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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

Lohnfrage nur einer, nicht einmal der bedeutendste, gewöhnlich der cmstoß-,
keinesfalls der ausschlaggebende Faktor der ganzen sozialen Bewegung sei."
Ein frischer Zug sollte durch Verwaltung, durch Sitte und Mode gehen und
mit so manchem alten Zopf, der nicht länger zu brauchen ist, ähnlich wie es
im Militär mit gewissen überlieferten Eigentümlichkeiten des Gamaschendienstes
geschehen ist, gründlich aufräumen.

Gelingt es dem Staate, sich durch Reformen der sozialen Bewegung
zu bemeistern, so sieht sich die agitatorische Sozialdemokratie vor die Wahl
gestellt, entweder geduldig zu werden und auf langsames Reifen der Früchte
zu warten, die Ernte also na va.Jlück38 grasoas zu verschieben, oder aber
ungeduldig zu werden und nutzlose Auslehnungs- und Putschversuche zu
machen, die die jetzige Parteileitung verurteilt ("jeder Dummkopf kann eine
Bombe werfen"), weil sie bald niedergeschmettert und nur dem Geguer von
Vorteil sein würden; das Abwarten aber dürfte die "Versumpfung" der
sozialen Frage, d. h. eine Besserung der durch die industrielle Entwicklung
der Neuzeit heraufbeschworenen Übelstände im Rahmen der bestehenden Gesell¬
schaftsordnung, wider Willen und trotz alles Sträubens der AufHetzer, herbei¬
führen. Die Partei hat gewiß nicht die Absicht, ihre Grundsätze aufzugeben,
und Liebknecht hat die von Brentano im "Deutschen Wochenblatt" kürzlich
ausgesprochene Ansicht entrüstet zurückgewiesen, daß die sozialdemokratische
Partei anfange, aus einer revolutionären eine Reformpartei zu werden, aber
die Verhältnisse sind manchmal mächtiger, als der Wille selbst der Sozial¬
demokratie. "Der Arbeiter hat nur einen wahren Verbündeten, und das ist
der Staat, nicht der Staat der Zukunft, fondern der gegenwärtige, dem schon
das Interesse der Selbsterhaltung gebietet, auf die Versöhnung der schroffen
sozialen Gegensätze hinzuwirken. Was er dem Arbeiter geben kann, das wird
er ihm auch geben, es ist vielleicht wenig, aber immerhin mehr als ein --
Schlagwort" (Munding, Die Lügen des sozialistischen Evangeliums).

Wir beabsichtigen nicht hier die zahlreichen Broschüren, die nach dem
1. Oktober ins Land gegangen sind, vorzuführen, ebenso wenig die Ansätze
neuer Vereiusbildungen zu verfolgen, die die Sozialdemokratie bekämpfen wollen;
eine gesteigerte Regsamkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist nach allen
Seiten zu bemerke", hoffentlich ein guter Anfang. Die Vereine können ent¬
weder kleinere Verbände sein, die sich ein bestimmtes, engbegrenztes Ziel im
gemeinsamen Kampfe stecken, oder große Vereinigungen, die auf breiter Grund¬
lage eine möglichst hohe Mirglicderzahl zu gewinnen suchen; Vereine beider
Arten sind begründet worden oder sind in der Bildung begriffen. Die Sozial-
demokrntie führt ewig die Phrase im Munde von dem in allen Fugen krachenden
Bau der modernen Gesellschaft, die ihrem unaufhaltsamen Zusammenbruch
entgegengehe und in einer reißend schnellen Zersetzung begriffen sei; es ent¬
spricht ihren Zwecken, diese Redensart als bare Münze einzuschmuggeln, und


Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

Lohnfrage nur einer, nicht einmal der bedeutendste, gewöhnlich der cmstoß-,
keinesfalls der ausschlaggebende Faktor der ganzen sozialen Bewegung sei."
Ein frischer Zug sollte durch Verwaltung, durch Sitte und Mode gehen und
mit so manchem alten Zopf, der nicht länger zu brauchen ist, ähnlich wie es
im Militär mit gewissen überlieferten Eigentümlichkeiten des Gamaschendienstes
geschehen ist, gründlich aufräumen.

Gelingt es dem Staate, sich durch Reformen der sozialen Bewegung
zu bemeistern, so sieht sich die agitatorische Sozialdemokratie vor die Wahl
gestellt, entweder geduldig zu werden und auf langsames Reifen der Früchte
zu warten, die Ernte also na va.Jlück38 grasoas zu verschieben, oder aber
ungeduldig zu werden und nutzlose Auslehnungs- und Putschversuche zu
machen, die die jetzige Parteileitung verurteilt („jeder Dummkopf kann eine
Bombe werfen"), weil sie bald niedergeschmettert und nur dem Geguer von
Vorteil sein würden; das Abwarten aber dürfte die „Versumpfung" der
sozialen Frage, d. h. eine Besserung der durch die industrielle Entwicklung
der Neuzeit heraufbeschworenen Übelstände im Rahmen der bestehenden Gesell¬
schaftsordnung, wider Willen und trotz alles Sträubens der AufHetzer, herbei¬
führen. Die Partei hat gewiß nicht die Absicht, ihre Grundsätze aufzugeben,
und Liebknecht hat die von Brentano im „Deutschen Wochenblatt" kürzlich
ausgesprochene Ansicht entrüstet zurückgewiesen, daß die sozialdemokratische
Partei anfange, aus einer revolutionären eine Reformpartei zu werden, aber
die Verhältnisse sind manchmal mächtiger, als der Wille selbst der Sozial¬
demokratie. „Der Arbeiter hat nur einen wahren Verbündeten, und das ist
der Staat, nicht der Staat der Zukunft, fondern der gegenwärtige, dem schon
das Interesse der Selbsterhaltung gebietet, auf die Versöhnung der schroffen
sozialen Gegensätze hinzuwirken. Was er dem Arbeiter geben kann, das wird
er ihm auch geben, es ist vielleicht wenig, aber immerhin mehr als ein —
Schlagwort" (Munding, Die Lügen des sozialistischen Evangeliums).

