Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache

die Zusammengehörigkeit der getrennten und auseincinderstrebenden Glieder
eines großen Ganzen hin, sie weckt das Bewußtsein gemeinsamen Besitzes und
lehrt gemeinsame Aufgaben neben den Sonderbestrebungen erkennen und wür¬
digen. Die Bildungssprache sucht zu verbinden, zu einigen, wo die natürliche
Entwicklung trennte.

Unsre heutige Gemeinsprache ist also kein einfaches Naturkind geblieben,
und sie teilt dieses Schicksal mit allen andern Kultursprachen. Die Geschichte
unsrer Sprache füllt mit der Entwicklung unsers gesamten geistigen Lebens zu¬
sammen. Ich brauche hier nicht auszuführen, wie viel unsre deutsche Bildung
dem Auslande verdankt. Die Sprache hat diese "Erziehung" unsers Volkes
mit erlebt, nicht ohne Schaden für ihre ursprüngliche Eigenart. Aber nicht zu
allen Zeiten hat sie sich in gleicher Weise fremde" Einflüssen gegenüber ver¬
halten. In den ersten Jahrhunderten, als römische Kultur unser Vaterland
überflutete, nahm mau das Fremde ohne Scheu auf als neuen eignen Besitz.
Das neugewonnene ergänzte den heimischen Sprachschatz, mußte sich aber dem
Vorhandnen angleichen, und sollte es bis zur Unkenntlichkeit verändert werden.
So erhielten wir die zahlreichen "Lehnwörter." Sie bezeichnen die Zeit der
unbefangenen Annahme und Aneignung fremder Geistesarbeit. Ebenso ver¬
fahren noch jetzt die Vvlksmundarten gegenüber dem Hochdeutschen und den
durch dieses übermittelten Fremdwörtern. Mit diesem massenhaften Eindringen
fremder Bestandteile war streng genommen schon die natürliche Entwicklung
der Sprache durchbrochen; die Zahl der fremden Pfropfreiser war zu groß,
als daß wir fortan noch von dem freien Wachstum des Waldbaumes reden
könnten. Auf diesen: Wege kann eine Sprache zur Mischsprache werden, ja sie
kann -- von den fremden Eindringlingen überwuchert -- allmählich ganz zu
Grunde gehen, wie die Mundarten der deutschen Stamme in den romanischen
Ländern. Doch sie braucht bis zum völligen Verschwinden den Charakter einer
Volkssprache nicht einzubüßen, so lange die Sprachthätigkcit selbst für den
Sprechenden nicht Gegenstand der Betrachtung geworden ist.

Diese Unbefangenheit, dieses naive Sprachleben wird zerstört, muß zerstört
werden durch das Wachsen der Bildung. Die Sprache hat neue Aufgaben zu
erfüllen, sie tritt in den Dienst bewußter Kulturarbeit, und damit werden auch
ihre Lebensbedingungen verändert. Man bedient sich ihrer Hilfe, um tausende von
einzelnen Lebensgemeiuschafteu zu höhern Einheiten zu verbinden, ihnen gemein¬
same Aufgaben zu stellen, sie für die gleichen höhern Ziele zu begeistern. Und
während die Sprache so verbindet, einigt, angleicht, vollziehen sich auch an ihr
dieselben Wandlungen, die sie auf den verschiedensten Lebensgebieten zu schaffen
sucht, und zwar diesmal unter der Mitwirkung bewußter menschlicher Geistes¬
thätigkeit. Das wird gar zu oft von denen übersehen, die für "natürliche
Entwicklung" schwärmen: das Mitwirken bewußter, verstandesmäßiger Willens-
thätigkeit an der Gestaltung der Sprache ist eine notwendige Folge höherer


Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache

die Zusammengehörigkeit der getrennten und auseincinderstrebenden Glieder
eines großen Ganzen hin, sie weckt das Bewußtsein gemeinsamen Besitzes und
lehrt gemeinsame Aufgaben neben den Sonderbestrebungen erkennen und wür¬
digen. Die Bildungssprache sucht zu verbinden, zu einigen, wo die natürliche
Entwicklung trennte.

