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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Bebels Bäcker-Lnquete

ihr Fach ungenügend ausgebildet. Die Arbeitsrnume sind vielfach unsauber
und ungesund, ganz besonders traurig ist es aber um die Schlafstätten bestellt.
Abgesehen von der Unzulänglichkeit der Schlafzeit und des Schlafraumes,
müssen in vielen Gegenden sich mehrere Personen in ein Bett teilen, derart,
daß eine die andre in der Benutzung des Bettes ablöst, sodaß das eine Bett
Tag und Nacht besetzt ist, abwechselnd von Gesellen, Lehrlingen, Hausknechten
und sogar Dienstmädchen. Die Bettwäsche wird oft halbe Jahre nicht ge¬
wechselt, und die Verteilung der Handtücher ist mehr als kärglich. Auf die
mitgeteilte" Unsauberkeiteu im Betriebe selbst wollen wir mit Rücksicht auf den
Appetit unsrer Leser und Leserinnen nicht eingehen.

Über die außerordentlich ungleichen Abstufungen der Lohnsätze werden zwar
anch Mitteilungen gemacht, erklärlicherweise aber ans die Lohnsätze nicht das
Hauptgewicht gelegt, da der Bäckergehilfe wie der Bäckerlehrling bei den, Meister
wohnt und ganz oder teilweise verköstigt wird, sodaß die Lohnsätze erst durch
genaueste Angaben über Umfang und Güte der Verköstigung, Wäsche u. f. w.
verständlich werden könnten.

Jedenfalls sind die von Bebel gemachten Mitteilungen über die Lage der
Arbeiter in den Bäckereien lehrreich für alle die, die sich mit sozialer Patho¬
logie beschäftigen oder doch, wie die Beamten der Wvhlfahrtspolizei, be¬
schäftigen sollten.

Erklärlicherweise ist aber unser Interesse, die wir nicht auf sozialdemo¬
kratischen Standpunkte stehen, noch größer an dem, was Bebel auf das That¬
sächliche an Forderungen gründet. Zu unsrer eiguen Überraschung müssen
wir da bekennen, daß jeder staatskonservative Svzialpvlitiker unsrer Ansicht nach
jeder Forderung Bebels beitreten könnte. Ja noch mehr. In dem ganzen
betrachtenden Teile seiner Broschüre, der Einleitung und der Schlußbetrachtnng,
giebt es keine zehn Sätze, die wir nicht mit gutem Gewissen unterschreiben
könnten.

Von den in sozialdemokratischen Versammlungen üblichen Phrasen findet
sich hier kein Wort. Weder wird die jetzige Gesellschaftsordnung für unfähig
erklärt, die geschilderten Mißstände zu beseitigen, noch wird der bisherigen
Neformgcsetzgebung jede Wirkung abgesprochen. Im Gegenteil: Bebel wendet
sich mit seinen Forderungen an die jetzige Gesetzgebung unsers jetzigen deutscheu
Reiches und erwartet von dieser nicht nur Linderung der sozialen Schaden,
sondern er erkennt auch die Wirksamkeit der bisherigen Sozialgesetzgebung teils
ausdrücklich, teils stillschweigend an. Ob alles dies bloß "Taktik" oder Be¬
rechnung ist, oder innere Überzeugung, kann uns zunächst gleichgiltig sein.
Dagegen ist es nicht ohne Bedeutung, daß einer der hervorragendsten Führer
der Sozialdemokratie in dieser Weise Stellung nimmt oder wenn man will,
gegenüber den "Jungen" Stellung zu nehmen wagt. Die Sache ist wichtig
genng, um uns noch etwas ausführlicher damit zu beschäftigen.


Grenzboten IV 1890 2!"
Bebels Bäcker-Lnquete

ihr Fach ungenügend ausgebildet. Die Arbeitsrnume sind vielfach unsauber
und ungesund, ganz besonders traurig ist es aber um die Schlafstätten bestellt.
Abgesehen von der Unzulänglichkeit der Schlafzeit und des Schlafraumes,
müssen in vielen Gegenden sich mehrere Personen in ein Bett teilen, derart,
daß eine die andre in der Benutzung des Bettes ablöst, sodaß das eine Bett
Tag und Nacht besetzt ist, abwechselnd von Gesellen, Lehrlingen, Hausknechten
und sogar Dienstmädchen. Die Bettwäsche wird oft halbe Jahre nicht ge¬
wechselt, und die Verteilung der Handtücher ist mehr als kärglich. Auf die
mitgeteilte» Unsauberkeiteu im Betriebe selbst wollen wir mit Rücksicht auf den
Appetit unsrer Leser und Leserinnen nicht eingehen.

Über die außerordentlich ungleichen Abstufungen der Lohnsätze werden zwar
anch Mitteilungen gemacht, erklärlicherweise aber ans die Lohnsätze nicht das
Hauptgewicht gelegt, da der Bäckergehilfe wie der Bäckerlehrling bei den, Meister
wohnt und ganz oder teilweise verköstigt wird, sodaß die Lohnsätze erst durch
genaueste Angaben über Umfang und Güte der Verköstigung, Wäsche u. f. w.
verständlich werden könnten.

Jedenfalls sind die von Bebel gemachten Mitteilungen über die Lage der
Arbeiter in den Bäckereien lehrreich für alle die, die sich mit sozialer Patho¬
logie beschäftigen oder doch, wie die Beamten der Wvhlfahrtspolizei, be¬
schäftigen sollten.

