Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Julius Stinte

arbeitung weiterer Bühnenstücke bedürfte der ehemalige Chemiker, der schon
seit Jahren den Lciborirtisch mit dem Redciktivnssessel vertauscht hatte, der
Ruhe des freien Schriftstellers, denn es war ihm zugleich um die Muße und
Gelegenheit zum Sammeln neuer Stoffe für fernere Schöpfungen zu thun.
Diese Gelegenheit bot sich ihm in Berlin. Während die Arbeit seiner Feder,
auf humoristischen! Gebiete wenigstens, noch der dramatischen Schilderung
Hamburger Gebens galt, war das beobachtende Auge bereits ausschließlich auf
die neue Umgebung gerichtet. In aller Ruhe studirte Stinte, wie er es in
Hamburg gethan hatte, Sprache, Sitten und Typen der Reichshauptstadt;
dann aber, als er seine Zeit gekommen glaubte, faßte er "feste" zu und, dem
Beispiel der vernunftlosen Mausefalle folgend, ließ er seinen Stoff nicht eher
wieder los, als bis er hergegeben hatte, was er hergeben konnte. Das Er¬
götzen Hnuderttauseuder an denn unversieglichen Humor seiner Werke und dazu
eine reichlich sprudelnde Quelle materieller Erfolge war der Lohn.

Aber obwohl dieses geschickte Ergreifen des geeigneten Zeitpunktes für
eiuen spekulativen schriftstellerirden Kaufmann oder kaufmännischen Schriftsteller,
wie sich Stinte wohl scherzweise selbst genannt hat, von großer Bedeutung
sein mußte, so ist doch damit eine ausreichende Erklärung für die Erfolge
seiner Schriften nicht gegeben. Die Hauptsache ist und bleibt immer die Güte
der aufgebotenen Ware; und diese schmackhaft herzurichten, gesunde Nährstoffe
durch Hinzufügen feiner und feinster Gewürze dem Käufer mundgerecht und
begehrenswert zu machen, bedarf es auf dem Markte belletristischer Bücher
beim Humoristen eines ausgesprochenen Verständnisses für den Appetit seiner
Leser und vor allen Dingen des Talents, Gaumen und Zunge zu kitzeln.
Dies Talent hat Stinte, es ist in Hamburg wie in Berlin zum vollen Durch¬
bruch gelaugt; Stinte ist Humorist im eigentlichen Sinne des Wortes.

Das beweist zunächst die komische Wirkung seiner Schriften. Lokalpossen
wie "Hamburger Leiden," "Tante Lotte," "Die Nachtigall aus dem Bäcker¬
gang," "Die Familie Carstens" u. f. w. zogen seinerzeit den Hamburger Mittel¬
stand allabendlich vor die Bretter des Schultze-Theaters. Zu welchem Zwecke?
Um einmal von ganzem Herzen lachen zu können. Und worüber lachte dieses
außerordentlich dankbare Publikum? Über sein eignes, gutmütig ihm vor¬
gehaltenes Spiegelbild, über seinen eignen, durch die Vorstellung auf der
Bühne zum Bewußtsein gebrachte" Volkshumor. Die Stindischen Possen und
Charakterstücke fesseln den Zuschauer nicht nach moderner Art durch fleisch¬
farbene Trikots, scharfe Pikauterien oder allerhand Zwei- und Eindeutigkeiten,
sondern durch die Gesundheit ihres Humors, dessen Wesen sich wiederum
nicht in einem Funkenfeuer sprühender Wortwitze kundgiebt, sondern in
der durch schärfste und zugleich liebevollste Beobachtung ermöglichten, bis ins
Kleinste getreuen Zeichnung der Typen, Sitten und Eigenheiten, wie sie sich
thatsächlich und alltäglich im Volke geben. Und dieses Talent, zu beobachten


