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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache

auf dem Papier entstandenen Veränderungen der gesprochenen Sprache rück¬
wärts auf die Umgestaltung dieser eingewirkt? Und hier müssen wir -- meine
ich -- bis in unsre Zeit herein eine stete Zunahme der Macht der Schrift
erkennen. Diese Zunahme ist aufs engste verknüpft mit dem Wachsen unsrer
gesamten Bildung, aber sie ist zugleich der Grund, weshalb wir uns selbst und
andern zurufen müssen: "Hütet eure Muttersprache!"

In den ersten Jahrhunderten unsrer Sprachgeschichte ist der unmittelbare
Einfluß der Schrift auf die Sprache der großen Menge -- diese, nicht der
Einzelne "macht" die Sprache -- nicht allzu hoch anzuschlagen. Wir dürfen
nicht vergessen, daß die Kunst des Schreibens und Lesens nicht gleich Gemein¬
besitz war. Auch das Niedergeschriebene sollte nicht etwa von tausend einzelnen
Menschen gelesen, es sollte vorgelesen und so -- wie alles andre -- durch
das Ohr der Masse übermittelt werden. So wurde das Geschriebene wieder
lebende Sprache, und etwaige Abweichungen, zu denen der Gebrauch der Feder
den Schreiber verleitet haben mochte, verbesserten sich meistens von selbst im
Strome der lebendigen Rede. Doch so ganz ohne Bedeutung für die große
Menge ist auch auf dieser Stufe die Schrift nicht. Sie hält einen augenblick¬
lichen Sprachzustand fest, indem sie dem einmal gesprochenen Worte Dauer
verleiht. Es kann tausendmal in derselben Form wiederholt werden, ohne
daß sein Urheber in der Nähe weilt; es kann weit über die Grenzen der
natürlichen Sprachgemeinschaft, in der es entstand, hinausgetragen und mündlich
verbreitet werden und so ans den weitesten Zuhörerkreis eine unberechenbare
Wirkung ausüben. Und umso nachhaltiger muß diese Wirkung sein, je mehr
Sprachgnt auf diesem Wege mitgeteilt wird, und je größere Bedeutung das
Gebotene für das Leben der Hörenden gewinnt.

Das find die Anfänge der Macht der Schrift. Den weitern Verlauf will
ich kurz andeuten. So lange der Schreibende sich damit begnügt, das Gehörte
aufzuzeichnen, damit es noch einmal weiter gehört werden kann, so lange diese
Wiederholung Sache des berufsmäßigen Vorlesers ist, behält das gesprochene
Wort das ihm gebührende Übergewicht. Schlimmer wird es, wenn jeder
Einzelne nicht mehr das Ohr zur Aufnahme des Geschriebenen nötig hat,
sondern dank guter Schulbildung diese Aufgabe dem Auge übertragen kann,
noch schlimmer, wenn der Schreiber seine Rede erst auf dem Papier beginnt
und sie in die Welt hinaussendet, ohne sie selbst vorher gehört zu haben. So
steht es heute.

Als die deutsche Dichtung im Mittelalter ihre erste Blüte erlebte, da
war die Schrift schon unentbehrlich für sie geworden, aber sie war zunächst
nichts andres als eine untergeordnete Dienerin. Die ritterlichen Sänger standen
ihr vornehm gegenüber; Dichten und Singen war eine edle Kunst, Schreiben
und Lesen ein gelehrtes Handwerk, dessen Erlernung ein Dichter wie Wolfram
von Eschenbach verschmähen durfte; es gab ja untergeordnete Geister, die das


Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache

auf dem Papier entstandenen Veränderungen der gesprochenen Sprache rück¬
wärts auf die Umgestaltung dieser eingewirkt? Und hier müssen wir — meine
ich — bis in unsre Zeit herein eine stete Zunahme der Macht der Schrift
erkennen. Diese Zunahme ist aufs engste verknüpft mit dem Wachsen unsrer
gesamten Bildung, aber sie ist zugleich der Grund, weshalb wir uns selbst und
andern zurufen müssen: „Hütet eure Muttersprache!"

In den ersten Jahrhunderten unsrer Sprachgeschichte ist der unmittelbare
Einfluß der Schrift auf die Sprache der großen Menge — diese, nicht der
Einzelne „macht" die Sprache — nicht allzu hoch anzuschlagen. Wir dürfen
nicht vergessen, daß die Kunst des Schreibens und Lesens nicht gleich Gemein¬
besitz war. Auch das Niedergeschriebene sollte nicht etwa von tausend einzelnen
Menschen gelesen, es sollte vorgelesen und so — wie alles andre — durch
das Ohr der Masse übermittelt werden. So wurde das Geschriebene wieder
lebende Sprache, und etwaige Abweichungen, zu denen der Gebrauch der Feder
den Schreiber verleitet haben mochte, verbesserten sich meistens von selbst im
Strome der lebendigen Rede. Doch so ganz ohne Bedeutung für die große
Menge ist auch auf dieser Stufe die Schrift nicht. Sie hält einen augenblick¬
lichen Sprachzustand fest, indem sie dem einmal gesprochenen Worte Dauer
verleiht. Es kann tausendmal in derselben Form wiederholt werden, ohne
daß sein Urheber in der Nähe weilt; es kann weit über die Grenzen der
natürlichen Sprachgemeinschaft, in der es entstand, hinausgetragen und mündlich
verbreitet werden und so ans den weitesten Zuhörerkreis eine unberechenbare
Wirkung ausüben. Und umso nachhaltiger muß diese Wirkung sein, je mehr
Sprachgnt auf diesem Wege mitgeteilt wird, und je größere Bedeutung das
Gebotene für das Leben der Hörenden gewinnt.

