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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

lyrischen Sammlung näher zu bezeichnen. Es ist aber mit der Prvgrammlyrik
beinahe so bestellt wie mit der Programmmusik: sie sind wesentlich nnlyrisch oder
unmusikalisch. Die Prograuuumilsik begeht den Fehler, die Hörer nicht ans den
Genuß der Töne, ihrer eignen Schönheit, Harmonie oder Melodie vorzubereiten,
sondern sie lenkt unsre Aufmerksamkeit auf einen hinter oder außer diesen Tönen
liegenden Gegenstand, an den wir uns erinnert fühlen sollen; damit setzt sie die
hohe Kunst der Musik zur. Dienerin andrer Absichten herab. Die Programmlyrik
begeht den Fehler, ihr Lied nicht als etwas absolut eigenartiges hinzustellen, sondern
die Lieder sollen .neben ihrem rein lyrischen Gehalt mich noch einen epischen Zu-
sammenhang aufweisen. Die echte Lyrik ist aber Gele,geuheilspvesie, In jedem
Liede steckt ein Stück des ganzen, ungebrochenen Wesens des Dichters; das ist
gerade sein eigentümlicher Kunstwert und Knnstcharntter. Und weil des Dichters
Seele in stetiger Bewegung und Wandlung ist, darum wird eine Sammlung echter
Lyrik ohne des Dichters Zuthun zu seinem Lebensbunde. Das absichtliche Hinzu¬
thun aber verdirbt den rein lyrischen Geist der Gedichte, abgesehen davon, daß
sich der rückblickende Geist des Dichters die Stimmung seiner verschiednen Lebens--
zeiten unmöglich lyrisch vollkommen wieder schaffen kann; das Lied wird eben in
Form und GeHall den Charakter annehmen, den der Lyriker jetzt hat. Das ist
es, ums wir grundsätzlich gegen Wents Unternehmen einzuwenden haben. In
kleinen Cyklen ist so eine episch-lyrische Form brauchbar; ein ganzes Mannesleben dar¬
zustellen, scheint sie "us doch ungeeignet. Stellen wir uns aber auf Wents Stand¬
punkt, so räume" wir gern ein, daß er sich mit Geschick die Aufgabe zurechtgelegt
hat. Seine Gesinnung ist überall löblich; dem Einzelnen feines persönlichen Schick¬
sals hat er eine allgemein menschlich interessante Seite wohl abzugewinnen ver¬
standen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

lyrischen Sammlung näher zu bezeichnen. Es ist aber mit der Prvgrammlyrik
beinahe so bestellt wie mit der Programmmusik: sie sind wesentlich nnlyrisch oder
unmusikalisch. Die Prograuuumilsik begeht den Fehler, die Hörer nicht ans den
Genuß der Töne, ihrer eignen Schönheit, Harmonie oder Melodie vorzubereiten,
sondern sie lenkt unsre Aufmerksamkeit auf einen hinter oder außer diesen Tönen
liegenden Gegenstand, an den wir uns erinnert fühlen sollen; damit setzt sie die
hohe Kunst der Musik zur. Dienerin andrer Absichten herab. Die Programmlyrik
begeht den Fehler, ihr Lied nicht als etwas absolut eigenartiges hinzustellen, sondern
die Lieder sollen .neben ihrem rein lyrischen Gehalt mich noch einen epischen Zu-
sammenhang aufweisen. Die echte Lyrik ist aber Gele,geuheilspvesie, In jedem
Liede steckt ein Stück des ganzen, ungebrochenen Wesens des Dichters; das ist
gerade sein eigentümlicher Kunstwert und Knnstcharntter. Und weil des Dichters
Seele in stetiger Bewegung und Wandlung ist, darum wird eine Sammlung echter
Lyrik ohne des Dichters Zuthun zu seinem Lebensbunde. Das absichtliche Hinzu¬
thun aber verdirbt den rein lyrischen Geist der Gedichte, abgesehen davon, daß
sich der rückblickende Geist des Dichters die Stimmung seiner verschiednen Lebens--
zeiten unmöglich lyrisch vollkommen wieder schaffen kann; das Lied wird eben in
Form und GeHall den Charakter annehmen, den der Lyriker jetzt hat. Das ist
es, ums wir grundsätzlich gegen Wents Unternehmen einzuwenden haben. In
kleinen Cyklen ist so eine episch-lyrische Form brauchbar; ein ganzes Mannesleben dar¬
zustellen, scheint sie »us doch ungeeignet. Stellen wir uns aber auf Wents Stand¬
punkt, so räume» wir gern ein, daß er sich mit Geschick die Aufgabe zurechtgelegt
hat. Seine Gesinnung ist überall löblich; dem Einzelnen feines persönlichen Schick¬
sals hat er eine allgemein menschlich interessante Seite wohl abzugewinnen ver¬
standen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0636] Litteratur lyrischen Sammlung näher zu bezeichnen. Es ist aber mit der Prvgrammlyrik beinahe so bestellt wie mit der Programmmusik: sie sind wesentlich nnlyrisch oder unmusikalisch. Die Prograuuumilsik begeht den Fehler, die Hörer nicht ans den Genuß der Töne, ihrer eignen Schönheit, Harmonie oder Melodie vorzubereiten, sondern sie lenkt unsre Aufmerksamkeit auf einen hinter oder außer diesen Tönen liegenden Gegenstand, an den wir uns erinnert fühlen sollen; damit setzt sie die hohe Kunst der Musik zur. Dienerin andrer Absichten herab. Die Programmlyrik begeht den Fehler, ihr Lied nicht als etwas absolut eigenartiges hinzustellen, sondern die Lieder sollen .neben ihrem rein lyrischen Gehalt mich noch einen epischen Zu- sammenhang aufweisen. Die echte Lyrik ist aber Gele,geuheilspvesie, In jedem Liede steckt ein Stück des ganzen, ungebrochenen Wesens des Dichters; das ist gerade sein eigentümlicher Kunstwert und Knnstcharntter. Und weil des Dichters Seele in stetiger Bewegung und Wandlung ist, darum wird eine Sammlung echter Lyrik ohne des Dichters Zuthun zu seinem Lebensbunde. Das absichtliche Hinzu¬ thun aber verdirbt den rein lyrischen Geist der Gedichte, abgesehen davon, daß sich der rückblickende Geist des Dichters die Stimmung seiner verschiednen Lebens-- zeiten unmöglich lyrisch vollkommen wieder schaffen kann; das Lied wird eben in Form und GeHall den Charakter annehmen, den der Lyriker jetzt hat. Das ist es, ums wir grundsätzlich gegen Wents Unternehmen einzuwenden haben. In kleinen Cyklen ist so eine episch-lyrische Form brauchbar; ein ganzes Mannesleben dar¬ zustellen, scheint sie »us doch ungeeignet. Stellen wir uns aber auf Wents Stand¬ punkt, so räume» wir gern ein, daß er sich mit Geschick die Aufgabe zurechtgelegt hat. Seine Gesinnung ist überall löblich; dem Einzelnen feines persönlichen Schick¬ sals hat er eine allgemein menschlich interessante Seite wohl abzugewinnen ver¬ standen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/636>, abgerufen am 25.07.2024.