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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Im Jahre 2000

Wie schon aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, schließt sich Bellamhs
Roman "Im Jahre 2000" der langen Reihe politisch-sozialer Romane an, die
seit dem sechzehnten Jahrhundert mittels der Schilderung künftiger Zustände
Kritik an den bestehenden geübt haben. Es hat seine guten Gründe, daß diese
interessanten Bücher in frühern Jahrhunderten nnr wenig gelesen worden sind,
wahrend das neueste Produkt dieser Art einen Sensationserfolg davontrügt,
der seines gleichen sucht. Sir Thomas Morus' "Utopia," James Harringtons
"Oceana" sind entschieden mehr zitirte und gelobte als wirklich gekannte Bücher.
Die "Insel Felsenburg" des Stolbergers Christian Gottfried Schnabel stand
zwar vor lMidertund fünfzig Jahren in großem Ansehen und war so ziemlich
in allen Familienbibliotheken zu finden; aber unter den Tausenden ihrer Leser
waren kaum einige zu finden, die in der Geschichte des Sachsen Albert
Julius und seiner Kolonie mehr sahen als eine unterhaltsame Robinsonade.
Poetische Weissagungen von einer bessern als der bestehenden Welt bleiben so
lange unwirksam, als mau mit und trotz aller landläufigen Unzufriedenheit
im allgemeinen geneigt ist, die bestehende für die beste zu halten. Trotz der
Kämpfe des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts fühlte sich die bürger¬
liche Gesellschaft damals in ihrem Gesamtbestand nicht bedroht und hegte geringe
Zweifel, daß es morgen gehen werde, wie es gestern und heute gegangen war.
Erst wenn eine Reihe von bedrohlichen, miheilverkündenden Anzeichen dieses Ver¬
trauen erschüttert hat, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Fall
war und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder der Fall ist, können
Bücher wie das Bellamysche allgemeine Teilnahme finden. Sie find dann
Anzeichen eines Zustandes, den der wiederauferstandne Sohn und Bürger unsrer
Zeit im Jahre 2000 mit den Worten schildert: "Wir fühlten, daß die Anker der
Gesellschaft sich lösten, und daß sie in Gefahr war, ein Spielball der Wellen
zu werden. Wohin sie getrieben werden würde, konnte niemand sagen; alle
fürchteten jedoch die Klippen."

Dem gegenüber will nun der Roman Bellamhs tröstlich erweisen, das
Schiff der Gesellschaft secure uicht auf Klippen los, sondern im Gegenteil nach
tieferem Fahrwasser. Wie Herr Julian West aus seinem hhpnotisch-mesmerischen
hnndertunddreizehnjährigen Schlafe erwacht, erfährt er zu seiner und unsrer
Überraschung, daß es so gut wie gar keine Kämpfe gekostet hat, in den bestehenden
Staaten Europas und Amerikas völlig neue Zustünde einzuführen, erfährt, daß
die zum Unsinn gewordne kapitalistische Produktionsweise von einer Ordnung
der Gesellschaft abgelöst worden sei, in der die Staatsgewalt der alleinige Unter¬
nehmer, Anordner, Leiter und Austeiler alles Hervorgebrachten ist, in der, unbe¬
schadet sonstiger Verschiedenheiten, alle Menschen bis zum fünfundvierzigsten Jahre
zum Dienst in der großen Jndustriearmee verpflichtet sind, alle aber einen gleichen
Anteil an Lebensunterhalt- und Verbrauchsgegenstnnden erhalten. Er entdeckt
zu seiner Überraschung, daß alle Befürchtungen von "Zwang," die ein Kind


Im Jahre 2000

Wie schon aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, schließt sich Bellamhs
Roman „Im Jahre 2000" der langen Reihe politisch-sozialer Romane an, die
seit dem sechzehnten Jahrhundert mittels der Schilderung künftiger Zustände
Kritik an den bestehenden geübt haben. Es hat seine guten Gründe, daß diese
interessanten Bücher in frühern Jahrhunderten nnr wenig gelesen worden sind,
wahrend das neueste Produkt dieser Art einen Sensationserfolg davontrügt,
der seines gleichen sucht. Sir Thomas Morus' „Utopia," James Harringtons
„Oceana" sind entschieden mehr zitirte und gelobte als wirklich gekannte Bücher.
Die „Insel Felsenburg" des Stolbergers Christian Gottfried Schnabel stand
zwar vor lMidertund fünfzig Jahren in großem Ansehen und war so ziemlich
in allen Familienbibliotheken zu finden; aber unter den Tausenden ihrer Leser
waren kaum einige zu finden, die in der Geschichte des Sachsen Albert
Julius und seiner Kolonie mehr sahen als eine unterhaltsame Robinsonade.
Poetische Weissagungen von einer bessern als der bestehenden Welt bleiben so
lange unwirksam, als mau mit und trotz aller landläufigen Unzufriedenheit
im allgemeinen geneigt ist, die bestehende für die beste zu halten. Trotz der
Kämpfe des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts fühlte sich die bürger¬
liche Gesellschaft damals in ihrem Gesamtbestand nicht bedroht und hegte geringe
Zweifel, daß es morgen gehen werde, wie es gestern und heute gegangen war.
Erst wenn eine Reihe von bedrohlichen, miheilverkündenden Anzeichen dieses Ver¬
trauen erschüttert hat, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Fall
war und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder der Fall ist, können
Bücher wie das Bellamysche allgemeine Teilnahme finden. Sie find dann
Anzeichen eines Zustandes, den der wiederauferstandne Sohn und Bürger unsrer
Zeit im Jahre 2000 mit den Worten schildert: „Wir fühlten, daß die Anker der
Gesellschaft sich lösten, und daß sie in Gefahr war, ein Spielball der Wellen
zu werden. Wohin sie getrieben werden würde, konnte niemand sagen; alle
fürchteten jedoch die Klippen."

