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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

und das ist gewiß etwas. Du hast glückliche Gaben, mein Sohn; es giebt
nur eine Pflicht für dich in der Welt, deine Gaben in vollem Maße auszu¬
bilden und sie in vollem Maße zu genießen. Benutze die Weiber ohne Ge¬
wissensbisse zur Kurzweil und die Männer zur Frende, aber thue nichts
niedriges. Habe keine Freunde! Der altgewordene Cäsar hatte einen Freund,
und das war Brutus. Die Verachtung der Menschen ist der Anfang der
Weisheit. Ärgere dich nicht, lache wenig, weine niemals -- lebe wohl!"

Man muß eingestehen, daß die Lebensphilosophie, zu der dieser moderne
Edelmann gelangt ist, ehe er sich eine Kugel vor deu Kopf schießt, nicht klarer
und verblüffender dargestellt werden kann. Man muß weiter zugeben, daß
diese zerfressene Rittergestalt nicht ein Hirngespinst des Schriftstellers ist, daß
derartige Modelle auch außerhalb Frankreichs zu finden sind, aber man wird
stark bezweifeln müssen, daß ein Mensch, der dem rohen Materialismus
verfallen ist, der keinen andern Gott als sein Ich kennt, der seine Mitmenschen
gerade gut genug für seine persönliche Unterhaltung findet, der bei allen Hand¬
lungen keine sittliche?: Grundsätze kennt, sondern nur seinen zweifelhaften, auf
Selbstsucht und Selbstvergötterung ruhenden Ehrbegriff, daß dieser Mensch
alles andre sein kann und sein darf, nur kein Edelmann. Wenn der französische
Adel anfängt, nach den Grundsätzen des alten Camvrs zu leben, wenn er auf¬
hört, unter Hintansetzung der eignen Person und der eignen Interessen für die
idealen Güter der Nation einzutreten, sie zu erhalten und zu mehren, so haben
die Umsturzparteien Recht, ihn aus dem Lande zu jagen. Das ist gar keine
Frage.

Wie weit Louis de Eamors mit deu Grundsätze" seines wunderlichen
Ehrbegriffes kommt, ist schon angedeutet worden. Er verführt die Frau seines
besten Jugendfreundes, des Ingenieurs Lesecmdes, eines thätigen und biedern
Mensche,?, und treibt sie in deu Tod. Er wird aus seiner Gcldbedrängnis
durch seinen edelmütigen Verwandten, den General de Campvallon, gehoben
und macht ans Dankbarkeit die junge leichtsinnige Frau des Generals zu seiner
Geliebten. Um jeden Verdacht zu beseitigen?, zwingt sie ihn, das liebenswürdige,
unschuldige Fräulein von Wele zu heiraten, die seine Treulosigkeit bald er¬
kennt und, weil sie ihn wirklich liebt, unsäglich zu leiden hat. Auch der
General überrascht die Schuldigen und stirbt vom Schlage getroffen. In
Eamors' Fran entsteht immer deutlicher der Verdacht, man wolle auch sie be¬
seitigen. Eines Abends begleitet er sie auf einem Spaziergange; der Weg
führt sie über eine schmale Brücke; er ergreift ihren Arm, um sie zu unter¬
stützen, sie aber reißt sich entsetzt los, schlendert ihm das Wort lilebu entgegen
und stürzt atemlos fort. Eamors' Ehre ist beschimpft, er ist ein gebrochener
Mann und stirbt.

Die Kritik hat diesen Roman, obwohl darin der Einfluß des Realismus
zum erstenmale unverkennbar hervortritt, heftig angegriffen, und doch finden


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

und das ist gewiß etwas. Du hast glückliche Gaben, mein Sohn; es giebt
nur eine Pflicht für dich in der Welt, deine Gaben in vollem Maße auszu¬
bilden und sie in vollem Maße zu genießen. Benutze die Weiber ohne Ge¬
wissensbisse zur Kurzweil und die Männer zur Frende, aber thue nichts
niedriges. Habe keine Freunde! Der altgewordene Cäsar hatte einen Freund,
und das war Brutus. Die Verachtung der Menschen ist der Anfang der
Weisheit. Ärgere dich nicht, lache wenig, weine niemals — lebe wohl!"

Man muß eingestehen, daß die Lebensphilosophie, zu der dieser moderne
Edelmann gelangt ist, ehe er sich eine Kugel vor deu Kopf schießt, nicht klarer
und verblüffender dargestellt werden kann. Man muß weiter zugeben, daß
diese zerfressene Rittergestalt nicht ein Hirngespinst des Schriftstellers ist, daß
derartige Modelle auch außerhalb Frankreichs zu finden sind, aber man wird
stark bezweifeln müssen, daß ein Mensch, der dem rohen Materialismus
verfallen ist, der keinen andern Gott als sein Ich kennt, der seine Mitmenschen
gerade gut genug für seine persönliche Unterhaltung findet, der bei allen Hand¬
lungen keine sittliche?: Grundsätze kennt, sondern nur seinen zweifelhaften, auf
Selbstsucht und Selbstvergötterung ruhenden Ehrbegriff, daß dieser Mensch
alles andre sein kann und sein darf, nur kein Edelmann. Wenn der französische
Adel anfängt, nach den Grundsätzen des alten Camvrs zu leben, wenn er auf¬
hört, unter Hintansetzung der eignen Person und der eignen Interessen für die
idealen Güter der Nation einzutreten, sie zu erhalten und zu mehren, so haben
die Umsturzparteien Recht, ihn aus dem Lande zu jagen. Das ist gar keine
Frage.

