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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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geregelt sei, daß "der Grenzgrabcn vertieft werden müsse." So oft wir aber
über Paßzwang reden hörten oder darüber lasen, im Reichstage, im Landes¬
ausschusse, in der deutschen wie in der französischen Tagespresse, niemals war
davon die Rede, wie weit denn wirklich von einer Grenzsperre oder nur von
einer Erschwerung des Übertrittes die Rede sein könne. Wenn wir recht unter¬
richtet sind, so ist die Mehrheit der Fälle, in denen das Visa erteilt wird,
längst so überwiegend, daß im großen und ganzen, da ja jetzt auch der Durch¬
gangsverkehr frei gegeben ist, höchstens noch von einer ungewöhnlichen Be¬
lästigung des Verkehrs zwischen Frankreich und Elsaß-Lothringen die Rede sein
kann. Allerdings ist es für den Zurückgewiesenen ein geringer Trost, zu wissen,
daß er zu einer Minderheit zählt. Wenn nun aber weitere Zugestündnisse
gemacht werden sollen, soll dann die Frage des Bedürfnisses für die Aufent-
haltsgewührung maßgebend erklärt werden oder die politische Wertschätzung des
Nachsuchenden? Seit Einführung des Paßzwanges sind die sogenannten
Aufenthaltserlaubnisse weggefallen, deren Beseitigung die Jnterpellation von
Richter u. Gen. ins Auge faßte, während sie längst infolge juristischer, wohl
etwas feinfühliger Bedenken über den Begriff der Meistbegünstigung aufgegeben
worden waren. Daß sich die Herren Richter u. Gen. der Sache angenommen
haben, dem Drängen des kürzlich verstorbenen Abgeordneten Grad von Colmar
entsprechend, kann man von dem Standpunkte aus begreifen, daß sich die
Partei dankbare Leute in einem Lande sichern wollte, aus dem bei den letzten
Wahlen ganz unerwartet den Deutschkonservativen, den Nationalliberalen, den,
Zentrum und den Sozialisten Beihilfe erwachsen war; man wollte auch in
Süddeutschland Stimmen machen, wo man sich über die Unbequemlichkeiten
des Paßzwanges ärgert, z. B. in Pforzheim, Stuttgart u. f. w. Wenn aber
die Elsaß-Lothringer Abschaffung des Paßzwanges verlangen, so besorgen sie
eigentlich die Geschäfte Frankreichs; aber man muß dabei zugestehen, daß die
Landesvertreter auch deu Wünschen ihrer Wähler entsprechen, die ungehinderten
Wechselverkehr mit der Auswanderung wünschen. Es ist öffentliches Geheimnis
im Lande, daß, wie bei der Zwischenwahl in Straßbnrg, so auch bei den all¬
gemeinen Wahlen von 1890 die Protestler als Preis für die Wahlenthaltung
von deu Gemäßigten verlangten, daß diese für die Abschaffung des Paßzwanges
eintreten sollten. Die vier ErzPriester in Lothringen, die aus den letzten Wahlen
hervorgingen, verdanken ihren Erfolg nur dem Verzicht der frühern Vertreter
oder andrer Bewerber, und diese traten zurück, weil sie befürchteten, daß die
Wiederwahl von Protestlern die Negierung derart verstimmen würde, daß vou
einer Aufhebung oder Milderung des Paßzwanges gar keine Rede mehr sein
könnte. Der Herrschaft des Paßzwanges sind die gemäßigten Wahlen von
1890 zu verdanken, und deshalb ist es eigentlich schnöder Undank, wenn die
aus diesen Wahlen hervvrgegnngenen Vertreter des Neichslandes gegen den
Paßzwang auftreten, der allein die französischen Einflüsse auf die Wahl fern-


geregelt sei, daß „der Grenzgrabcn vertieft werden müsse." So oft wir aber
über Paßzwang reden hörten oder darüber lasen, im Reichstage, im Landes¬
ausschusse, in der deutschen wie in der französischen Tagespresse, niemals war
davon die Rede, wie weit denn wirklich von einer Grenzsperre oder nur von
einer Erschwerung des Übertrittes die Rede sein könne. Wenn wir recht unter¬
richtet sind, so ist die Mehrheit der Fälle, in denen das Visa erteilt wird,
längst so überwiegend, daß im großen und ganzen, da ja jetzt auch der Durch¬
gangsverkehr frei gegeben ist, höchstens noch von einer ungewöhnlichen Be¬
lästigung des Verkehrs zwischen Frankreich und Elsaß-Lothringen die Rede sein
kann. Allerdings ist es für den Zurückgewiesenen ein geringer Trost, zu wissen,
daß er zu einer Minderheit zählt. Wenn nun aber weitere Zugestündnisse
gemacht werden sollen, soll dann die Frage des Bedürfnisses für die Aufent-
haltsgewührung maßgebend erklärt werden oder die politische Wertschätzung des
Nachsuchenden? Seit Einführung des Paßzwanges sind die sogenannten
Aufenthaltserlaubnisse weggefallen, deren Beseitigung die Jnterpellation von
Richter u. Gen. ins Auge faßte, während sie längst infolge juristischer, wohl
etwas feinfühliger Bedenken über den Begriff der Meistbegünstigung aufgegeben
worden waren. Daß sich die Herren Richter u. Gen. der Sache angenommen
haben, dem Drängen des kürzlich verstorbenen Abgeordneten Grad von Colmar
entsprechend, kann man von dem Standpunkte aus begreifen, daß sich die
