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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Julius Stinte

Stinte zwei selbständige Werke dieser Art geschrieben. Die "Opfer der
Wissenschaft/' mit denen der Verfasser die ans bloßen Hypothesen aufbauende
Naturwissenschaft Hückelscher Richtung verfolgt, machten bei ihrem Erscheinen
Aufsehen; dauernden Wertes aber und voll köstlicheren Humors ist das
,,Dekamerone der Verläumder," eine vortreffliche Verspottung des seinerzeit
von den Mitgliedern des Wiener Vurgtheaters allsgegangenen Dekamerone-
nnwesens, eine lachende Stäupung übertriebener Künstlereitelkeit. Das kleine,
von Oskar Wagner hübsch illustrirte Buch gehört zu den hervorragendsten
Werken Stiudes, obwohl es durch die Buchholzbücher mehr und mehr zurück¬
gedrängt worden ist.

Diese Berliner Humoresken wurden eben sehr bald das ein und alles,
was das Publikum von Stinte verlangte mit unablässig wachsendem Appetit.
Alle andern Werke wurden vorläufig mehr oder weniger beiseite geschoben, die
Satiren und ehemaligen populärwissenschaftlichen Schriften, die beiden bereits
genannten Novelleusammlungen, zu denen neuerdings noch eine dritte, "Die
Perlenschnur und andres," hinzugekommen ist, wie auch die Übersetzung des
Norwegers Lars Dilling; ja ich möchte glauben, daß die Mehrzahl der Ver¬
ehrer von Stindes Buchholzschriften keine Ahnung davon hat, was derselbe
Schriftsteller in frühern Jahren für das Hamburger Publikum auf platt¬
deutschen Gebiete geleistet hat. Und doch muß man, vom rein ästhetischen
Standpunkte, manches, was heute zurückgedrängt ist, den Berliner Humoresken
voranstellen. Eine Posse wie "Hamburger Leiden" v>r "Tante Lotte" ganz
gewiß. Denn hier haben wir es mit abgerundeten Dichtungen zu thun, die
zwar auch des Beiwerkes genug haben, aber doch durch eine folgerichtige
Handlung in sich so zusammengehalten werden, daß sie in der Entwicklungs¬
geschichte der plattdeutschen Komödie für alle Zeiten zu den hervorragendsten
Erscheinungen gehören werden. Auch dann noch, wenn Wilhelmine Buchholz
längst vergessen sein wird. Denn diese Buchholzgeschichten, so enthusiastisch
sie aufgenommen worden sind, bleiben doch nur immer, was sie nach Stindes
Absichten sein sollen: eine fesselnde, sehr humoristische Erscheinung der Tages¬
litteratur. Der Ästhetiker kann und wird sie niemals für voll anerkennen.
Der Roman oder vielmehr die vielen einzelnen Romane, die sich in den Berliner
Geschichten abspinnen, gleichen dem vielfach verästelten Weihnachtsbaum, an dem
alle die Süßigkeiten, goldenen Äpfel und Nüsse, Glaskugeln lind bunten Kettchen
nach und nach aufgehängt werden.

Doch das thut den nur für eine mäßig bemessene Gegenwart bestimmten
Werken keinen Abbruch und kann Stindes Bedeutung nicht beeinträchtigen.
Nachteiliger für dauernden Genuß erweist sich des Verfassers allzu langes
Festhalten an ein und demselben Stoffe, den er -- und hier tritt der speku¬
lative kaufmännische Schriftsteller hervor -- vou Band zu Band, sich immer
noch eine Lücke offen lassend, von der aus er vou neuem einsetzen kann, weiter-


Julius Stinte

Stinte zwei selbständige Werke dieser Art geschrieben. Die „Opfer der
Wissenschaft/' mit denen der Verfasser die ans bloßen Hypothesen aufbauende
Naturwissenschaft Hückelscher Richtung verfolgt, machten bei ihrem Erscheinen
Aufsehen; dauernden Wertes aber und voll köstlicheren Humors ist das
,,Dekamerone der Verläumder," eine vortreffliche Verspottung des seinerzeit
von den Mitgliedern des Wiener Vurgtheaters allsgegangenen Dekamerone-
nnwesens, eine lachende Stäupung übertriebener Künstlereitelkeit. Das kleine,
von Oskar Wagner hübsch illustrirte Buch gehört zu den hervorragendsten
Werken Stiudes, obwohl es durch die Buchholzbücher mehr und mehr zurück¬
gedrängt worden ist.