Julius Stinte

arbeitung weiterer Bühnenstücke bedürfte der ehemalige Chemiker, der schon
seit Jahren den Lciborirtisch mit dem Redciktivnssessel vertauscht hatte, der
Ruhe des freien Schriftstellers, denn es war ihm zugleich um die Muße und
Gelegenheit zum Sammeln neuer Stoffe für fernere Schöpfungen zu thun.
Diese Gelegenheit bot sich ihm in Berlin. Während die Arbeit seiner Feder,
auf humoristischen! Gebiete wenigstens, noch der dramatischen Schilderung
Hamburger Gebens galt, war das beobachtende Auge bereits ausschließlich auf
die neue Umgebung gerichtet. In aller Ruhe studirte Stinte, wie er es in
Hamburg gethan hatte, Sprache, Sitten und Typen der Reichshauptstadt;
dann aber, als er seine Zeit gekommen glaubte, faßte er „feste" zu und, dem
Beispiel der vernunftlosen Mausefalle folgend, ließ er seinen Stoff nicht eher
wieder los, als bis er hergegeben hatte, was er hergeben konnte. Das Er¬
götzen Hnuderttauseuder an denn unversieglichen Humor seiner Werke und dazu
eine reichlich sprudelnde Quelle materieller Erfolge war der Lohn.

Aber obwohl dieses geschickte Ergreifen des geeigneten Zeitpunktes für
eiuen spekulativen schriftstellerirden Kaufmann oder kaufmännischen Schriftsteller,
wie sich Stinte wohl scherzweise selbst genannt hat, von großer Bedeutung
sein mußte, so ist doch damit eine ausreichende Erklärung für die Erfolge
seiner Schriften nicht gegeben. Die Hauptsache ist und bleibt immer die Güte
der aufgebotenen Ware; und diese schmackhaft herzurichten, gesunde Nährstoffe
durch Hinzufügen feiner und feinster Gewürze dem Käufer mundgerecht und
begehrenswert zu machen, bedarf es auf dem Markte belletristischer Bücher
beim Humoristen eines ausgesprochenen Verständnisses für den Appetit seiner
Leser und vor allen Dingen des Talents, Gaumen und Zunge zu kitzeln.
Dies Talent hat Stinte, es ist in Hamburg wie in Berlin zum vollen Durch¬
bruch gelaugt; Stinte ist Humorist im eigentlichen Sinne des Wortes.