Partei dankbare Leute in einem Lande sichern wollte, aus dem bei den letzten
Wahlen ganz unerwartet den Deutschkonservativen, den Nationalliberalen, den,
Zentrum und den Sozialisten Beihilfe erwachsen war; man wollte auch in
Süddeutschland Stimmen machen, wo man sich über die Unbequemlichkeiten
des Paßzwanges ärgert, z. B. in Pforzheim, Stuttgart u. f. w. Wenn aber
die Elsaß-Lothringer Abschaffung des Paßzwanges verlangen, so besorgen sie
eigentlich die Geschäfte Frankreichs; aber man muß dabei zugestehen, daß die
Landesvertreter auch deu Wünschen ihrer Wähler entsprechen, die ungehinderten
Wechselverkehr mit der Auswanderung wünschen. Es ist öffentliches Geheimnis
im Lande, daß, wie bei der Zwischenwahl in Straßbnrg, so auch bei den all¬
gemeinen Wahlen von 1890 die Protestler als Preis für die Wahlenthaltung
von deu Gemäßigten verlangten, daß diese für die Abschaffung des Paßzwanges
eintreten sollten. Die vier ErzPriester in Lothringen, die aus den letzten Wahlen
hervorgingen, verdanken ihren Erfolg nur dem Verzicht der frühern Vertreter
oder andrer Bewerber, und diese traten zurück, weil sie befürchteten, daß die
Wiederwahl von Protestlern die Negierung derart verstimmen würde, daß vou
einer Aufhebung oder Milderung des Paßzwanges gar keine Rede mehr sein
könnte. Der Herrschaft des Paßzwanges sind die gemäßigten Wahlen von
1890 zu verdanken, und deshalb ist es eigentlich schnöder Undank, wenn die
aus diesen Wahlen hervvrgegnngenen Vertreter des Neichslandes gegen den
Paßzwang auftreten, der allein die französischen Einflüsse auf die Wahl fern-


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[0266] geregelt sei, daß „der Grenzgrabcn vertieft werden müsse." So oft wir aber über Paßzwang reden hörten oder darüber lasen, im Reichstage, im Landes¬ ausschusse, in der deutschen wie in der französischen Tagespresse, niemals war davon die Rede, wie weit denn wirklich von einer Grenzsperre oder nur von einer Erschwerung des Übertrittes die Rede sein könne. Wenn wir recht unter¬ richtet sind, so ist die Mehrheit der Fälle, in denen das Visa erteilt wird, längst so überwiegend, daß im großen und ganzen, da ja jetzt auch der Durch¬ gangsverkehr frei gegeben ist, höchstens noch von einer ungewöhnlichen Be¬ lästigung des Verkehrs zwischen Frankreich und Elsaß-Lothringen die Rede sein kann. Allerdings ist es für den Zurückgewiesenen ein geringer Trost, zu wissen, daß er zu einer Minderheit zählt. Wenn nun aber weitere Zugestündnisse gemacht werden sollen, soll dann die Frage des Bedürfnisses für die Aufent- haltsgewührung maßgebend erklärt werden oder die politische Wertschätzung des Nachsuchenden? Seit Einführung des Paßzwanges sind die sogenannten Aufenthaltserlaubnisse weggefallen, deren Beseitigung die Jnterpellation von Richter u. Gen. ins Auge faßte, während sie längst infolge juristischer, wohl etwas feinfühliger Bedenken über den Begriff der Meistbegünstigung aufgegeben worden waren. Daß sich die Herren Richter u. Gen. der Sache angenommen haben, dem Drängen des kürzlich verstorbenen Abgeordneten Grad von Colmar entsprechend, kann man von dem Standpunkte aus begreifen, daß sich die Partei dankbare Leute in einem Lande sichern wollte, aus dem bei den letzten Wahlen ganz unerwartet den Deutschkonservativen, den Nationalliberalen, den, Zentrum und den Sozialisten Beihilfe erwachsen war; man wollte auch in Süddeutschland Stimmen machen, wo man sich über die Unbequemlichkeiten des Paßzwanges ärgert, z. B. in Pforzheim, Stuttgart u. f. w. Wenn aber die Elsaß-Lothringer Abschaffung des Paßzwanges verlangen, so besorgen sie eigentlich die Geschäfte Frankreichs; aber man muß dabei zugestehen, daß die Landesvertreter auch deu Wünschen ihrer Wähler entsprechen, die ungehinderten Wechselverkehr mit der Auswanderung wünschen. Es ist öffentliches Geheimnis im Lande, daß, wie bei der Zwischenwahl in Straßbnrg, so auch bei den all¬ gemeinen Wahlen von 1890 die Protestler als Preis für die Wahlenthaltung von deu Gemäßigten verlangten, daß diese für die Abschaffung des Paßzwanges eintreten sollten. Die vier ErzPriester in Lothringen, die aus den letzten Wahlen hervorgingen, verdanken ihren Erfolg nur dem Verzicht der frühern Vertreter oder andrer Bewerber, und diese traten zurück, weil sie befürchteten, daß die Wiederwahl von Protestlern die Negierung derart verstimmen würde, daß vou einer Aufhebung oder Milderung des Paßzwanges gar keine Rede mehr sein könnte. Der Herrschaft des Paßzwanges sind die gemäßigten Wahlen von 1890 zu verdanken, und deshalb ist es eigentlich schnöder Undank, wenn die aus diesen Wahlen hervvrgegnngenen Vertreter des Neichslandes gegen den Paßzwang auftreten, der allein die französischen Einflüsse auf die Wahl fern-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/266>, abgerufen am 24.06.2024.