Unsre heutige Gemeinsprache ist also kein einfaches Naturkind geblieben,
und sie teilt dieses Schicksal mit allen andern Kultursprachen. Die Geschichte
unsrer Sprache füllt mit der Entwicklung unsers gesamten geistigen Lebens zu¬
sammen. Ich brauche hier nicht auszuführen, wie viel unsre deutsche Bildung
dem Auslande verdankt. Die Sprache hat diese „Erziehung" unsers Volkes
mit erlebt, nicht ohne Schaden für ihre ursprüngliche Eigenart. Aber nicht zu
allen Zeiten hat sie sich in gleicher Weise fremde» Einflüssen gegenüber ver¬
halten. In den ersten Jahrhunderten, als römische Kultur unser Vaterland
überflutete, nahm mau das Fremde ohne Scheu auf als neuen eignen Besitz.
Das neugewonnene ergänzte den heimischen Sprachschatz, mußte sich aber dem
Vorhandnen angleichen, und sollte es bis zur Unkenntlichkeit verändert werden.
So erhielten wir die zahlreichen „Lehnwörter." Sie bezeichnen die Zeit der
unbefangenen Annahme und Aneignung fremder Geistesarbeit. Ebenso ver¬
fahren noch jetzt die Vvlksmundarten gegenüber dem Hochdeutschen und den
durch dieses übermittelten Fremdwörtern. Mit diesem massenhaften Eindringen
fremder Bestandteile war streng genommen schon die natürliche Entwicklung
der Sprache durchbrochen; die Zahl der fremden Pfropfreiser war zu groß,
als daß wir fortan noch von dem freien Wachstum des Waldbaumes reden
könnten. Auf diesen: Wege kann eine Sprache zur Mischsprache werden, ja sie
kann — von den fremden Eindringlingen überwuchert — allmählich ganz zu
Grunde gehen, wie die Mundarten der deutschen Stamme in den romanischen
Ländern. Doch sie braucht bis zum völligen Verschwinden den Charakter einer
Volkssprache nicht einzubüßen, so lange die Sprachthätigkcit selbst für den
Sprechenden nicht Gegenstand der Betrachtung geworden ist.

