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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Gesellschaft" für den Zweck der "Gesamtproduktion" zu dienen. Der Sache
nach würde es die Taschen des Proletariats füllen und in einer wüsten Orgie
von einigen Wochen oder Monaten verschleudert und verpraßt werden. Wird
einmal geraubt, dann will jeder zunächst für sich selbst rauben; das ist klar. Zu
einer "Gesamtproduktion" wird es niemals komme". Die Idealisten, die wirklich
an die Möglichkeit einer solchen glauben und versuchen sollte", sie ins Werk
zu setzen, würde" bald denselben Weg wander", auf den sie selbst vorher
die Bourgeoisie geschickt hatten. Die Revolution würde die blutigste werden,
die jemals die Weltgeschichte gesehen hat. Denn wenn man das Mein und
Dein in Frage stellt, so bedeutet das einen .Krieg aller gegen alle. Während
sich so die Nation im Innern zerfleischte, würden unsre Grenzen den feindlichen
Nachbarn offen stehen, nur das, was mit teueren deutscheu Blute errungen ist,
und noch vieles andre dazu vou unserm Vaterlande abzureißen. Glücklich,
wenn dann endlich aus dem Chaos von Raub und Blut eine Säbelherrschaft
auftauchte, die wieder Ordnung schüfe. Aber Wohlstand und bürgerliche
Freiheit würden auf unabsehbare Zeit vernichtet sein.

Wenn man diese ungeheuern Gefahren klar vor Ange" sieht, dann, sollte
man meinen, müßte die bürgerliche Gesellschaft, um deren Dasein es sich
handelt, alles aufbiete", um die Träger der verderblichen Lehren mit ihrer
Volksvcrführung nicht aufkommen zu lassen. "Nein!" sagen unsre modernsten
Svzialpvlitiker. "Die Sozinldemokraten sind Staatsbürger, wie alle andern
auch. Sie haben das Recht der freien Meinungsäußerung. Presse und Ver¬
eine müssen ihnen zur Verbreitung ihrer Lehren zu Gebote stehen. Sie müssen
das Recht habe", sich für ihre Zwecke zu organisiren. Also lassen wir sie
ihre Thätigkeit in voller Freiheit entwickeln." Wen" i" eine anständige Ge¬
sellschaft ein Herr träte, der offen erklärte, daß es ihm weniger um die
Unterhaltung, als um die Uhren der übrigen Herren zu thun sei, darauf aber
diese, statt ihn hinauszuwerfen, sich höflichst mit ihm unterhielten und nur
manchmal uach der Tasche fühlten, ob die Uhr noch drin sei, so würde das
ein ganz ähnlicher Vorgang sein.

Natürlich liegt diesen: edel" Liberalismus der Hintergedanke zu Grunde,
daß zur Zeit der Staat die Macht habe, jeden Versuch der Sozialdemokraten zur
Verwirklichung ihrer Lehren sofort niederzuschlagen. Das ist wahr. Für den
Augenblick haben Nur nichts zu fürchten. Ob aber auch für alle Zukunft?
Über die Frage, wie sich unter Umstünden die Verhältnisse ändern könnten,
läßt sich ja sehr schwer reden, und wir wollen es auch gar nicht versuchen.
Wir wollen nur das eine sagen: Die Gefahr, um die sichs handelt, ist zu
groß, als daß nicht auch schon eine entfernte Möglichkeit ihrer Verwirklichung
uns zu der äußersten Anstrengung ihrer vorsorglicher Abwehr veranlassen müßte.

Mag mau noch so sehr die Ansicht vertreten -- und wir selbst vertreten
sie --, daß es Pflicht des Staates sei, innerhalb der bestehenden Gesellschafts-


Gesellschaft" für den Zweck der „Gesamtproduktion" zu dienen. Der Sache
nach würde es die Taschen des Proletariats füllen und in einer wüsten Orgie
von einigen Wochen oder Monaten verschleudert und verpraßt werden. Wird
einmal geraubt, dann will jeder zunächst für sich selbst rauben; das ist klar. Zu
einer „Gesamtproduktion" wird es niemals komme». Die Idealisten, die wirklich
an die Möglichkeit einer solchen glauben und versuchen sollte», sie ins Werk
zu setzen, würde» bald denselben Weg wander», auf den sie selbst vorher
die Bourgeoisie geschickt hatten. Die Revolution würde die blutigste werden,
die jemals die Weltgeschichte gesehen hat. Denn wenn man das Mein und
Dein in Frage stellt, so bedeutet das einen .Krieg aller gegen alle. Während
sich so die Nation im Innern zerfleischte, würden unsre Grenzen den feindlichen
Nachbarn offen stehen, nur das, was mit teueren deutscheu Blute errungen ist,
und noch vieles andre dazu vou unserm Vaterlande abzureißen. Glücklich,
wenn dann endlich aus dem Chaos von Raub und Blut eine Säbelherrschaft
auftauchte, die wieder Ordnung schüfe. Aber Wohlstand und bürgerliche
Freiheit würden auf unabsehbare Zeit vernichtet sein.

Wenn man diese ungeheuern Gefahren klar vor Ange» sieht, dann, sollte
man meinen, müßte die bürgerliche Gesellschaft, um deren Dasein es sich
handelt, alles aufbiete», um die Träger der verderblichen Lehren mit ihrer
Volksvcrführung nicht aufkommen zu lassen. „Nein!" sagen unsre modernsten
Svzialpvlitiker. „Die Sozinldemokraten sind Staatsbürger, wie alle andern
auch. Sie haben das Recht der freien Meinungsäußerung. Presse und Ver¬
eine müssen ihnen zur Verbreitung ihrer Lehren zu Gebote stehen. Sie müssen
das Recht habe», sich für ihre Zwecke zu organisiren. Also lassen wir sie
ihre Thätigkeit in voller Freiheit entwickeln." Wen» i» eine anständige Ge¬
sellschaft ein Herr träte, der offen erklärte, daß es ihm weniger um die
Unterhaltung, als um die Uhren der übrigen Herren zu thun sei, darauf aber
diese, statt ihn hinauszuwerfen, sich höflichst mit ihm unterhielten und nur
manchmal uach der Tasche fühlten, ob die Uhr noch drin sei, so würde das
ein ganz ähnlicher Vorgang sein.

Natürlich liegt diesen: edel» Liberalismus der Hintergedanke zu Grunde,
daß zur Zeit der Staat die Macht habe, jeden Versuch der Sozialdemokraten zur
Verwirklichung ihrer Lehren sofort niederzuschlagen. Das ist wahr. Für den
Augenblick haben Nur nichts zu fürchten. Ob aber auch für alle Zukunft?
Über die Frage, wie sich unter Umstünden die Verhältnisse ändern könnten,
läßt sich ja sehr schwer reden, und wir wollen es auch gar nicht versuchen.
Wir wollen nur das eine sagen: Die Gefahr, um die sichs handelt, ist zu
groß, als daß nicht auch schon eine entfernte Möglichkeit ihrer Verwirklichung
uns zu der äußersten Anstrengung ihrer vorsorglicher Abwehr veranlassen müßte.

Mag mau noch so sehr die Ansicht vertreten — und wir selbst vertreten
sie —, daß es Pflicht des Staates sei, innerhalb der bestehenden Gesellschafts-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/59>, abgerufen am 25.08.2024.