Diese Berliner Humoresken wurden eben sehr bald das ein und alles,
was das Publikum von Stinte verlangte mit unablässig wachsendem Appetit.
Alle andern Werke wurden vorläufig mehr oder weniger beiseite geschoben, die
Satiren und ehemaligen populärwissenschaftlichen Schriften, die beiden bereits
genannten Novelleusammlungen, zu denen neuerdings noch eine dritte, „Die
Perlenschnur und andres," hinzugekommen ist, wie auch die Übersetzung des
Norwegers Lars Dilling; ja ich möchte glauben, daß die Mehrzahl der Ver¬
ehrer von Stindes Buchholzschriften keine Ahnung davon hat, was derselbe
Schriftsteller in frühern Jahren für das Hamburger Publikum auf platt¬
deutschen Gebiete geleistet hat. Und doch muß man, vom rein ästhetischen
Standpunkte, manches, was heute zurückgedrängt ist, den Berliner Humoresken
voranstellen. Eine Posse wie „Hamburger Leiden" v>r „Tante Lotte" ganz
gewiß. Denn hier haben wir es mit abgerundeten Dichtungen zu thun, die
zwar auch des Beiwerkes genug haben, aber doch durch eine folgerichtige
Handlung in sich so zusammengehalten werden, daß sie in der Entwicklungs¬
geschichte der plattdeutschen Komödie für alle Zeiten zu den hervorragendsten
Erscheinungen gehören werden. Auch dann noch, wenn Wilhelmine Buchholz
längst vergessen sein wird. Denn diese Buchholzgeschichten, so enthusiastisch
sie aufgenommen worden sind, bleiben doch nur immer, was sie nach Stindes
Absichten sein sollen: eine fesselnde, sehr humoristische Erscheinung der Tages¬
litteratur. Der Ästhetiker kann und wird sie niemals für voll anerkennen.
Der Roman oder vielmehr die vielen einzelnen Romane, die sich in den Berliner
Geschichten abspinnen, gleichen dem vielfach verästelten Weihnachtsbaum, an dem
alle die Süßigkeiten, goldenen Äpfel und Nüsse, Glaskugeln lind bunten Kettchen
nach und nach aufgehängt werden.

Doch das thut den nur für eine mäßig bemessene Gegenwart bestimmten
Werken keinen Abbruch und kann Stindes Bedeutung nicht beeinträchtigen.
Nachteiliger für dauernden Genuß erweist sich des Verfassers allzu langes
Festhalten an ein und demselben Stoffe, den er — und hier tritt der speku¬
lative kaufmännische Schriftsteller hervor — vou Band zu Band, sich immer
noch eine Lücke offen lassend, von der aus er vou neuem einsetzen kann, weiter-


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[0527] Julius Stinte Stinte zwei selbständige Werke dieser Art geschrieben. Die „Opfer der Wissenschaft/' mit denen der Verfasser die ans bloßen Hypothesen aufbauende Naturwissenschaft Hückelscher Richtung verfolgt, machten bei ihrem Erscheinen Aufsehen; dauernden Wertes aber und voll köstlicheren Humors ist das ,,Dekamerone der Verläumder," eine vortreffliche Verspottung des seinerzeit von den Mitgliedern des Wiener Vurgtheaters allsgegangenen Dekamerone- nnwesens, eine lachende Stäupung übertriebener Künstlereitelkeit. Das kleine, von Oskar Wagner hübsch illustrirte Buch gehört zu den hervorragendsten Werken Stiudes, obwohl es durch die Buchholzbücher mehr und mehr zurück¬ gedrängt worden ist. Diese Berliner Humoresken wurden eben sehr bald das ein und alles, was das Publikum von Stinte verlangte mit unablässig wachsendem Appetit. Alle andern Werke wurden vorläufig mehr oder weniger beiseite geschoben, die Satiren und ehemaligen populärwissenschaftlichen Schriften, die beiden bereits genannten Novelleusammlungen, zu denen neuerdings noch eine dritte, „Die Perlenschnur und andres," hinzugekommen ist, wie auch die Übersetzung des Norwegers Lars Dilling; ja ich möchte glauben, daß die Mehrzahl der Ver¬ ehrer von Stindes Buchholzschriften keine Ahnung davon hat, was derselbe Schriftsteller in frühern Jahren für das Hamburger Publikum auf platt¬ deutschen Gebiete geleistet hat. Und doch muß man, vom rein ästhetischen Standpunkte, manches, was heute zurückgedrängt ist, den Berliner Humoresken voranstellen. Eine Posse wie „Hamburger Leiden" v>r „Tante Lotte" ganz gewiß. Denn hier haben wir es mit abgerundeten Dichtungen zu thun, die zwar auch des Beiwerkes genug haben, aber doch durch eine folgerichtige Handlung in sich so zusammengehalten werden, daß sie in der Entwicklungs¬ geschichte der plattdeutschen Komödie für alle Zeiten zu den hervorragendsten Erscheinungen gehören werden. Auch dann noch, wenn Wilhelmine Buchholz längst vergessen sein wird. Denn diese Buchholzgeschichten, so enthusiastisch sie aufgenommen worden sind, bleiben doch nur immer, was sie nach Stindes Absichten sein sollen: eine fesselnde, sehr humoristische Erscheinung der Tages¬ litteratur. Der Ästhetiker kann und wird sie niemals für voll anerkennen. Der Roman oder vielmehr die vielen einzelnen Romane, die sich in den Berliner Geschichten abspinnen, gleichen dem vielfach verästelten Weihnachtsbaum, an dem alle die Süßigkeiten, goldenen Äpfel und Nüsse, Glaskugeln lind bunten Kettchen nach und nach aufgehängt werden. Doch das thut den nur für eine mäßig bemessene Gegenwart bestimmten Werken keinen Abbruch und kann Stindes Bedeutung nicht beeinträchtigen. Nachteiliger für dauernden Genuß erweist sich des Verfassers allzu langes Festhalten an ein und demselben Stoffe, den er — und hier tritt der speku¬ lative kaufmännische Schriftsteller hervor — vou Band zu Band, sich immer noch eine Lücke offen lassend, von der aus er vou neuem einsetzen kann, weiter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/527>, abgerufen am 23.07.2024.