Das beweist zunächst die komische Wirkung seiner Schriften. Lokalpossen
wie „Hamburger Leiden," „Tante Lotte," „Die Nachtigall aus dem Bäcker¬
gang," „Die Familie Carstens" u. f. w. zogen seinerzeit den Hamburger Mittel¬
stand allabendlich vor die Bretter des Schultze-Theaters. Zu welchem Zwecke?
Um einmal von ganzem Herzen lachen zu können. Und worüber lachte dieses
außerordentlich dankbare Publikum? Über sein eignes, gutmütig ihm vor¬
gehaltenes Spiegelbild, über seinen eignen, durch die Vorstellung auf der
Bühne zum Bewußtsein gebrachte» Volkshumor. Die Stindischen Possen und
Charakterstücke fesseln den Zuschauer nicht nach moderner Art durch fleisch¬
farbene Trikots, scharfe Pikauterien oder allerhand Zwei- und Eindeutigkeiten,
sondern durch die Gesundheit ihres Humors, dessen Wesen sich wiederum
nicht in einem Funkenfeuer sprühender Wortwitze kundgiebt, sondern in
der durch schärfste und zugleich liebevollste Beobachtung ermöglichten, bis ins
Kleinste getreuen Zeichnung der Typen, Sitten und Eigenheiten, wie sie sich
thatsächlich und alltäglich im Volke geben. Und dieses Talent, zu beobachten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0523" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209102"/>
          <fw type="header" place="top"> Julius Stinte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1506" prev="#ID_1505"> arbeitung weiterer Bühnenstücke bedürfte der ehemalige Chemiker, der schon<lb/>
seit Jahren den Lciborirtisch mit dem Redciktivnssessel vertauscht hatte, der<lb/>
Ruhe des freien Schriftstellers, denn es war ihm zugleich um die Muße und<lb/>
Gelegenheit zum Sammeln neuer Stoffe für fernere Schöpfungen zu thun.<lb/>
Diese Gelegenheit bot sich ihm in Berlin. Während die Arbeit seiner Feder,<lb/>
auf humoristischen! Gebiete wenigstens, noch der dramatischen Schilderung<lb/>
Hamburger Gebens galt, war das beobachtende Auge bereits ausschließlich auf<lb/>
die neue Umgebung gerichtet. In aller Ruhe studirte Stinte, wie er es in<lb/>
Hamburg gethan hatte, Sprache, Sitten und Typen der Reichshauptstadt;<lb/>
dann aber, als er seine Zeit gekommen glaubte, faßte er &#x201E;feste" zu und, dem<lb/>
Beispiel der vernunftlosen Mausefalle folgend, ließ er seinen Stoff nicht eher<lb/>
wieder los, als bis er hergegeben hatte, was er hergeben konnte. Das Er¬<lb/>
götzen Hnuderttauseuder an denn unversieglichen Humor seiner Werke und dazu<lb/>
eine reichlich sprudelnde Quelle materieller Erfolge war der Lohn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1507"> Aber obwohl dieses geschickte Ergreifen des geeigneten Zeitpunktes für<lb/>
eiuen spekulativen schriftstellerirden Kaufmann oder kaufmännischen Schriftsteller,<lb/>
wie sich Stinte wohl scherzweise selbst genannt hat, von großer Bedeutung<lb/>
sein mußte, so ist doch damit eine ausreichende Erklärung für die Erfolge<lb/>
seiner Schriften nicht gegeben. Die Hauptsache ist und bleibt immer die Güte<lb/>
der aufgebotenen Ware; und diese schmackhaft herzurichten, gesunde Nährstoffe<lb/>
durch Hinzufügen feiner und feinster Gewürze dem Käufer mundgerecht und<lb/>
begehrenswert zu machen, bedarf es auf dem Markte belletristischer Bücher<lb/>
beim Humoristen eines ausgesprochenen Verständnisses für den Appetit seiner<lb/>
Leser und vor allen Dingen des Talents, Gaumen und Zunge zu kitzeln.<lb/>
Dies Talent hat Stinte, es ist in Hamburg wie in Berlin zum vollen Durch¬<lb/>
bruch gelaugt; Stinte ist Humorist im eigentlichen Sinne des Wortes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1508" next="#ID_1509"> Das beweist zunächst die komische Wirkung seiner Schriften. Lokalpossen<lb/>
wie &#x201E;Hamburger Leiden," &#x201E;Tante Lotte," &#x201E;Die Nachtigall aus dem Bäcker¬<lb/>
gang," &#x201E;Die Familie Carstens" u. f. w. zogen seinerzeit den Hamburger Mittel¬<lb/>
stand allabendlich vor die Bretter des Schultze-Theaters. Zu welchem Zwecke?<lb/>
Um einmal von ganzem Herzen lachen zu können. Und worüber lachte dieses<lb/>
