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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das öffentliche Unterstützungswesen in Elsaß-Lothringen

erlangen. Er mag mithin sein ganzes Leben in einer bestimmten Gemeinde
des Neichslandes verbracht haben, so wird dieser Gemeinde doch stets der
§ 5 des Freizügigkeitsgesetzes zur Seite stehen, auf Grund dessen sie die Fort¬
setzung des Aufenthaltes versagen kann, wenn sich nach dem Anzüge die Not¬
wendigkeit einer öffentlichen Unterstützung ergiebt, ehe der Neuanziehende an
dem Aufenthaltsorte einen Unterstützungswohnsitz erworben hat. Hieraus er¬
giebt sich dann, dn man keiner andern Gemeinde die Aufnahme des Unter¬
stützungsbedürftigen zumuten kann, die Notwendigkeit seiner Wegweisung aus
dem ganzen reichsländischen Gebiete und auf Grund des Gothaer Vertrages
die Verpflichtung des Heimatstaates zur Übernahme des Armen, der nunmehr
seinen Unterstützungswohnsitz in der Heimat längst verloren hat und der Land¬
armenpflege zur Last füllt. Umgekehrt würde ein Elsaß-Lothringer, der unter
gleiche" Verhältnissen aus einem andern Bundesstaate weggewiesen würde, im
Reichslande stets nach seinem letzten Unterstützungswohnsitze zurückkehren können.

Es wird nämlich angenommen, daß mau seinen Unterstützungswohnsitz so
lange behält, bis man einen neuen erworben hat. Diese Auslegung wird
wenigstens in der Praxis dem Artikel 12 des für die Frage des Unterstützungs¬
wohnsitzes noch geltenden Gesetzes vom 24. vsuäemmirö II (15. Oktober 1793)
gegeben. Nach diesem Gesetze, das nur in wenigen Bestimmungen praktisch
geworden ist, muß man ebenso wie im deutschen Rechte zwischen der selbständigen
und abgeleiteten Erwerbung eines Unterstützungswohnsitzes unterscheiden.
Zur selbständigen Erwerbung gehört Großjährigkeit und einjähriger Aufenthalt,
doch genügt es, wenn der Aufenthalt während der Minderjährigkeit begonnen
hat und während der Großjährigkeit vollendet ist, wenn er nur noch wenigstens
sechs Monate uach erreichter Großjährigkeit gedauert hat. Die abgeleitete
Erwerbung vollzieht sich durch Berehelichnng und Geburt. Als Geburtsort
gilt der thatsächliche Aufenthaltsort der Mutter zur Zeit der Geburt. Niemand
kann zu gleicher Zeit in zwei Gemeinden das Recht des Unterstütznngswohn-
sitzes ausüben. Hieraus ergiebt sich die einzige Möglichkeit des Verlustes.
Der frühere Unterstützungswohnsitz geht durch die Erwerbung eines neuen ver¬
loren, und so lange der neue nicht erworben ist, bleibt der frühere bestehen.

Die Sicherheit, die sich für den Einzelnen auf der einen Seite, und die
Belastung, die sich für die Gemeinden auf der andern Seite aus diesem Rechts-
zustande ergeben könnte, wird durch die Wesenlosigkeit des Rechtsanspruches
gemindert, der mit dem Unterstützungswohnsitz verknüpft ist. Ein von dem
Armen oder von der Aufsichtsbehörde auszuübender Zwang zur Gemährung
einer Unterstützung ist nämlich abgesehen von einigen ganz wenigen Fällen der
Gemeinde gegenüber nicht zulässig. Fast die gesamte Armenpflege ist auf
Freiwilligkeit der Leistung begründet. Verstehen läßt sich dies nur, wenn man
einen kurzen Rückblick aus die Entstehungsgeschichte dieser Armengesetzgebung
wirft, die sich mit der Entwicklung des französischen Armenwesens vollständig deckt.