Erklärlicherweise ist aber unser Interesse, die wir nicht auf sozialdemo¬
kratischen Standpunkte stehen, noch größer an dem, was Bebel auf das That¬
sächliche an Forderungen gründet. Zu unsrer eiguen Überraschung müssen
wir da bekennen, daß jeder staatskonservative Svzialpvlitiker unsrer Ansicht nach
jeder Forderung Bebels beitreten könnte. Ja noch mehr. In dem ganzen
betrachtenden Teile seiner Broschüre, der Einleitung und der Schlußbetrachtnng,
giebt es keine zehn Sätze, die wir nicht mit gutem Gewissen unterschreiben
könnten.

Von den in sozialdemokratischen Versammlungen üblichen Phrasen findet
sich hier kein Wort. Weder wird die jetzige Gesellschaftsordnung für unfähig
erklärt, die geschilderten Mißstände zu beseitigen, noch wird der bisherigen
Neformgcsetzgebung jede Wirkung abgesprochen. Im Gegenteil: Bebel wendet
sich mit seinen Forderungen an die jetzige Gesetzgebung unsers jetzigen deutscheu
Reiches und erwartet von dieser nicht nur Linderung der sozialen Schaden,
sondern er erkennt auch die Wirksamkeit der bisherigen Sozialgesetzgebung teils
ausdrücklich, teils stillschweigend an. Ob alles dies bloß „Taktik" oder Be¬
rechnung ist, oder innere Überzeugung, kann uns zunächst gleichgiltig sein.
Dagegen ist es nicht ohne Bedeutung, daß einer der hervorragendsten Führer
der Sozialdemokratie in dieser Weise Stellung nimmt oder wenn man will,
gegenüber den „Jungen" Stellung zu nehmen wagt. Die Sache ist wichtig
genng, um uns noch etwas ausführlicher damit zu beschäftigen.


Grenzboten IV 1890 2!»
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[0233] Bebels Bäcker-Lnquete ihr Fach ungenügend ausgebildet. Die Arbeitsrnume sind vielfach unsauber und ungesund, ganz besonders traurig ist es aber um die Schlafstätten bestellt. Abgesehen von der Unzulänglichkeit der Schlafzeit und des Schlafraumes, müssen in vielen Gegenden sich mehrere Personen in ein Bett teilen, derart, daß eine die andre in der Benutzung des Bettes ablöst, sodaß das eine Bett Tag und Nacht besetzt ist, abwechselnd von Gesellen, Lehrlingen, Hausknechten und sogar Dienstmädchen. Die Bettwäsche wird oft halbe Jahre nicht ge¬ wechselt, und die Verteilung der Handtücher ist mehr als kärglich. Auf die mitgeteilte» Unsauberkeiteu im Betriebe selbst wollen wir mit Rücksicht auf den Appetit unsrer Leser und Leserinnen nicht eingehen. Über die außerordentlich ungleichen Abstufungen der Lohnsätze werden zwar anch Mitteilungen gemacht, erklärlicherweise aber ans die Lohnsätze nicht das Hauptgewicht gelegt, da der Bäckergehilfe wie der Bäckerlehrling bei den, Meister wohnt und ganz oder teilweise verköstigt wird, sodaß die Lohnsätze erst durch genaueste Angaben über Umfang und Güte der Verköstigung, Wäsche u. f. w. verständlich werden könnten. Jedenfalls sind die von Bebel gemachten Mitteilungen über die Lage der Arbeiter in den Bäckereien lehrreich für alle die, die sich mit sozialer Patho¬ logie beschäftigen oder doch, wie die Beamten der Wvhlfahrtspolizei, be¬ schäftigen sollten. Erklärlicherweise ist aber unser Interesse, die wir nicht auf sozialdemo¬ kratischen Standpunkte stehen, noch größer an dem, was Bebel auf das That¬ sächliche an Forderungen gründet. Zu unsrer eiguen Überraschung müssen wir da bekennen, daß jeder staatskonservative Svzialpvlitiker unsrer Ansicht nach jeder Forderung Bebels beitreten könnte. Ja noch mehr. In dem ganzen betrachtenden Teile seiner Broschüre, der Einleitung und der Schlußbetrachtnng, giebt es keine zehn Sätze, die wir nicht mit gutem Gewissen unterschreiben könnten. Von den in sozialdemokratischen Versammlungen üblichen Phrasen findet sich hier kein Wort. Weder wird die jetzige Gesellschaftsordnung für unfähig erklärt, die geschilderten Mißstände zu beseitigen, noch wird der bisherigen Neformgcsetzgebung jede Wirkung abgesprochen. Im Gegenteil: Bebel wendet sich mit seinen Forderungen an die jetzige Gesetzgebung unsers jetzigen deutscheu Reiches und erwartet von dieser nicht nur Linderung der sozialen Schaden, sondern er erkennt auch die Wirksamkeit der bisherigen Sozialgesetzgebung teils ausdrücklich, teils stillschweigend an. Ob alles dies bloß „Taktik" oder Be¬ rechnung ist, oder innere Überzeugung, kann uns zunächst gleichgiltig sein. Dagegen ist es nicht ohne Bedeutung, daß einer der hervorragendsten Führer der Sozialdemokratie in dieser Weise Stellung nimmt oder wenn man will, gegenüber den „Jungen" Stellung zu nehmen wagt. Die Sache ist wichtig genng, um uns noch etwas ausführlicher damit zu beschäftigen. Grenzboten IV 1890 2!»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/233>, abgerufen am 25.08.2024.