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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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bedeutendste unter den hier gesammelten Aufsätzen, deren Abfassung in die Zeit von
1850 bis fällt, dürfte der über dus Zufällige sein. In ihm wird sehr schön
nachgewiesen, wie der große Scheinerfolg der modernsten Philosophie, die Verwand¬
lung der Welt in einen von starrer Notwendigkeit beherrschten Mechanismus,
praktisch in sein Gegenteil umschlägt, da nach Vernichtung alles dessen, was dem
Menschenleben Wert verleiht, die ganze Welt nur noch als das Ergebnis eines
blinden Zufalles erscheint, sodaß der ans den kleinen Ereignissen vertriebene Zu¬
fall durch die Herrschaft, die man ihm über das Ganze einräumt, reichlich ent¬
schädigt wird. Da Steffenfen das unbedingt wertvolle für seine Person mit aller
Entschiedenheit festhielt, so mußte er mit besonderm Interesse die religiösen und
kirchlichen Bewegungen der Zeit verfolgen. Der Glaube um den übernatürlichen
Ursprung der christlichen Kirche steht ihm unzweifelhaft fest, aber jeden Versuch
des "protestantischen Pfnffentnms," die freie Forschung zu knebeln, wie den mit
der Absetzung des Professors Baumgarten unternommenen, weist er scharf zurück.
Der "providentielle Ernst der Reformation" ist ihm hoch erhaben über die Frage,
wie. weit Luther mit seiner Rechtfertigungslehre Recht hatte, und ob diese nicht
um Ende beim Lichte besehen mit der tridentinischen auf ein und dasselbe Hinans¬
laufe; "wo das kraftvollste, sittlichste, edelste Volk, da ist das beste Priestertum,"
damit ist ihm die römische Hierarchie gerichtet. Das hindert ihn aber nicht, nach
längerm Aufenthalt in Italien auszurufen: "Wie will ich mich künftig freuen, daß
doch unter nus inmitten des protestantischen Lebens jeder, wer es auch sei, ohne
Scheu und Zurückhaltung alles Herrliche, das etwa die römisch gebliebenen Völker
hervorgebracht und gepflegt haben, preisen und ins Licht stellen darf! Daß wir
uns daran als an Besitztümern und Werken unsrer Brüder, trotz alles Streitens
und Kämpfens, aufrichtig freuen könne", und daraus lernen und dem nacheifern,
sofern es wirklich nacheifrungswürdig scheint! Mit allen unsern Freiheiten wollen
wir auch diese uns wahren und uns nicht darin irre machen lassen." In Rom
hat er sehr viele Predigten angehört; er giebt von allen den Hauptinhalt an und
unterwirft sie einer sehr gründlichen Kritik. Den Schluß der Sammlung bildet
eine Gedächtnisrede ans Schleiermncher, die des Gefeierten wissenschaftliche Bedeu¬
tung darlegt und bei aller Verehrung für den großen Theologen und Redner, von
der sie erfüllt ist, doch dessen Versuch, den Frieden zwischen Religion und Wissen¬
schaft dnrch die völlige Trennung beider von einander herzustellen, mit großer
Schärfe kritisirt. Was Steffenseu, als einem Philosophen Schelliugscher Richtung,
fehlt, ist Klarheit, Durchsichtigkeit der Darstellung im ganzen. Dagegen glückt es
ihm oft, für einzelne seiner tiefen Gedanken und feinen Beobachtungen einen
klassischen Ausdruck zu finde", z. B. in dem Satze: "Der Mann, dem das Leben
kein Geheimnis birgt, ist ein armer Mann." Im Vorwort hat Professor Eucken
die Stellung Steffensens zu der Philosophie seinerzeit erörtert.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig

bedeutendste unter den hier gesammelten Aufsätzen, deren Abfassung in die Zeit von
1850 bis fällt, dürfte der über dus Zufällige sein. In ihm wird sehr schön
nachgewiesen, wie der große Scheinerfolg der modernsten Philosophie, die Verwand¬
lung der Welt in einen von starrer Notwendigkeit beherrschten Mechanismus,
praktisch in sein Gegenteil umschlägt, da nach Vernichtung alles dessen, was dem
Menschenleben Wert verleiht, die ganze Welt nur noch als das Ergebnis eines
blinden Zufalles erscheint, sodaß der ans den kleinen Ereignissen vertriebene Zu¬
fall durch die Herrschaft, die man ihm über das Ganze einräumt, reichlich ent¬
schädigt wird. Da Steffenfen das unbedingt wertvolle für seine Person mit aller
Entschiedenheit festhielt, so mußte er mit besonderm Interesse die religiösen und
kirchlichen Bewegungen der Zeit verfolgen. Der Glaube um den übernatürlichen
Ursprung der christlichen Kirche steht ihm unzweifelhaft fest, aber jeden Versuch
des „protestantischen Pfnffentnms," die freie Forschung zu knebeln, wie den mit
der Absetzung des Professors Baumgarten unternommenen, weist er scharf zurück.
Der „providentielle Ernst der Reformation" ist ihm hoch erhaben über die Frage,
wie. weit Luther mit seiner Rechtfertigungslehre Recht hatte, und ob diese nicht
um Ende beim Lichte besehen mit der tridentinischen auf ein und dasselbe Hinans¬
laufe; „wo das kraftvollste, sittlichste, edelste Volk, da ist das beste Priestertum,"
damit ist ihm die römische Hierarchie gerichtet. Das hindert ihn aber nicht, nach
längerm Aufenthalt in Italien auszurufen: „Wie will ich mich künftig freuen, daß
doch unter nus inmitten des protestantischen Lebens jeder, wer es auch sei, ohne
Scheu und Zurückhaltung alles Herrliche, das etwa die römisch gebliebenen Völker
hervorgebracht und gepflegt haben, preisen und ins Licht stellen darf! Daß wir
uns daran als an Besitztümern und Werken unsrer Brüder, trotz alles Streitens
und Kämpfens, aufrichtig freuen könne», und daraus lernen und dem nacheifern,
sofern es wirklich nacheifrungswürdig scheint! Mit allen unsern Freiheiten wollen
wir auch diese uns wahren und uns nicht darin irre machen lassen." In Rom
hat er sehr viele Predigten angehört; er giebt von allen den Hauptinhalt an und
unterwirft sie einer sehr gründlichen Kritik. Den Schluß der Sammlung bildet
eine Gedächtnisrede ans Schleiermncher, die des Gefeierten wissenschaftliche Bedeu¬
tung darlegt und bei aller Verehrung für den großen Theologen und Redner, von
der sie erfüllt ist, doch dessen Versuch, den Frieden zwischen Religion und Wissen¬
schaft dnrch die völlige Trennung beider von einander herzustellen, mit großer
Schärfe kritisirt. Was Steffenseu, als einem Philosophen Schelliugscher Richtung,
fehlt, ist Klarheit, Durchsichtigkeit der Darstellung im ganzen. Dagegen glückt es
ihm oft, für einzelne seiner tiefen Gedanken und feinen Beobachtungen einen
klassischen Ausdruck zu finde», z. B. in dem Satze: „Der Mann, dem das Leben
kein Geheimnis birgt, ist ein armer Mann." Im Vorwort hat Professor Eucken
die Stellung Steffensens zu der Philosophie seinerzeit erörtert.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/544>, abgerufen am 23.07.2024.