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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Socialdemokratie und die öffentliche Meinung

wärtigt, die zwingende Ähnlichkeit auffallen zwischen den: vaterlandslosen
Stürmen und Drängen unsrer damaligen bürgerlichen Demokratie, die gleich¬
falls alles Heil von dem allgemeinen Zusammensturz erwartete, und der
Sozialdemokratie? Nun, der damalige Staat ist dem Ansturme der Demokratie
nicht unterlegen; bei aller Thatkraft gegenüber den Pulsader der Unbedingten
war er weitsichtig genug, die im Interesse des aufkommenden Bürgertums not¬
wendigen Reformen im richtigen Augenblick eintreten zu laisser, und allen
Prophezeiungen der damals herrschenden Klassen zum Trotz sind aus ver¬
bitterten Demagogen nützliche Bürger, aus der Partei der Demokratie die
staatserhaltenden Parteien des liberalen Bürgertums geworden, wahrend die
radikale Ursprnngspartei allen Boden im Volke verlor. Auch die die Interessen
der arbeitenden Klassen vertretende Sozialdemokratie wird dieselbe Wandlung
durchmachen. Mit ihren größern Zwecken wachsend und durch eine weise
sozialrefvrmatorische Thätigkeit unsrer lebenskräftigen Monarchie immer mehr
zu positiver Mitarbeit gedrängt, wird sie allmählich aus einer fanatischen
Sekte eine soziale Reformpartei werden, und die Zeit wird kommen, wo man
mit demselben ruhigen Blut auf die Versetzungen und Jugendthvrheiten der
heutigen Sozialdemokratie zurückblicken wird, wie wir Heutigen auf das wüste
Geschrei der Demokratie der vierziger Jahre.

Dafür, daß uns dieser Entwicklungsgang bevorsteht, ist der gegenwärtige
Zwist innerhalb der Sozialdemokratie das erste bedeutsame Zeichen. Die
Sozialdemokratie, soweit sie überhaupt Beachtung verdient, beginnt ihre Kampf-
stellung aufzugeben und auf den äußersten linken Flügel der großen Sozial¬
reformpartei zu treten.

Das ist die Lehre, die wir aus den sogenannten "taktischen Differenzen"
zu ziehen haben. Sie steht in Einklang mit unsrer aus der Geschichte aller
Zeiten geschöpften Überzeugung, daß wir in einer vernünftigen, von einem
allweisen Willen geleiteten, in allmählich fortschreitender Entwicklung bestimmten
Zielen zustrebenden Welt leben. Die Nutzanwendung, die nur aus dieser Lehre
zu ziehen haben, ergiebt sich von selbst. Sie geht dahin, daß wir bei aller
Strenge gegenüber Aufwiegelungen und Aufstandsversuchen eiues wie immer
neuerungssüchtigen, zu Ausschreitungen geneigten großstädtischen Proletariats
unbeirrt durch die Extravaganzen der einen, durch die Beklemmungen der
andern fortzuschreiten haben ans den Wegen der von unserm Kaiser verfolgten
Versvhnnngspolitik. Dies ist der Weg der Rettung; einen andern giebt es nicht.




Die Socialdemokratie und die öffentliche Meinung

wärtigt, die zwingende Ähnlichkeit auffallen zwischen den: vaterlandslosen
Stürmen und Drängen unsrer damaligen bürgerlichen Demokratie, die gleich¬
falls alles Heil von dem allgemeinen Zusammensturz erwartete, und der
Sozialdemokratie? Nun, der damalige Staat ist dem Ansturme der Demokratie
nicht unterlegen; bei aller Thatkraft gegenüber den Pulsader der Unbedingten
war er weitsichtig genug, die im Interesse des aufkommenden Bürgertums not¬
wendigen Reformen im richtigen Augenblick eintreten zu laisser, und allen
Prophezeiungen der damals herrschenden Klassen zum Trotz sind aus ver¬
bitterten Demagogen nützliche Bürger, aus der Partei der Demokratie die
staatserhaltenden Parteien des liberalen Bürgertums geworden, wahrend die
radikale Ursprnngspartei allen Boden im Volke verlor. Auch die die Interessen
der arbeitenden Klassen vertretende Sozialdemokratie wird dieselbe Wandlung
durchmachen. Mit ihren größern Zwecken wachsend und durch eine weise
sozialrefvrmatorische Thätigkeit unsrer lebenskräftigen Monarchie immer mehr
zu positiver Mitarbeit gedrängt, wird sie allmählich aus einer fanatischen
Sekte eine soziale Reformpartei werden, und die Zeit wird kommen, wo man
mit demselben ruhigen Blut auf die Versetzungen und Jugendthvrheiten der
heutigen Sozialdemokratie zurückblicken wird, wie wir Heutigen auf das wüste
Geschrei der Demokratie der vierziger Jahre.