Das find die Anfänge der Macht der Schrift. Den weitern Verlauf will
ich kurz andeuten. So lange der Schreibende sich damit begnügt, das Gehörte
aufzuzeichnen, damit es noch einmal weiter gehört werden kann, so lange diese
Wiederholung Sache des berufsmäßigen Vorlesers ist, behält das gesprochene
Wort das ihm gebührende Übergewicht. Schlimmer wird es, wenn jeder
Einzelne nicht mehr das Ohr zur Aufnahme des Geschriebenen nötig hat,
sondern dank guter Schulbildung diese Aufgabe dem Auge übertragen kann,
noch schlimmer, wenn der Schreiber seine Rede erst auf dem Papier beginnt
und sie in die Welt hinaussendet, ohne sie selbst vorher gehört zu haben. So
steht es heute.

Als die deutsche Dichtung im Mittelalter ihre erste Blüte erlebte, da
war die Schrift schon unentbehrlich für sie geworden, aber sie war zunächst
nichts andres als eine untergeordnete Dienerin. Die ritterlichen Sänger standen
ihr vornehm gegenüber; Dichten und Singen war eine edle Kunst, Schreiben
und Lesen ein gelehrtes Handwerk, dessen Erlernung ein Dichter wie Wolfram
von Eschenbach verschmähen durfte; es gab ja untergeordnete Geister, die das


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[0368] Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache auf dem Papier entstandenen Veränderungen der gesprochenen Sprache rück¬ wärts auf die Umgestaltung dieser eingewirkt? Und hier müssen wir — meine ich — bis in unsre Zeit herein eine stete Zunahme der Macht der Schrift erkennen. Diese Zunahme ist aufs engste verknüpft mit dem Wachsen unsrer gesamten Bildung, aber sie ist zugleich der Grund, weshalb wir uns selbst und andern zurufen müssen: „Hütet eure Muttersprache!" In den ersten Jahrhunderten unsrer Sprachgeschichte ist der unmittelbare Einfluß der Schrift auf die Sprache der großen Menge — diese, nicht der Einzelne „macht" die Sprache — nicht allzu hoch anzuschlagen. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Kunst des Schreibens und Lesens nicht gleich Gemein¬ besitz war. Auch das Niedergeschriebene sollte nicht etwa von tausend einzelnen Menschen gelesen, es sollte vorgelesen und so — wie alles andre — durch das Ohr der Masse übermittelt werden. So wurde das Geschriebene wieder lebende Sprache, und etwaige Abweichungen, zu denen der Gebrauch der Feder den Schreiber verleitet haben mochte, verbesserten sich meistens von selbst im Strome der lebendigen Rede. Doch so ganz ohne Bedeutung für die große Menge ist auch auf dieser Stufe die Schrift nicht. Sie hält einen augenblick¬ lichen Sprachzustand fest, indem sie dem einmal gesprochenen Worte Dauer verleiht. Es kann tausendmal in derselben Form wiederholt werden, ohne daß sein Urheber in der Nähe weilt; es kann weit über die Grenzen der natürlichen Sprachgemeinschaft, in der es entstand, hinausgetragen und mündlich verbreitet werden und so ans den weitesten Zuhörerkreis eine unberechenbare Wirkung ausüben. Und umso nachhaltiger muß diese Wirkung sein, je mehr Sprachgnt auf diesem Wege mitgeteilt wird, und je größere Bedeutung das Gebotene für das Leben der Hörenden gewinnt. Das find die Anfänge der Macht der Schrift. Den weitern Verlauf will ich kurz andeuten. So lange der Schreibende sich damit begnügt, das Gehörte aufzuzeichnen, damit es noch einmal weiter gehört werden kann, so lange diese Wiederholung Sache des berufsmäßigen Vorlesers ist, behält das gesprochene Wort das ihm gebührende Übergewicht. Schlimmer wird es, wenn jeder Einzelne nicht mehr das Ohr zur Aufnahme des Geschriebenen nötig hat, sondern dank guter Schulbildung diese Aufgabe dem Auge übertragen kann, noch schlimmer, wenn der Schreiber seine Rede erst auf dem Papier beginnt und sie in die Welt hinaussendet, ohne sie selbst vorher gehört zu haben. So steht es heute. Als die deutsche Dichtung im Mittelalter ihre erste Blüte erlebte, da war die Schrift schon unentbehrlich für sie geworden, aber sie war zunächst nichts andres als eine untergeordnete Dienerin. Die ritterlichen Sänger standen ihr vornehm gegenüber; Dichten und Singen war eine edle Kunst, Schreiben und Lesen ein gelehrtes Handwerk, dessen Erlernung ein Dichter wie Wolfram von Eschenbach verschmähen durfte; es gab ja untergeordnete Geister, die das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/368>, abgerufen am 01.07.2024.