Grenzboten IV 1890 64
Das öffentliche Unterstützungswesen in Elsaß-Lothringen

erlangen. Er mag mithin sein ganzes Leben in einer bestimmten Gemeinde
des Neichslandes verbracht haben, so wird dieser Gemeinde doch stets der
§ 5 des Freizügigkeitsgesetzes zur Seite stehen, auf Grund dessen sie die Fort¬
setzung des Aufenthaltes versagen kann, wenn sich nach dem Anzüge die Not¬
wendigkeit einer öffentlichen Unterstützung ergiebt, ehe der Neuanziehende an
dem Aufenthaltsorte einen Unterstützungswohnsitz erworben hat. Hieraus er¬
giebt sich dann, dn man keiner andern Gemeinde die Aufnahme des Unter¬
stützungsbedürftigen zumuten kann, die Notwendigkeit seiner Wegweisung aus
dem ganzen reichsländischen Gebiete und auf Grund des Gothaer Vertrages
die Verpflichtung des Heimatstaates zur Übernahme des Armen, der nunmehr
seinen Unterstützungswohnsitz in der Heimat längst verloren hat und der Land¬
armenpflege zur Last füllt. Umgekehrt würde ein Elsaß-Lothringer, der unter
gleiche» Verhältnissen aus einem andern Bundesstaate weggewiesen würde, im
Reichslande stets nach seinem letzten Unterstützungswohnsitze zurückkehren können.

Es wird nämlich angenommen, daß mau seinen Unterstützungswohnsitz so
lange behält, bis man einen neuen erworben hat. Diese Auslegung wird
wenigstens in der Praxis dem Artikel 12 des für die Frage des Unterstützungs¬
wohnsitzes noch geltenden Gesetzes vom 24. vsuäemmirö II (15. Oktober 1793)
gegeben. Nach diesem Gesetze, das nur in wenigen Bestimmungen praktisch
geworden ist, muß man ebenso wie im deutschen Rechte zwischen der selbständigen
und abgeleiteten Erwerbung eines Unterstützungswohnsitzes unterscheiden.
Zur selbständigen Erwerbung gehört Großjährigkeit und einjähriger Aufenthalt,
doch genügt es, wenn der Aufenthalt während der Minderjährigkeit begonnen
hat und während der Großjährigkeit vollendet ist, wenn er nur noch wenigstens
sechs Monate uach erreichter Großjährigkeit gedauert hat. Die abgeleitete
Erwerbung vollzieht sich durch Berehelichnng und Geburt. Als Geburtsort
gilt der thatsächliche Aufenthaltsort der Mutter zur Zeit der Geburt. Niemand
kann zu gleicher Zeit in zwei Gemeinden das Recht des Unterstütznngswohn-
sitzes ausüben. Hieraus ergiebt sich die einzige Möglichkeit des Verlustes.
Der frühere Unterstützungswohnsitz geht durch die Erwerbung eines neuen ver¬
loren, und so lange der neue nicht erworben ist, bleibt der frühere bestehen.

Die Sicherheit, die sich für den Einzelnen auf der einen Seite, und die
Belastung, die sich für die Gemeinden auf der andern Seite aus diesem Rechts-
zustande ergeben könnte, wird durch die Wesenlosigkeit des Rechtsanspruches
gemindert, der mit dem Unterstützungswohnsitz verknüpft ist. Ein von dem
Armen oder von der Aufsichtsbehörde auszuübender Zwang zur Gemährung
einer Unterstützung ist nämlich abgesehen von einigen ganz wenigen Fällen der
Gemeinde gegenüber nicht zulässig. Fast die gesamte Armenpflege ist auf
Freiwilligkeit der Leistung begründet. Verstehen läßt sich dies nur, wenn man
einen kurzen Rückblick aus die Entstehungsgeschichte dieser Armengesetzgebung
wirft, die sich mit der Entwicklung des französischen Armenwesens vollständig deckt.