Dem gegenüber will nun der Roman Bellamhs tröstlich erweisen, das
Schiff der Gesellschaft secure uicht auf Klippen los, sondern im Gegenteil nach
tieferem Fahrwasser. Wie Herr Julian West aus seinem hhpnotisch-mesmerischen
hnndertunddreizehnjährigen Schlafe erwacht, erfährt er zu seiner und unsrer
Überraschung, daß es so gut wie gar keine Kämpfe gekostet hat, in den bestehenden
Staaten Europas und Amerikas völlig neue Zustünde einzuführen, erfährt, daß
die zum Unsinn gewordne kapitalistische Produktionsweise von einer Ordnung
der Gesellschaft abgelöst worden sei, in der die Staatsgewalt der alleinige Unter¬
nehmer, Anordner, Leiter und Austeiler alles Hervorgebrachten ist, in der, unbe¬
schadet sonstiger Verschiedenheiten, alle Menschen bis zum fünfundvierzigsten Jahre
zum Dienst in der großen Jndustriearmee verpflichtet sind, alle aber einen gleichen
Anteil an Lebensunterhalt- und Verbrauchsgegenstnnden erhalten. Er entdeckt
zu seiner Überraschung, daß alle Befürchtungen von „Zwang," die ein Kind


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[0326] Im Jahre 2000 Wie schon aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, schließt sich Bellamhs Roman „Im Jahre 2000" der langen Reihe politisch-sozialer Romane an, die seit dem sechzehnten Jahrhundert mittels der Schilderung künftiger Zustände Kritik an den bestehenden geübt haben. Es hat seine guten Gründe, daß diese interessanten Bücher in frühern Jahrhunderten nnr wenig gelesen worden sind, wahrend das neueste Produkt dieser Art einen Sensationserfolg davontrügt, der seines gleichen sucht. Sir Thomas Morus' „Utopia," James Harringtons „Oceana" sind entschieden mehr zitirte und gelobte als wirklich gekannte Bücher. Die „Insel Felsenburg" des Stolbergers Christian Gottfried Schnabel stand zwar vor lMidertund fünfzig Jahren in großem Ansehen und war so ziemlich in allen Familienbibliotheken zu finden; aber unter den Tausenden ihrer Leser waren kaum einige zu finden, die in der Geschichte des Sachsen Albert Julius und seiner Kolonie mehr sahen als eine unterhaltsame Robinsonade. Poetische Weissagungen von einer bessern als der bestehenden Welt bleiben so lange unwirksam, als mau mit und trotz aller landläufigen Unzufriedenheit im allgemeinen geneigt ist, die bestehende für die beste zu halten. Trotz der Kämpfe des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts fühlte sich die bürger¬ liche Gesellschaft damals in ihrem Gesamtbestand nicht bedroht und hegte geringe Zweifel, daß es morgen gehen werde, wie es gestern und heute gegangen war. Erst wenn eine Reihe von bedrohlichen, miheilverkündenden Anzeichen dieses Ver¬ trauen erschüttert hat, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Fall war und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder der Fall ist, können Bücher wie das Bellamysche allgemeine Teilnahme finden. Sie find dann Anzeichen eines Zustandes, den der wiederauferstandne Sohn und Bürger unsrer Zeit im Jahre 2000 mit den Worten schildert: „Wir fühlten, daß die Anker der Gesellschaft sich lösten, und daß sie in Gefahr war, ein Spielball der Wellen zu werden. Wohin sie getrieben werden würde, konnte niemand sagen; alle fürchteten jedoch die Klippen." Dem gegenüber will nun der Roman Bellamhs tröstlich erweisen, das Schiff der Gesellschaft secure uicht auf Klippen los, sondern im Gegenteil nach tieferem Fahrwasser. Wie Herr Julian West aus seinem hhpnotisch-mesmerischen hnndertunddreizehnjährigen Schlafe erwacht, erfährt er zu seiner und unsrer Überraschung, daß es so gut wie gar keine Kämpfe gekostet hat, in den bestehenden Staaten Europas und Amerikas völlig neue Zustünde einzuführen, erfährt, daß die zum Unsinn gewordne kapitalistische Produktionsweise von einer Ordnung der Gesellschaft abgelöst worden sei, in der die Staatsgewalt der alleinige Unter¬ nehmer, Anordner, Leiter und Austeiler alles Hervorgebrachten ist, in der, unbe¬ schadet sonstiger Verschiedenheiten, alle Menschen bis zum fünfundvierzigsten Jahre zum Dienst in der großen Jndustriearmee verpflichtet sind, alle aber einen gleichen Anteil an Lebensunterhalt- und Verbrauchsgegenstnnden erhalten. Er entdeckt zu seiner Überraschung, daß alle Befürchtungen von „Zwang," die ein Kind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/326>, abgerufen am 26.06.2024.