Wir beabsichtigen nicht hier die zahlreichen Broschüren, die nach dem
1. Oktober ins Land gegangen sind, vorzuführen, ebenso wenig die Ansätze
neuer Vereiusbildungen zu verfolgen, die die Sozialdemokratie bekämpfen wollen;
eine gesteigerte Regsamkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist nach allen
Seiten zu bemerke», hoffentlich ein guter Anfang. Die Vereine können ent¬
weder kleinere Verbände sein, die sich ein bestimmtes, engbegrenztes Ziel im
gemeinsamen Kampfe stecken, oder große Vereinigungen, die auf breiter Grund¬
lage eine möglichst hohe Mirglicderzahl zu gewinnen suchen; Vereine beider
Arten sind begründet worden oder sind in der Bildung begriffen. Die Sozial-
demokrntie führt ewig die Phrase im Munde von dem in allen Fugen krachenden
Bau der modernen Gesellschaft, die ihrem unaufhaltsamen Zusammenbruch
entgegengehe und in einer reißend schnellen Zersetzung begriffen sei; es ent¬
spricht ihren Zwecken, diese Redensart als bare Münze einzuschmuggeln, und


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[0508] Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie Lohnfrage nur einer, nicht einmal der bedeutendste, gewöhnlich der cmstoß-, keinesfalls der ausschlaggebende Faktor der ganzen sozialen Bewegung sei." Ein frischer Zug sollte durch Verwaltung, durch Sitte und Mode gehen und mit so manchem alten Zopf, der nicht länger zu brauchen ist, ähnlich wie es im Militär mit gewissen überlieferten Eigentümlichkeiten des Gamaschendienstes geschehen ist, gründlich aufräumen. Gelingt es dem Staate, sich durch Reformen der sozialen Bewegung zu bemeistern, so sieht sich die agitatorische Sozialdemokratie vor die Wahl gestellt, entweder geduldig zu werden und auf langsames Reifen der Früchte zu warten, die Ernte also na va.Jlück38 grasoas zu verschieben, oder aber ungeduldig zu werden und nutzlose Auslehnungs- und Putschversuche zu machen, die die jetzige Parteileitung verurteilt („jeder Dummkopf kann eine Bombe werfen"), weil sie bald niedergeschmettert und nur dem Geguer von Vorteil sein würden; das Abwarten aber dürfte die „Versumpfung" der sozialen Frage, d. h. eine Besserung der durch die industrielle Entwicklung der Neuzeit heraufbeschworenen Übelstände im Rahmen der bestehenden Gesell¬ schaftsordnung, wider Willen und trotz alles Sträubens der AufHetzer, herbei¬ führen. Die Partei hat gewiß nicht die Absicht, ihre Grundsätze aufzugeben, und Liebknecht hat die von Brentano im „Deutschen Wochenblatt" kürzlich ausgesprochene Ansicht entrüstet zurückgewiesen, daß die sozialdemokratische Partei anfange, aus einer revolutionären eine Reformpartei zu werden, aber die Verhältnisse sind manchmal mächtiger, als der Wille selbst der Sozial¬ demokratie. „Der Arbeiter hat nur einen wahren Verbündeten, und das ist der Staat, nicht der Staat der Zukunft, fondern der gegenwärtige, dem schon das Interesse der Selbsterhaltung gebietet, auf die Versöhnung der schroffen sozialen Gegensätze hinzuwirken. Was er dem Arbeiter geben kann, das wird er ihm auch geben, es ist vielleicht wenig, aber immerhin mehr als ein — Schlagwort" (Munding, Die Lügen des sozialistischen Evangeliums). Wir beabsichtigen nicht hier die zahlreichen Broschüren, die nach dem 1. Oktober ins Land gegangen sind, vorzuführen, ebenso wenig die Ansätze neuer Vereiusbildungen zu verfolgen, die die Sozialdemokratie bekämpfen wollen; eine gesteigerte Regsamkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist nach allen Seiten zu bemerke», hoffentlich ein guter Anfang. Die Vereine können ent¬ weder kleinere Verbände sein, die sich ein bestimmtes, engbegrenztes Ziel im gemeinsamen Kampfe stecken, oder große Vereinigungen, die auf breiter Grund¬ lage eine möglichst hohe Mirglicderzahl zu gewinnen suchen; Vereine beider Arten sind begründet worden oder sind in der Bildung begriffen. Die Sozial- demokrntie führt ewig die Phrase im Munde von dem in allen Fugen krachenden Bau der modernen Gesellschaft, die ihrem unaufhaltsamen Zusammenbruch entgegengehe und in einer reißend schnellen Zersetzung begriffen sei; es ent¬ spricht ihren Zwecken, diese Redensart als bare Münze einzuschmuggeln, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/508>, abgerufen am 24.06.2024.