benennung: Szene (o^-Zv^) bedeutet ursprünglich
Zelt. Es wurde also an Stelle des Tempelraumes ein Zeltgerüst aufgeschlagen,
von dem die dem Beschauer sichtbare Seite Wohl den Hauptbestandteil bildete
und die Querwand des Tempelraumes darstellte. An diese schlösse» sich rechts
und links die Proszenicn, die Seitenwände. Die Rückwand der Vorhalle folgte
nun, sobald ein neuer Heros auftrat, diesem selbst in der Weise, daß sie seinen
Aufenthaltsort charakterisirte: war er kein Gott mehr, so war der Raum kein
Tempel mehr; war er König, so wurde der innere Raum Palast, die Rückwand
der Vorhalle dessen Vorderseite. Je freier der Dichter in der Wahl seiner
Heroen, seiner „Helden" wurde, desto freier gestaltete sich auch die Rückwand.
Eins aber blieb unverändert, die geringe Tiefe der Bühne im Verhältnis zu
ihrer Breite, ein Umstand, der sich nicht verstehen läßt, wenn man nicht diese
Entstehung der Bühne zugiebt; sie ist die Vorhalle des Tempels und behält
bei aller Veränderung der äußern Erscheinung die Grundform dieser Vorhalle
bei. Ebendaraus erklären sich auch die von der Bühne zur Orchestra hinab-
führenden Treppen; zwischen beiden Teilen war von jeher der Verkehr not¬
wendig, und er bleibt es auch jetzt, da in der That ein Hinauf- und Herab¬
steigen im klassischen Drama vorkommt. Die Orchestra lehnt sich als Halbkreis
an. Bei den freistehenden, besonders den gelegentlich bei Festen unabhängig
von den Tempeln errichteten Altären stand der Chor im Kreise um den Altar;
die Gemeinde reihte sich in derselben Form an und bildete den Kranz. Schloß
sich aber der Tanzplatz mit dem Altar dem Tempel an, so mußte der Raum
zwischen Altar und Tempel frei bleiben, und die Gemeinde konnte sich erst
rechts und links an den Tempel lehnen, sie mußte um den Tanzplatz einen
Halbkreis bilden. Auch diese Form bleibt unverändert. Das Publikum aber
wohnte wie dem Gottesdienste ursprünglich auch dem Drama stehend bei, ein
Gebrauch, der so allgemein war, daß noch Cicero den Ausdruck 8eg.ut<?8 geradezu
für die Zuschauer, das Publikum, gebrauchen konnte. Sobald aber Sitze ge¬
macht wurden, folgte deren Linienzug dem im Halbkreise stehenden Publikum;
als Neues trat die Erhöhung nach hinten zu ein, eine Notwendigkeit, die
daraus entsprang, daß beim Drama in ganz andrer Weise gesehen werden
mußte, als es beim Kultus der Fall gewesen war.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0082" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208661"/>
          <fw type="header" place="top"> Tempel und Theater</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_225" prev="#ID_224"> auch nicht gänzlich aufgeben konnte, wenn nicht das Beste der Wirkung ver¬<lb/>
loren gehen sollte, dennoch außerhalb des Kultus zu feiern; da mußte sie vom<lb/>
Tempel scheiden. Indem sie dies aber that, nahm sie von ihm gerade das<lb/>
mit, was sür sie als Kultushandlung unbedingt notwendig war, die Vorhalle,<lb/>
wo der, der den Dithhrambos anstimmte, jetzt der Heros, stand, und den vor<lb/>
ihr befindlichen Altar mit dein Tanzplatz. Das, was von der Vorhalle des<lb/>
Tempels gesehen wurde, war die Querwand, innerhalb der Vorhalle die Rück¬<lb/>
wand und die sie rechts und links abschließenden Seitenwände. Aus welchem<lb/>
Material diese zu kurzem, vorübergehendem Gebrauch errichteten Wände an¬<lb/>
gefertigt wurden, zeigt ihre Benennung: Szene (o^-Zv^) bedeutet ursprünglich<lb/>
Zelt. Es wurde also an Stelle des Tempelraumes ein Zeltgerüst aufgeschlagen,<lb/>
von dem die dem Beschauer sichtbare Seite Wohl den Hauptbestandteil bildete<lb/>
und die Querwand des Tempelraumes darstellte. An diese schlösse» sich rechts<lb/>
und links die Proszenicn, die Seitenwände. Die Rückwand der Vorhalle folgte<lb/>
nun, sobald ein neuer Heros auftrat, diesem selbst in der Weise, daß sie seinen<lb/>
Aufenthaltsort charakterisirte: war er kein Gott mehr, so war der Raum kein<lb/>
Tempel mehr; war er König, so wurde der innere Raum Palast, die Rückwand<lb/>
der Vorhalle dessen Vorderseite. Je freier der Dichter in der Wahl seiner<lb/>
Heroen, seiner &#x201E;Helden" wurde, desto freier gestaltete sich auch die Rückwand.<lb/>
Eins aber blieb unverändert, die geringe Tiefe der Bühne im Verhältnis zu<lb/>
ihrer Breite, ein Umstand, der sich nicht verstehen läßt, wenn man nicht diese<lb/>
Entstehung der Bühne zugiebt; sie ist die Vorhalle des Tempels und behält<lb/>
bei aller Veränderung der äußern Erscheinung die Grundform dieser Vorhalle<lb/>
bei. Ebendaraus erklären sich auch die von der Bühne zur Orchestra hinab-<lb/>