außerordentlich dankbare Publikum? Über sein eignes, gutmütig ihm vor¬<lb/>
gehaltenes Spiegelbild, über seinen eignen, durch die Vorstellung auf der<lb/>
Bühne zum Bewußtsein gebrachte» Volkshumor. Die Stindischen Possen und<lb/>
Charakterstücke fesseln den Zuschauer nicht nach moderner Art durch fleisch¬<lb/>
farbene Trikots, scharfe Pikauterien oder allerhand Zwei- und Eindeutigkeiten,<lb/>
sondern durch die Gesundheit ihres Humors, dessen Wesen sich wiederum<lb/>
nicht in einem Funkenfeuer sprühender Wortwitze kundgiebt, sondern in<lb/>
der durch schärfste und zugleich liebevollste Beobachtung ermöglichten, bis ins<lb/>
Kleinste getreuen Zeichnung der Typen, Sitten und Eigenheiten, wie sie sich<lb/>
thatsächlich und alltäglich im Volke geben.  Und dieses Talent, zu beobachten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0523] Julius Stinte arbeitung weiterer Bühnenstücke bedürfte der ehemalige Chemiker, der schon seit Jahren den Lciborirtisch mit dem Redciktivnssessel vertauscht hatte, der Ruhe des freien Schriftstellers, denn es war ihm zugleich um die Muße und Gelegenheit zum Sammeln neuer Stoffe für fernere Schöpfungen zu thun. Diese Gelegenheit bot sich ihm in Berlin. Während die Arbeit seiner Feder, auf humoristischen! Gebiete wenigstens, noch der dramatischen Schilderung Hamburger Gebens galt, war das beobachtende Auge bereits ausschließlich auf die neue Umgebung gerichtet. In aller Ruhe studirte Stinte, wie er es in Hamburg gethan hatte, Sprache, Sitten und Typen der Reichshauptstadt; dann aber, als er seine Zeit gekommen glaubte, faßte er „feste" zu und, dem Beispiel der vernunftlosen Mausefalle folgend, ließ er seinen Stoff nicht eher wieder los, als bis er hergegeben hatte, was er hergeben konnte. Das Er¬ götzen Hnuderttauseuder an denn unversieglichen Humor seiner Werke und dazu eine reichlich sprudelnde Quelle materieller Erfolge war der Lohn. Aber obwohl dieses geschickte Ergreifen des geeigneten Zeitpunktes für eiuen spekulativen schriftstellerirden Kaufmann oder kaufmännischen Schriftsteller, wie sich Stinte wohl scherzweise selbst genannt hat, von großer Bedeutung sein mußte, so ist doch damit eine ausreichende Erklärung für die Erfolge seiner Schriften nicht gegeben. Die Hauptsache ist und bleibt immer die Güte der aufgebotenen Ware; und diese schmackhaft herzurichten, gesunde Nährstoffe durch Hinzufügen feiner und feinster Gewürze dem Käufer mundgerecht und begehrenswert zu machen, bedarf es auf dem Markte belletristischer Bücher beim Humoristen eines ausgesprochenen Verständnisses für den Appetit seiner Leser und vor allen Dingen des Talents, Gaumen und Zunge zu kitzeln. Dies Talent hat Stinte, es ist in Hamburg wie in Berlin zum vollen Durch¬ bruch gelaugt; Stinte ist Humorist im eigentlichen Sinne des Wortes. Das beweist zunächst die komische Wirkung seiner Schriften. Lokalpossen wie „Hamburger Leiden," „Tante Lotte," „Die Nachtigall aus dem Bäcker¬ gang," „Die Familie Carstens" u. f. w. zogen seinerzeit den Hamburger Mittel¬ stand allabendlich vor die Bretter des Schultze-Theaters. Zu welchem Zwecke? Um einmal von ganzem Herzen lachen zu können. Und worüber lachte dieses außerordentlich dankbare Publikum? Über sein eignes, gutmütig ihm vor¬ gehaltenes Spiegelbild, über seinen eignen, durch die Vorstellung auf der Bühne zum Bewußtsein gebrachte» Volkshumor. Die Stindischen Possen und Charakterstücke fesseln den Zuschauer nicht nach moderner Art durch fleisch¬ farbene Trikots, scharfe Pikauterien oder allerhand Zwei- und Eindeutigkeiten, sondern durch die Gesundheit ihres Humors, dessen Wesen sich wiederum nicht in einem Funkenfeuer sprühender Wortwitze kundgiebt, sondern in der durch schärfste und zugleich liebevollste Beobachtung ermöglichten, bis ins Kleinste getreuen Zeichnung der Typen, Sitten und Eigenheiten, wie sie sich thatsächlich und alltäglich im Volke geben. Und dieses Talent, zu beobachten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/523
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/523>, abgerufen am 23.07.2024.