Grenzboten IV 1890 64
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[0513] Das öffentliche Unterstützungswesen in Elsaß-Lothringen erlangen. Er mag mithin sein ganzes Leben in einer bestimmten Gemeinde des Neichslandes verbracht haben, so wird dieser Gemeinde doch stets der § 5 des Freizügigkeitsgesetzes zur Seite stehen, auf Grund dessen sie die Fort¬ setzung des Aufenthaltes versagen kann, wenn sich nach dem Anzüge die Not¬ wendigkeit einer öffentlichen Unterstützung ergiebt, ehe der Neuanziehende an dem Aufenthaltsorte einen Unterstützungswohnsitz erworben hat. Hieraus er¬ giebt sich dann, dn man keiner andern Gemeinde die Aufnahme des Unter¬ stützungsbedürftigen zumuten kann, die Notwendigkeit seiner Wegweisung aus dem ganzen reichsländischen Gebiete und auf Grund des Gothaer Vertrages die Verpflichtung des Heimatstaates zur Übernahme des Armen, der nunmehr seinen Unterstützungswohnsitz in der Heimat längst verloren hat und der Land¬ armenpflege zur Last füllt. Umgekehrt würde ein Elsaß-Lothringer, der unter gleiche» Verhältnissen aus einem andern Bundesstaate weggewiesen würde, im Reichslande stets nach seinem letzten Unterstützungswohnsitze zurückkehren können. Es wird nämlich angenommen, daß mau seinen Unterstützungswohnsitz so lange behält, bis man einen neuen erworben hat. Diese Auslegung wird wenigstens in der Praxis dem Artikel 12 des für die Frage des Unterstützungs¬ wohnsitzes noch geltenden Gesetzes vom 24. vsuäemmirö II (15. Oktober 1793) gegeben. Nach diesem Gesetze, das nur in wenigen Bestimmungen praktisch geworden ist, muß man ebenso wie im deutschen Rechte zwischen der selbständigen und abgeleiteten Erwerbung eines Unterstützungswohnsitzes unterscheiden. Zur selbständigen Erwerbung gehört Großjährigkeit und einjähriger Aufenthalt, doch genügt es, wenn der Aufenthalt während der Minderjährigkeit begonnen hat und während der Großjährigkeit vollendet ist, wenn er nur noch wenigstens sechs Monate uach erreichter Großjährigkeit gedauert hat. Die abgeleitete Erwerbung vollzieht sich durch Berehelichnng und Geburt. Als Geburtsort gilt der thatsächliche Aufenthaltsort der Mutter zur Zeit der Geburt. Niemand kann zu gleicher Zeit in zwei Gemeinden das Recht des Unterstütznngswohn- sitzes ausüben. Hieraus ergiebt sich die einzige Möglichkeit des Verlustes. Der frühere Unterstützungswohnsitz geht durch die Erwerbung eines neuen ver¬ loren, und so lange der neue nicht erworben ist, bleibt der frühere bestehen. Die Sicherheit, die sich für den Einzelnen auf der einen Seite, und die Belastung, die sich für die Gemeinden auf der andern Seite aus diesem Rechts- zustande ergeben könnte, wird durch die Wesenlosigkeit des Rechtsanspruches gemindert, der mit dem Unterstützungswohnsitz verknüpft ist. Ein von dem Armen oder von der Aufsichtsbehörde auszuübender Zwang zur Gemährung einer Unterstützung ist nämlich abgesehen von einigen ganz wenigen Fällen der Gemeinde gegenüber nicht zulässig. Fast die gesamte Armenpflege ist auf Freiwilligkeit der Leistung begründet. Verstehen läßt sich dies nur, wenn man einen kurzen Rückblick aus die Entstehungsgeschichte dieser Armengesetzgebung wirft, die sich mit der Entwicklung des französischen Armenwesens vollständig deckt. Grenzboten IV 1890 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/513>, abgerufen am 23.07.2024.