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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Kunstausstellungen in München und Dresden

freilich nicht außer Acht zu lassen ist, das; die belgische Kunst immer ein Doppel¬
gesicht haben wird, das der wesentlichen Zusammensetzung des Volkes aus
Wallonen und Vlamen entspricht. Bald steigt das eine Element an die Ober¬
fläche, bald das andre, je nachdem der französische oder der germanische Ein¬
fluß überwiegt. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieses Mischvolk aber doch
eine nationale Eigenart gewonnen, die gelegentlich auch in seiner Kunst zu
Tage tritt. Diese Eigenart zeigen nicht die nach französischem Muster ge¬
malten Insassen eines Altfrauenhauses von Leo van Aker, die Scheldefischer
am Abend von Albert Baertsven und die vespernden Arbeiter im Wirtshause
von Henry Lnyten, wohl aber das merkwürdige dreiteilige Bild von Edmund
van Hope, das ganz in der kühlen, scharf und bestimmt mvdellirenden Art
von Roger van der Westen und Memling gemalt ist und in drei abgesonderten
Szenen die geistigen Kräfte des Mönchtums im Dienste mittelalterlichen Aber¬
witzes, der Alchimie, der Hexenprobe und der Scholastik, darstellt, und ganz
besonders die plastischen Arbeiten der Belgier. Man möchte sagen, daß in
ihnen das heiße Blut und der stolze Mut der Wallonen mit der germanischen
Bedächtigkeit und Gediegenheit in der Einzelausführung eine Paarung ein¬
gegangen sei, die einen guten Klang giebt. Ganz aus sich heraus ist diese
belgische Plastik natürlich nicht erwachsen. Aber sie hat doch auch keine auf¬
fälligen Züge von dem modernen Franzosentum eingenommen. Des Brüsselers
Vanderstappen David und sein triumphirender Erzengel Michael mit Schwert
und Siegesfahne, der im Ehrenhof des Brüsseler Rathauses in Bronzeguß
aufgestellt ist, haben nichts von dem bramarbasirenden Vühncnpathos der
Franzosen und schließen sich in der strengen, knappen Formengebung an die
Florentiner des fünfzehnten Jahrhunderts an. Auch in dem Gipsmodell zu
der kolossalen Brvuzegrnppe der beiden vlämischen Volkshelden Breitet und
Peter Koning von Paul Devigne, die als Denkmal der Erinnerung an die
Sporenschlacht (t^02) auf dem großen Platze zu Brügge errichtet worden ist,
ist der heroische Accent nur so stark, als er sich mit der vornehmen Ruhe und
der stolzen Würde des monumentalen Stils verträgt. In andern Erzengnissen
der belgischen Plastik waltet ein frischer, kecker Realismus vor, der nach höchster
Lebendigkeit strebt, ohne daß wir dabei ein gleiches Maß von Häßlichkeit mit
in den Kauf nehmen müssen. Beispiele dafür sind die Bronzegruppe: Der
Kuß von Lambeaux, ein Jüngling, der eben ein vor ihm flüchtendes Mädchen
erreicht hat und ihm einen Kuß raubt, zwei nackte Figuren von solcher Naivität
der Auffassung und Keuschheit der Behandlung, daß man an die gesunde
Sinnlichkeit der Antike erinnert wird, und eine für ein Mädchenwaiscnhans
bestimmte, in ein Giebeldreieck hineinkompvnirte Gruppe von Julien Dillens,
die den Empfang der Kinder durch die Vorsteherinnen der wohlthätigen An¬
stalt darstellt. Hier kommen freilich bereits die lebendige Naturwahrheit der
einzelnen Figuren, die moderne Tracht und die genrehaften Motive in Konflikt


