durchgreifender Revision der Reichsprozeßgesetze und zwar baldmöglichst eine Änderung in dem ZustelluugSwcseu zur Beseitigung der zu Tage getretenen Mängel und Härten eintreten zu lassen. Unleugbar ist das Znstellungsweseu derjenige Punkt, in dem sich die Fehler des bestehenden Prozesses am schmerz¬ lichsten fühlbar machen. Wir können aber nnr wünschen, daß die demnächstige Gesetzesvorlage sich nicht auf diesen Punkt beschränke. Denn das Zustelluugs- Wesen bildet nnr ein einzelnes Stück des ganzen Systems, wodurch dieser Prozeß sich, für die Parteiinteressen so verderblich erweist. Es ist ein Schicksal für Deutschland gewesen, das; es sich durch diesen französischen Prozeß hat bethören lassen.
Bildungsschwindel und Volksbeglückung
er Verein für Massenverbreitung guter Schriften hat in kurzer Zeit sein Netz über ganz Deutschland ausgebreitet; in allen größern Städten sind Zweigvereine entstanden, die mit aner¬ kennenswerter Rührigkeit für die neue Sache eintreten und überall Gönner und Mitglieder in großer Zahl zu werben wissen. Das wäre ein günstiges Zeichen, wenn nicht die Thatsache bestünde, daß kein Volk sich so erstaunlich leicht zu Vereine" krhstallisirt wie das deutsche, selbst da, wo es sich um die wunderlichsten Dinge handelt; wenn man uicht wüßte, mit welcher Vereitwilligkeit sich die meisten Menschen vor ihrem Gewissen und der Gesellschaft zu rechtfertigen suchen, wenn sie sich von den wissenschaftlichen, litterarischen, künstlerischen oder volkswirtschaftlichen Verpflichtungen, denen man nun doch einmal als gebildeter Mann unterworfen ist, dnrch Lösung einer Mitgliedskarte zu diesem oder jenein Vereine befreien können.
Mit Vereinsgründung und Beitragszahlung glauben dann die edeln Menschenfreunde genug gethan zu haben, um mit Selbstgerechtigkeit dem Ver¬ laufe der Zeit- und Streitfragen ruhig zuschauen zu dürfen. Wer sich die un¬ absehbare Reihe unsrer Vereine vergegenwärtigt, die tagtäglich wie Pilze aus der Erde hervorsprießen, wird dieser Ansicht beistimmen. Die Bereinssimpelei nimmt in Deutschland nachgerade einen solchen Umfang an, daß heutzutage Menschen, die nicht irgend einem Vereine angehören, bei uns kaum mehr zu finden sind. Wer sich von allein Vereinsleben fern hält -- und es giebt Gott sei Dank auch noch solche Leute --, der müßte sich gegenüber der beständig wachsenden Flut von Vereinsschriften, Aufforderungen und Berichten, die auf
durchgreifender Revision der Reichsprozeßgesetze und zwar baldmöglichst eine Änderung in dem ZustelluugSwcseu zur Beseitigung der zu Tage getretenen Mängel und Härten eintreten zu lassen. Unleugbar ist das Znstellungsweseu derjenige Punkt, in dem sich die Fehler des bestehenden Prozesses am schmerz¬ lichsten fühlbar machen. Wir können aber nnr wünschen, daß die demnächstige Gesetzesvorlage sich nicht auf diesen Punkt beschränke. Denn das Zustelluugs- Wesen bildet nnr ein einzelnes Stück des ganzen Systems, wodurch dieser Prozeß sich, für die Parteiinteressen so verderblich erweist. Es ist ein Schicksal für Deutschland gewesen, das; es sich durch diesen französischen Prozeß hat bethören lassen.