Dafür, daß uns dieser Entwicklungsgang bevorsteht, ist der gegenwärtige
Zwist innerhalb der Sozialdemokratie das erste bedeutsame Zeichen. Die
Sozialdemokratie, soweit sie überhaupt Beachtung verdient, beginnt ihre Kampf-
stellung aufzugeben und auf den äußersten linken Flügel der großen Sozial¬
reformpartei zu treten.

Das ist die Lehre, die wir aus den sogenannten „taktischen Differenzen"
zu ziehen haben. Sie steht in Einklang mit unsrer aus der Geschichte aller
Zeiten geschöpften Überzeugung, daß wir in einer vernünftigen, von einem
allweisen Willen geleiteten, in allmählich fortschreitender Entwicklung bestimmten
Zielen zustrebenden Welt leben. Die Nutzanwendung, die nur aus dieser Lehre
zu ziehen haben, ergiebt sich von selbst. Sie geht dahin, daß wir bei aller
Strenge gegenüber Aufwiegelungen und Aufstandsversuchen eiues wie immer
neuerungssüchtigen, zu Ausschreitungen geneigten großstädtischen Proletariats
unbeirrt durch die Extravaganzen der einen, durch die Beklemmungen der
andern fortzuschreiten haben ans den Wegen der von unserm Kaiser verfolgten
Versvhnnngspolitik. Dies ist der Weg der Rettung; einen andern giebt es nicht.




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[0142] Die Socialdemokratie und die öffentliche Meinung wärtigt, die zwingende Ähnlichkeit auffallen zwischen den: vaterlandslosen Stürmen und Drängen unsrer damaligen bürgerlichen Demokratie, die gleich¬ falls alles Heil von dem allgemeinen Zusammensturz erwartete, und der Sozialdemokratie? Nun, der damalige Staat ist dem Ansturme der Demokratie nicht unterlegen; bei aller Thatkraft gegenüber den Pulsader der Unbedingten war er weitsichtig genug, die im Interesse des aufkommenden Bürgertums not¬ wendigen Reformen im richtigen Augenblick eintreten zu laisser, und allen Prophezeiungen der damals herrschenden Klassen zum Trotz sind aus ver¬ bitterten Demagogen nützliche Bürger, aus der Partei der Demokratie die staatserhaltenden Parteien des liberalen Bürgertums geworden, wahrend die radikale Ursprnngspartei allen Boden im Volke verlor. Auch die die Interessen der arbeitenden Klassen vertretende Sozialdemokratie wird dieselbe Wandlung durchmachen. Mit ihren größern Zwecken wachsend und durch eine weise sozialrefvrmatorische Thätigkeit unsrer lebenskräftigen Monarchie immer mehr zu positiver Mitarbeit gedrängt, wird sie allmählich aus einer fanatischen Sekte eine soziale Reformpartei werden, und die Zeit wird kommen, wo man mit demselben ruhigen Blut auf die Versetzungen und Jugendthvrheiten der heutigen Sozialdemokratie zurückblicken wird, wie wir Heutigen auf das wüste Geschrei der Demokratie der vierziger Jahre. Dafür, daß uns dieser Entwicklungsgang bevorsteht, ist der gegenwärtige Zwist innerhalb der Sozialdemokratie das erste bedeutsame Zeichen. Die Sozialdemokratie, soweit sie überhaupt Beachtung verdient, beginnt ihre Kampf- stellung aufzugeben und auf den äußersten linken Flügel der großen Sozial¬ reformpartei zu treten. Das ist die Lehre, die wir aus den sogenannten „taktischen Differenzen" zu ziehen haben. Sie steht in Einklang mit unsrer aus der Geschichte aller Zeiten geschöpften Überzeugung, daß wir in einer vernünftigen, von einem allweisen Willen geleiteten, in allmählich fortschreitender Entwicklung bestimmten Zielen zustrebenden Welt leben. Die Nutzanwendung, die nur aus dieser Lehre zu ziehen haben, ergiebt sich von selbst. Sie geht dahin, daß wir bei aller Strenge gegenüber Aufwiegelungen und Aufstandsversuchen eiues wie immer neuerungssüchtigen, zu Ausschreitungen geneigten großstädtischen Proletariats unbeirrt durch die Extravaganzen der einen, durch die Beklemmungen der andern fortzuschreiten haben ans den Wegen der von unserm Kaiser verfolgten Versvhnnngspolitik. Dies ist der Weg der Rettung; einen andern giebt es nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/142>, abgerufen am 24.06.2024.