Die Kunstausstellungen in München und Dresden

freilich nicht außer Acht zu lassen ist, das; die belgische Kunst immer ein Doppel¬
gesicht haben wird, das der wesentlichen Zusammensetzung des Volkes aus
Wallonen und Vlamen entspricht. Bald steigt das eine Element an die Ober¬
fläche, bald das andre, je nachdem der französische oder der germanische Ein¬
fluß überwiegt. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieses Mischvolk aber doch
eine nationale Eigenart gewonnen, die gelegentlich auch in seiner Kunst zu
Tage tritt. Diese Eigenart zeigen nicht die nach französischem Muster ge¬
malten Insassen eines Altfrauenhauses von Leo van Aker, die Scheldefischer
am Abend von Albert Baertsven und die vespernden Arbeiter im Wirtshause
von Henry Lnyten, wohl aber das merkwürdige dreiteilige Bild von Edmund
van Hope, das ganz in der kühlen, scharf und bestimmt mvdellirenden Art
von Roger van der Westen und Memling gemalt ist und in drei abgesonderten
Szenen die geistigen Kräfte des Mönchtums im Dienste mittelalterlichen Aber¬
witzes, der Alchimie, der Hexenprobe und der Scholastik, darstellt, und ganz
besonders die plastischen Arbeiten der Belgier. Man möchte sagen, daß in
ihnen das heiße Blut und der stolze Mut der Wallonen mit der germanischen
Bedächtigkeit und Gediegenheit in der Einzelausführung eine Paarung ein¬
gegangen sei, die einen guten Klang giebt. Ganz aus sich heraus ist diese
belgische Plastik natürlich nicht erwachsen. Aber sie hat doch auch keine auf¬
fälligen Züge von dem modernen Franzosentum eingenommen. Des Brüsselers
Vanderstappen David und sein triumphirender Erzengel Michael mit Schwert
und Siegesfahne, der im Ehrenhof des Brüsseler Rathauses in Bronzeguß
aufgestellt ist, haben nichts von dem bramarbasirenden Vühncnpathos der
Franzosen und schließen sich in der strengen, knappen Formengebung an die
Florentiner des fünfzehnten Jahrhunderts an. Auch in dem Gipsmodell zu
der kolossalen Brvuzegrnppe der beiden vlämischen Volkshelden Breitet und
Peter Koning von Paul Devigne, die als Denkmal der Erinnerung an die
Sporenschlacht (t^02) auf dem großen Platze zu Brügge errichtet worden ist,
ist der heroische Accent nur so stark, als er sich mit der vornehmen Ruhe und
der stolzen Würde des monumentalen Stils verträgt. In andern Erzengnissen
der belgischen Plastik waltet ein frischer, kecker Realismus vor, der nach höchster
Lebendigkeit strebt, ohne daß wir dabei ein gleiches Maß von Häßlichkeit mit
in den Kauf nehmen müssen. Beispiele dafür sind die Bronzegruppe: Der
Kuß von Lambeaux, ein Jüngling, der eben ein vor ihm flüchtendes Mädchen
erreicht hat und ihm einen Kuß raubt, zwei nackte Figuren von solcher Naivität
der Auffassung und Keuschheit der Behandlung, daß man an die gesunde
Sinnlichkeit der Antike erinnert wird, und eine für ein Mädchenwaiscnhans
bestimmte, in ein Giebeldreieck hineinkompvnirte Gruppe von Julien Dillens,
die den Empfang der Kinder durch die Vorsteherinnen der wohlthätigen An¬
stalt darstellt. Hier kommen freilich bereits die lebendige Naturwahrheit der
einzelnen Figuren, die moderne Tracht und die genrehaften Motive in Konflikt


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[0378] Die Kunstausstellungen in München und Dresden freilich nicht außer Acht zu lassen ist, das; die belgische Kunst immer ein Doppel¬ gesicht haben wird, das der wesentlichen Zusammensetzung des Volkes aus Wallonen und Vlamen entspricht. Bald steigt das eine Element an die Ober¬ fläche, bald das andre, je nachdem der französische oder der germanische Ein¬ fluß überwiegt. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieses Mischvolk aber doch eine nationale Eigenart gewonnen, die gelegentlich auch in seiner Kunst zu Tage tritt. Diese Eigenart zeigen nicht die nach französischem Muster ge¬ malten Insassen eines Altfrauenhauses von Leo van Aker, die Scheldefischer am Abend von Albert Baertsven und die vespernden Arbeiter im Wirtshause von Henry Lnyten, wohl aber das merkwürdige dreiteilige Bild von Edmund van Hope, das ganz in der kühlen, scharf und bestimmt mvdellirenden Art von Roger van der Westen und Memling gemalt ist und in drei abgesonderten Szenen die geistigen Kräfte des Mönchtums im Dienste mittelalterlichen Aber¬ witzes, der Alchimie, der Hexenprobe und der Scholastik, darstellt, und ganz besonders die plastischen Arbeiten der Belgier. Man möchte sagen, daß in ihnen das heiße Blut und der stolze Mut der Wallonen mit der germanischen Bedächtigkeit und Gediegenheit in der Einzelausführung eine Paarung ein¬ gegangen sei, die einen guten Klang giebt. Ganz aus sich heraus ist diese belgische Plastik natürlich nicht erwachsen. Aber sie hat doch auch keine auf¬ fälligen Züge von dem modernen Franzosentum eingenommen. Des Brüsselers Vanderstappen David und sein triumphirender Erzengel Michael mit Schwert und Siegesfahne, der im Ehrenhof des Brüsseler Rathauses in Bronzeguß aufgestellt ist, haben nichts von dem bramarbasirenden Vühncnpathos der Franzosen und schließen sich in der strengen, knappen Formengebung an die Florentiner des fünfzehnten Jahrhunderts an. Auch in dem Gipsmodell zu der kolossalen Brvuzegrnppe der beiden vlämischen Volkshelden Breitet und Peter Koning von Paul Devigne, die als Denkmal der Erinnerung an die Sporenschlacht (t^02) auf dem großen Platze zu Brügge errichtet worden ist, ist der heroische Accent nur so stark, als er sich mit der vornehmen Ruhe und der stolzen Würde des monumentalen Stils verträgt. In andern Erzengnissen der belgischen Plastik waltet ein frischer, kecker Realismus vor, der nach höchster Lebendigkeit strebt, ohne daß wir dabei ein gleiches Maß von Häßlichkeit mit in den Kauf nehmen müssen. Beispiele dafür sind die Bronzegruppe: Der Kuß von Lambeaux, ein Jüngling, der eben ein vor ihm flüchtendes Mädchen erreicht hat und ihm einen Kuß raubt, zwei nackte Figuren von solcher Naivität der Auffassung und Keuschheit der Behandlung, daß man an die gesunde Sinnlichkeit der Antike erinnert wird, und eine für ein Mädchenwaiscnhans bestimmte, in ein Giebeldreieck hineinkompvnirte Gruppe von Julien Dillens, die den Empfang der Kinder durch die Vorsteherinnen der wohlthätigen An¬ stalt darstellt. Hier kommen freilich bereits die lebendige Naturwahrheit der einzelnen Figuren, die moderne Tracht und die genrehaften Motive in Konflikt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/378>, abgerufen am 23.07.2024.