führenden Treppen; zwischen beiden Teilen war von jeher der Verkehr not¬<lb/>
wendig, und er bleibt es auch jetzt, da in der That ein Hinauf- und Herab¬<lb/>
steigen im klassischen Drama vorkommt. Die Orchestra lehnt sich als Halbkreis<lb/>
an. Bei den freistehenden, besonders den gelegentlich bei Festen unabhängig<lb/>
von den Tempeln errichteten Altären stand der Chor im Kreise um den Altar;<lb/>
die Gemeinde reihte sich in derselben Form an und bildete den Kranz. Schloß<lb/>
sich aber der Tanzplatz mit dem Altar dem Tempel an, so mußte der Raum<lb/>
zwischen Altar und Tempel frei bleiben, und die Gemeinde konnte sich erst<lb/>
rechts und links an den Tempel lehnen, sie mußte um den Tanzplatz einen<lb/>
Halbkreis bilden. Auch diese Form bleibt unverändert. Das Publikum aber<lb/>
wohnte wie dem Gottesdienste ursprünglich auch dem Drama stehend bei, ein<lb/>
Gebrauch, der so allgemein war, daß noch Cicero den Ausdruck 8eg.ut&lt;?8 geradezu<lb/>
für die Zuschauer, das Publikum, gebrauchen konnte. Sobald aber Sitze ge¬<lb/>
macht wurden, folgte deren Linienzug dem im Halbkreise stehenden Publikum;<lb/>
als Neues trat die Erhöhung nach hinten zu ein, eine Notwendigkeit, die<lb/>
daraus entsprang, daß beim Drama in ganz andrer Weise gesehen werden<lb/>
mußte, als es beim Kultus der Fall gewesen war.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0082] Tempel und Theater auch nicht gänzlich aufgeben konnte, wenn nicht das Beste der Wirkung ver¬ loren gehen sollte, dennoch außerhalb des Kultus zu feiern; da mußte sie vom Tempel scheiden. Indem sie dies aber that, nahm sie von ihm gerade das mit, was sür sie als Kultushandlung unbedingt notwendig war, die Vorhalle, wo der, der den Dithhrambos anstimmte, jetzt der Heros, stand, und den vor ihr befindlichen Altar mit dein Tanzplatz. Das, was von der Vorhalle des Tempels gesehen wurde, war die Querwand, innerhalb der Vorhalle die Rück¬ wand und die sie rechts und links abschließenden Seitenwände. Aus welchem Material diese zu kurzem, vorübergehendem Gebrauch errichteten Wände an¬ gefertigt wurden, zeigt ihre Benennung: Szene (o^-Zv^) bedeutet ursprünglich Zelt. Es wurde also an Stelle des Tempelraumes ein Zeltgerüst aufgeschlagen, von dem die dem Beschauer sichtbare Seite Wohl den Hauptbestandteil bildete und die Querwand des Tempelraumes darstellte. An diese schlösse» sich rechts und links die Proszenicn, die Seitenwände. Die Rückwand der Vorhalle folgte nun, sobald ein neuer Heros auftrat, diesem selbst in der Weise, daß sie seinen Aufenthaltsort charakterisirte: war er kein Gott mehr, so war der Raum kein Tempel mehr; war er König, so wurde der innere Raum Palast, die Rückwand der Vorhalle dessen Vorderseite. Je freier der Dichter in der Wahl seiner Heroen, seiner „Helden" wurde, desto freier gestaltete sich auch die Rückwand. Eins aber blieb unverändert, die geringe Tiefe der Bühne im Verhältnis zu ihrer Breite, ein Umstand, der sich nicht verstehen läßt, wenn man nicht diese Entstehung der Bühne zugiebt; sie ist die Vorhalle des Tempels und behält bei aller Veränderung der äußern Erscheinung die Grundform dieser Vorhalle bei. Ebendaraus erklären sich auch die von der Bühne zur Orchestra hinab- führenden Treppen; zwischen beiden Teilen war von jeher der Verkehr not¬ wendig, und er bleibt es auch jetzt, da in der That ein Hinauf- und Herab¬ steigen im klassischen Drama vorkommt. Die Orchestra lehnt sich als Halbkreis an. Bei den freistehenden, besonders den gelegentlich bei Festen unabhängig von den Tempeln errichteten Altären stand der Chor im Kreise um den Altar; die Gemeinde reihte sich in derselben Form an und bildete den Kranz. Schloß sich aber der Tanzplatz mit dem Altar dem Tempel an, so mußte der Raum zwischen Altar und Tempel frei bleiben, und die Gemeinde konnte sich erst rechts und links an den Tempel lehnen, sie mußte um den Tanzplatz einen Halbkreis bilden. Auch diese Form bleibt unverändert. Das Publikum aber wohnte wie dem Gottesdienste ursprünglich auch dem Drama stehend bei, ein Gebrauch, der so allgemein war, daß noch Cicero den Ausdruck 8eg.ut<?8 geradezu für die Zuschauer, das Publikum, gebrauchen konnte. Sobald aber Sitze ge¬ macht wurden, folgte deren Linienzug dem im Halbkreise stehenden Publikum; als Neues trat die Erhöhung nach hinten zu ein, eine Notwendigkeit, die daraus entsprang, daß beim Drama in ganz andrer Weise gesehen werden mußte, als es beim Kultus der Fall gewesen war.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/82
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/82>, abgerufen am 23.07.2024.