Bildungsschwindel und Volksbeglückung
er Verein für Massenverbreitung guter Schriften hat in kurzer Zeit sein Netz über ganz Deutschland ausgebreitet; in allen größern Städten sind Zweigvereine entstanden, die mit aner¬ kennenswerter Rührigkeit für die neue Sache eintreten und überall Gönner und Mitglieder in großer Zahl zu werben wissen. Das wäre ein günstiges Zeichen, wenn nicht die Thatsache bestünde, daß kein Volk sich so erstaunlich leicht zu Vereine» krhstallisirt wie das deutsche, selbst da, wo es sich um die wunderlichsten Dinge handelt; wenn man uicht wüßte, mit welcher Vereitwilligkeit sich die meisten Menschen vor ihrem Gewissen und der Gesellschaft zu rechtfertigen suchen, wenn sie sich von den wissenschaftlichen, litterarischen, künstlerischen oder volkswirtschaftlichen Verpflichtungen, denen man nun doch einmal als gebildeter Mann unterworfen ist, dnrch Lösung einer Mitgliedskarte zu diesem oder jenein Vereine befreien können.
Mit Vereinsgründung und Beitragszahlung glauben dann die edeln Menschenfreunde genug gethan zu haben, um mit Selbstgerechtigkeit dem Ver¬ laufe der Zeit- und Streitfragen ruhig zuschauen zu dürfen. Wer sich die un¬ absehbare Reihe unsrer Vereine vergegenwärtigt, die tagtäglich wie Pilze aus der Erde hervorsprießen, wird dieser Ansicht beistimmen. Die Bereinssimpelei nimmt in Deutschland nachgerade einen solchen Umfang an, daß heutzutage Menschen, die nicht irgend einem Vereine angehören, bei uns kaum mehr zu finden sind. Wer sich von allein Vereinsleben fern hält — und es giebt Gott sei Dank auch noch solche Leute —, der müßte sich gegenüber der beständig wachsenden Flut von Vereinsschriften, Aufforderungen und Berichten, die auf
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derjenige Punkt, in dem sich die Fehler des bestehenden Prozesses am schmerz¬
lichsten fühlbar machen. Wir können aber nnr wünschen, daß die demnächstige
Gesetzesvorlage sich nicht auf diesen Punkt beschränke. Denn das Zustelluugs-
Wesen bildet nnr ein einzelnes Stück des ganzen Systems, wodurch dieser Prozeß
sich, für die Parteiinteressen so verderblich erweist. Es ist ein Schicksal für
Deutschland gewesen, das; es sich durch diesen französischen Prozeß hat bethören
lassen.
Bildungsschwindel und Volksbeglückung
er Verein für Massenverbreitung guter Schriften hat in kurzer
Zeit sein Netz über ganz Deutschland ausgebreitet; in allen
größern Städten sind Zweigvereine entstanden, die mit aner¬
kennenswerter Rührigkeit für die neue Sache eintreten und überall
Gönner und Mitglieder in großer Zahl zu werben wissen. Das
wäre ein günstiges Zeichen, wenn nicht die Thatsache bestünde, daß kein Volk
sich so erstaunlich leicht zu Vereine» krhstallisirt wie das deutsche, selbst da,
wo es sich um die wunderlichsten Dinge handelt; wenn man uicht wüßte,
mit welcher Vereitwilligkeit sich die meisten Menschen vor ihrem Gewissen und
der Gesellschaft zu rechtfertigen suchen, wenn sie sich von den wissenschaftlichen,
litterarischen, künstlerischen oder volkswirtschaftlichen Verpflichtungen, denen man
nun doch einmal als gebildeter Mann unterworfen ist, dnrch Lösung einer
Mitgliedskarte zu diesem oder jenein Vereine befreien können.
Mit Vereinsgründung und Beitragszahlung glauben dann die edeln
Menschenfreunde genug gethan zu haben, um mit Selbstgerechtigkeit dem Ver¬
laufe der Zeit- und Streitfragen ruhig zuschauen zu dürfen. Wer sich die un¬
absehbare Reihe unsrer Vereine vergegenwärtigt, die tagtäglich wie Pilze aus
der Erde hervorsprießen, wird dieser Ansicht beistimmen. Die Bereinssimpelei
nimmt in Deutschland nachgerade einen solchen Umfang an, daß heutzutage
Menschen, die nicht irgend einem Vereine angehören, bei uns kaum mehr zu
finden sind. Wer sich von allein Vereinsleben fern hält — und es giebt Gott
sei Dank auch noch solche Leute —, der müßte sich gegenüber der beständig
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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/211>, abgerufen am 22.01.2025.
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