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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache

von Eltern und Geschwistern lernen kann? Und da kommen wir eben zu
unsrer heutigen Gemeinsprache.

Ich will hier nicht über das Verhältnis des neuhochdeutschen zu den
mitteldeutschen Mundarten und zu der vielbesprochenen sächsischen Canzlei
reden -- das überlasse ich den Gelehrten. Aber eins muß ich hervorheben:
der Gebildete ist aus dem Kreise der Mundart hinausgetreten und hat dafür
eine Sprache eingetauscht, die zwar seiue Heimat in der Regel noch verrät,
deren Vorbild aber auf dem Papiere steht. Dieses Vorbild hat natürlich auch
das gesprochene Wort als Grundlage zur Voraussetzung, aber an der Ge¬
staltung im einzelnen ist bewußte Geistesthätigkeit, verstandesmäßige Betrach¬
tung und menschliche Willkür fortwährend thätig gewesen. Man denke an den
grammatische" und stilistischen Ausbau unsrer Schriftsprache im Laufe des
sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Nach unsern heutigen
Anschauungen über das Sprachleben könnte mau vielleicht sagen, die Erziehung
und Ausbildung unsrer Schriftsprache sei nach irrigen pädagogischen Grund¬
sätzen geleitet worden. Man arbeitete da mit Begriffen von Nichtigkeit und
Schönheit, die wir nicht immer anerkennen werden. Welche Mundart bietet das
beste, das richtigste Deutsch? Diese Frage z. B. ist uns heute fast unverständlich.
Und doch förderte gerade diese einseitige Auffassung die Einigung. Mit unsrer
"historischen" Weisheit würde man das Geleistete kaum zu stände gebracht haben.

Diese Sprache, die erst auf dem Papiere das geworden ist, was sie heute
ist, gilt -- wie gesagt -- für jeden Bildungsbedürftigen als das Vorbild selbst
seiner Haussprache -- von seiner "gewählten" Sprache gar nicht zu reden.
Das ursprüngliche Verhältnis hat sich also völlig umgekehrt zu gunsten des
geschriebenen Wortes. Man wird mir vielleicht einwenden, daß ich nicht ge¬
hörig zwischen geschriebener Sprache überhaupt und einer mehr oder weniger
verbildeten Schulsprache zu scheiden wisse. "Unsre großen Dichter und Schrift¬
steller -- sagt man -- haben gerade das große Verdienst, ihre natürliche,
selbwachsene Sprache zur Geltung gebracht und der Verknöcherung mit Be¬
wußtsein entgegengearbeitet zu haben. Ihr Deutsch -- nicht das der Schule --
ist uus höchstes Vorbild!" Das ist recht schön; aber bilden wir uns denn
wirklich ein, jene "natürliche, selbwachsene" Sprache habe gar nicht unter der
Zuchtrute der Schule gestanden? Auf die Sprache des jungen Goethe hat von
den ersten Lebensjahren an das geschriebene Wort eingewirkt, so gut wie ans
alle Kinder in gebildeten Kreisen; und wenn der himmelstnrmende Jüngling
dann den verhaßten Negelzwang durchbrach, so hob er damit doch die Grund¬
lagen seiner Sprache nicht auf, und an diesen hatte das geschriebene Vorbild
seinen unleugbaren Anteil. So stehen auch unsre sprachgewaltigsten Geister
keineswegs außerhalb des Bannes schriftlicher Überlieferung.

Worauf alle meine bisherigen Ausführungen hinanslcinfen, wird der Leser
längst erkannt haben: die eigentliche Lebenskraft jeder Sprache beruht zu allen


Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache

von Eltern und Geschwistern lernen kann? Und da kommen wir eben zu
unsrer heutigen Gemeinsprache.

Ich will hier nicht über das Verhältnis des neuhochdeutschen zu den
mitteldeutschen Mundarten und zu der vielbesprochenen sächsischen Canzlei
reden — das überlasse ich den Gelehrten. Aber eins muß ich hervorheben:
der Gebildete ist aus dem Kreise der Mundart hinausgetreten und hat dafür
eine Sprache eingetauscht, die zwar seiue Heimat in der Regel noch verrät,
deren Vorbild aber auf dem Papiere steht. Dieses Vorbild hat natürlich auch
das gesprochene Wort als Grundlage zur Voraussetzung, aber an der Ge¬
staltung im einzelnen ist bewußte Geistesthätigkeit, verstandesmäßige Betrach¬
tung und menschliche Willkür fortwährend thätig gewesen. Man denke an den
grammatische» und stilistischen Ausbau unsrer Schriftsprache im Laufe des
sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Nach unsern heutigen
Anschauungen über das Sprachleben könnte mau vielleicht sagen, die Erziehung
und Ausbildung unsrer Schriftsprache sei nach irrigen pädagogischen Grund¬
sätzen geleitet worden. Man arbeitete da mit Begriffen von Nichtigkeit und
Schönheit, die wir nicht immer anerkennen werden. Welche Mundart bietet das
beste, das richtigste Deutsch? Diese Frage z. B. ist uns heute fast unverständlich.
Und doch förderte gerade diese einseitige Auffassung die Einigung. Mit unsrer
„historischen" Weisheit würde man das Geleistete kaum zu stände gebracht haben.

Diese Sprache, die erst auf dem Papiere das geworden ist, was sie heute
ist, gilt — wie gesagt — für jeden Bildungsbedürftigen als das Vorbild selbst
seiner Haussprache — von seiner „gewählten" Sprache gar nicht zu reden.
Das ursprüngliche Verhältnis hat sich also völlig umgekehrt zu gunsten des
geschriebenen Wortes. Man wird mir vielleicht einwenden, daß ich nicht ge¬
hörig zwischen geschriebener Sprache überhaupt und einer mehr oder weniger
verbildeten Schulsprache zu scheiden wisse. „Unsre großen Dichter und Schrift¬
steller — sagt man — haben gerade das große Verdienst, ihre natürliche,
selbwachsene Sprache zur Geltung gebracht und der Verknöcherung mit Be¬
wußtsein entgegengearbeitet zu haben. Ihr Deutsch — nicht das der Schule —
ist uus höchstes Vorbild!" Das ist recht schön; aber bilden wir uns denn
wirklich ein, jene „natürliche, selbwachsene" Sprache habe gar nicht unter der
Zuchtrute der Schule gestanden? Auf die Sprache des jungen Goethe hat von
den ersten Lebensjahren an das geschriebene Wort eingewirkt, so gut wie ans
alle Kinder in gebildeten Kreisen; und wenn der himmelstnrmende Jüngling
dann den verhaßten Negelzwang durchbrach, so hob er damit doch die Grund¬
lagen seiner Sprache nicht auf, und an diesen hatte das geschriebene Vorbild
seinen unleugbaren Anteil. So stehen auch unsre sprachgewaltigsten Geister
keineswegs außerhalb des Bannes schriftlicher Überlieferung.

Worauf alle meine bisherigen Ausführungen hinanslcinfen, wird der Leser
längst erkannt haben: die eigentliche Lebenskraft jeder Sprache beruht zu allen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/370>, abgerufen am 23.07.2024.