Diese Unbefangenheit, dieses naive Sprachleben wird zerstört, muß zerstört
werden durch das Wachsen der Bildung. Die Sprache hat neue Aufgaben zu
erfüllen, sie tritt in den Dienst bewußter Kulturarbeit, und damit werden auch
ihre Lebensbedingungen verändert. Man bedient sich ihrer Hilfe, um tausende von
einzelnen Lebensgemeiuschafteu zu höhern Einheiten zu verbinden, ihnen gemein¬
same Aufgaben zu stellen, sie für die gleichen höhern Ziele zu begeistern. Und
während die Sprache so verbindet, einigt, angleicht, vollziehen sich auch an ihr
dieselben Wandlungen, die sie auf den verschiedensten Lebensgebieten zu schaffen
sucht, und zwar diesmal unter der Mitwirkung bewußter menschlicher Geistes¬
thätigkeit. Das wird gar zu oft von denen übersehen, die für „natürliche
Entwicklung" schwärmen: das Mitwirken bewußter, verstandesmäßiger Willens-
thätigkeit an der Gestaltung der Sprache ist eine notwendige Folge höherer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0366" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208945"/>
          <fw type="header" place="top"> Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1027" prev="#ID_1026"> die Zusammengehörigkeit der getrennten und auseincinderstrebenden Glieder<lb/>
eines großen Ganzen hin, sie weckt das Bewußtsein gemeinsamen Besitzes und<lb/>
lehrt gemeinsame Aufgaben neben den Sonderbestrebungen erkennen und wür¬<lb/>
digen. Die Bildungssprache sucht zu verbinden, zu einigen, wo die natürliche<lb/>
Entwicklung trennte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1028"> Unsre heutige Gemeinsprache ist also kein einfaches Naturkind geblieben,<lb/>
und sie teilt dieses Schicksal mit allen andern Kultursprachen. Die Geschichte<lb/>
unsrer Sprache füllt mit der Entwicklung unsers gesamten geistigen Lebens zu¬<lb/>
sammen. Ich brauche hier nicht auszuführen, wie viel unsre deutsche Bildung<lb/>
dem Auslande verdankt. Die Sprache hat diese &#x201E;Erziehung" unsers Volkes<lb/>
mit erlebt, nicht ohne Schaden für ihre ursprüngliche Eigenart. Aber nicht zu<lb/>
allen Zeiten hat sie sich in gleicher Weise fremde» Einflüssen gegenüber ver¬<lb/>
halten. In den ersten Jahrhunderten, als römische Kultur unser Vaterland<lb/>
überflutete, nahm mau das Fremde ohne Scheu auf als neuen eignen Besitz.<lb/>
Das neugewonnene ergänzte den heimischen Sprachschatz, mußte sich aber dem<lb/>
Vorhandnen angleichen, und sollte es bis zur Unkenntlichkeit verändert werden.<lb/>
So erhielten wir die zahlreichen &#x201E;Lehnwörter." Sie bezeichnen die Zeit der<lb/>
unbefangenen Annahme und Aneignung fremder Geistesarbeit. Ebenso ver¬<lb/>
fahren noch jetzt die Vvlksmundarten gegenüber dem Hochdeutschen und den<lb/>
durch dieses übermittelten Fremdwörtern. Mit diesem massenhaften Eindringen<lb/>
fremder Bestandteile war streng genommen schon die natürliche Entwicklung<lb/>
der Sprache durchbrochen; die Zahl der fremden Pfropfreiser war zu groß,<lb/>
als daß wir fortan noch von dem freien Wachstum des Waldbaumes reden<lb/>
könnten. Auf diesen: Wege kann eine Sprache zur Mischsprache werden, ja sie<lb/>
kann &#x2014; von den fremden Eindringlingen überwuchert &#x2014; allmählich ganz zu<lb/>
Grunde gehen, wie die Mundarten der deutschen Stamme in den romanischen<lb/>
Ländern. Doch sie braucht bis zum völligen Verschwinden den Charakter einer<lb/>
Volkssprache nicht einzubüßen, so lange die Sprachthätigkcit selbst für den<lb/>
Sprechenden nicht Gegenstand der Betrachtung geworden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1029" next="#ID_1030"> Diese Unbefangenheit, dieses naive Sprachleben wird zerstört, muß zerstört<lb/>
werden durch das Wachsen der Bildung. Die Sprache hat neue Aufgaben zu<lb/>
erfüllen, sie tritt in den Dienst bewußter Kulturarbeit, und damit werden auch<lb/>
ihre Lebensbedingungen verändert. Man bedient sich ihrer Hilfe, um tausende von<lb/>
einzelnen Lebensgemeiuschafteu zu höhern Einheiten zu verbinden, ihnen gemein¬<lb/>
same Aufgaben zu stellen, sie für die gleichen höhern Ziele zu begeistern. Und<lb/>
während die Sprache so verbindet, einigt, angleicht, vollziehen sich auch an ihr<lb/>
dieselben Wandlungen, die sie auf den verschiedensten Lebensgebieten zu schaffen<lb/>
sucht, und zwar diesmal unter der Mitwirkung bewußter menschlicher Geistes¬<lb/>
thätigkeit. Das wird gar zu oft von denen übersehen, die für &#x201E;natürliche<lb/>
Entwicklung" schwärmen: das Mitwirken bewußter, verstandesmäßiger Willens-<lb/>
thätigkeit an der Gestaltung der Sprache ist eine notwendige Folge höherer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0366] Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache die Zusammengehörigkeit der getrennten und auseincinderstrebenden Glieder eines großen Ganzen hin, sie weckt das Bewußtsein gemeinsamen Besitzes und lehrt gemeinsame Aufgaben neben den Sonderbestrebungen erkennen und wür¬ digen. Die Bildungssprache sucht zu verbinden, zu einigen, wo die natürliche Entwicklung trennte. Unsre heutige Gemeinsprache ist also kein einfaches Naturkind geblieben, und sie teilt dieses Schicksal mit allen andern Kultursprachen. Die Geschichte unsrer Sprache füllt mit der Entwicklung unsers gesamten geistigen Lebens zu¬ sammen. Ich brauche hier nicht auszuführen, wie viel unsre deutsche Bildung dem Auslande verdankt. Die Sprache hat diese „Erziehung" unsers Volkes mit erlebt, nicht ohne Schaden für ihre ursprüngliche Eigenart. Aber nicht zu allen Zeiten hat sie sich in gleicher Weise fremde» Einflüssen gegenüber ver¬ halten. In den ersten Jahrhunderten, als römische Kultur unser Vaterland überflutete, nahm mau das Fremde ohne Scheu auf als neuen eignen Besitz. Das neugewonnene ergänzte den heimischen Sprachschatz, mußte sich aber dem Vorhandnen angleichen, und sollte es bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. So erhielten wir die zahlreichen „Lehnwörter." Sie bezeichnen die Zeit der unbefangenen Annahme und Aneignung fremder Geistesarbeit. Ebenso ver¬ fahren noch jetzt die Vvlksmundarten gegenüber dem Hochdeutschen und den durch dieses übermittelten Fremdwörtern. Mit diesem massenhaften Eindringen fremder Bestandteile war streng genommen schon die natürliche Entwicklung der Sprache durchbrochen; die Zahl der fremden Pfropfreiser war zu groß, als daß wir fortan noch von dem freien Wachstum des Waldbaumes reden könnten. Auf diesen: Wege kann eine Sprache zur Mischsprache werden, ja sie kann — von den fremden Eindringlingen überwuchert — allmählich ganz zu Grunde gehen, wie die Mundarten der deutschen Stamme in den romanischen Ländern. Doch sie braucht bis zum völligen Verschwinden den Charakter einer Volkssprache nicht einzubüßen, so lange die Sprachthätigkcit selbst für den Sprechenden nicht Gegenstand der Betrachtung geworden ist. Diese Unbefangenheit, dieses naive Sprachleben wird zerstört, muß zerstört werden durch das Wachsen der Bildung. Die Sprache hat neue Aufgaben zu erfüllen, sie tritt in den Dienst bewußter Kulturarbeit, und damit werden auch ihre Lebensbedingungen verändert. Man bedient sich ihrer Hilfe, um tausende von einzelnen Lebensgemeiuschafteu zu höhern Einheiten zu verbinden, ihnen gemein¬ same Aufgaben zu stellen, sie für die gleichen höhern Ziele zu begeistern. Und während die Sprache so verbindet, einigt, angleicht, vollziehen sich auch an ihr dieselben Wandlungen, die sie auf den verschiedensten Lebensgebieten zu schaffen sucht, und zwar diesmal unter der Mitwirkung bewußter menschlicher Geistes¬ thätigkeit. Das wird gar zu oft von denen übersehen, die für „natürliche Entwicklung" schwärmen: das Mitwirken bewußter, verstandesmäßiger Willens- thätigkeit an der Gestaltung der Sprache ist eine notwendige Folge höherer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/366
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/366>, abgerufen am 26.06.2024.