Wie weit Louis de Eamors mit deu Grundsätze» seines wunderlichen
Ehrbegriffes kommt, ist schon angedeutet worden. Er verführt die Frau seines
besten Jugendfreundes, des Ingenieurs Lesecmdes, eines thätigen und biedern
Mensche,?, und treibt sie in deu Tod. Er wird aus seiner Gcldbedrängnis
durch seinen edelmütigen Verwandten, den General de Campvallon, gehoben
und macht ans Dankbarkeit die junge leichtsinnige Frau des Generals zu seiner
Geliebten. Um jeden Verdacht zu beseitigen?, zwingt sie ihn, das liebenswürdige,
unschuldige Fräulein von Wele zu heiraten, die seine Treulosigkeit bald er¬
kennt und, weil sie ihn wirklich liebt, unsäglich zu leiden hat. Auch der
General überrascht die Schuldigen und stirbt vom Schlage getroffen. In
Eamors' Fran entsteht immer deutlicher der Verdacht, man wolle auch sie be¬
seitigen. Eines Abends begleitet er sie auf einem Spaziergange; der Weg
führt sie über eine schmale Brücke; er ergreift ihren Arm, um sie zu unter¬
stützen, sie aber reißt sich entsetzt los, schlendert ihm das Wort lilebu entgegen
und stürzt atemlos fort. Eamors' Ehre ist beschimpft, er ist ein gebrochener
Mann und stirbt.

Die Kritik hat diesen Roman, obwohl darin der Einfluß des Realismus
zum erstenmale unverkennbar hervortritt, heftig angegriffen, und doch finden


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[0188] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart und das ist gewiß etwas. Du hast glückliche Gaben, mein Sohn; es giebt nur eine Pflicht für dich in der Welt, deine Gaben in vollem Maße auszu¬ bilden und sie in vollem Maße zu genießen. Benutze die Weiber ohne Ge¬ wissensbisse zur Kurzweil und die Männer zur Frende, aber thue nichts niedriges. Habe keine Freunde! Der altgewordene Cäsar hatte einen Freund, und das war Brutus. Die Verachtung der Menschen ist der Anfang der Weisheit. Ärgere dich nicht, lache wenig, weine niemals — lebe wohl!" Man muß eingestehen, daß die Lebensphilosophie, zu der dieser moderne Edelmann gelangt ist, ehe er sich eine Kugel vor deu Kopf schießt, nicht klarer und verblüffender dargestellt werden kann. Man muß weiter zugeben, daß diese zerfressene Rittergestalt nicht ein Hirngespinst des Schriftstellers ist, daß derartige Modelle auch außerhalb Frankreichs zu finden sind, aber man wird stark bezweifeln müssen, daß ein Mensch, der dem rohen Materialismus verfallen ist, der keinen andern Gott als sein Ich kennt, der seine Mitmenschen gerade gut genug für seine persönliche Unterhaltung findet, der bei allen Hand¬ lungen keine sittliche?: Grundsätze kennt, sondern nur seinen zweifelhaften, auf Selbstsucht und Selbstvergötterung ruhenden Ehrbegriff, daß dieser Mensch alles andre sein kann und sein darf, nur kein Edelmann. Wenn der französische Adel anfängt, nach den Grundsätzen des alten Camvrs zu leben, wenn er auf¬ hört, unter Hintansetzung der eignen Person und der eignen Interessen für die idealen Güter der Nation einzutreten, sie zu erhalten und zu mehren, so haben die Umsturzparteien Recht, ihn aus dem Lande zu jagen. Das ist gar keine Frage. Wie weit Louis de Eamors mit deu Grundsätze» seines wunderlichen Ehrbegriffes kommt, ist schon angedeutet worden. Er verführt die Frau seines besten Jugendfreundes, des Ingenieurs Lesecmdes, eines thätigen und biedern Mensche,?, und treibt sie in deu Tod. Er wird aus seiner Gcldbedrängnis durch seinen edelmütigen Verwandten, den General de Campvallon, gehoben und macht ans Dankbarkeit die junge leichtsinnige Frau des Generals zu seiner Geliebten. Um jeden Verdacht zu beseitigen?, zwingt sie ihn, das liebenswürdige, unschuldige Fräulein von Wele zu heiraten, die seine Treulosigkeit bald er¬ kennt und, weil sie ihn wirklich liebt, unsäglich zu leiden hat. Auch der General überrascht die Schuldigen und stirbt vom Schlage getroffen. In Eamors' Fran entsteht immer deutlicher der Verdacht, man wolle auch sie be¬ seitigen. Eines Abends begleitet er sie auf einem Spaziergange; der Weg führt sie über eine schmale Brücke; er ergreift ihren Arm, um sie zu unter¬ stützen, sie aber reißt sich entsetzt los, schlendert ihm das Wort lilebu entgegen und stürzt atemlos fort. Eamors' Ehre ist beschimpft, er ist ein gebrochener Mann und stirbt. Die Kritik hat diesen Roman, obwohl darin der Einfluß des Realismus zum erstenmale unverkennbar hervortritt, heftig angegriffen, und doch finden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/188>, abgerufen am 25.08.2024.