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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus dem wiener Theaterleben

diesen fünf Jahren günstig, es gelang ihm, in einem täglich erscheinenden
Wiener Blatte die Stellung eines Theaterkritikers zu erhalten, also die mit
seiner Broschüre betretene Bahn fortzusetzen. Viel Liebe hat er sich bei seinen
Zunftgenossen mehr erworben: er störte zu oft ihre Kreise. Aber Achtung vor
seinein Charakter konnte ihm niemand versagen. Er hat auch die Zeit redlich
ausgenutzt. Das Urteil über Bühuenwerke und Bühnenspiele kann doch nur
angesichts der Bühne gebildet und geläutert werden, und diese Bildung und
Läuterung hat sich Müller ganz ohne Zweifel bei seinem häufigen Theater¬
besuch in reichem Maße erworben und nichts unterlassen, ihr durch ausge¬
breitete geschichtliche Studien eine feste Grundlage zu geben. Davon legt seine
neue Broschüre,") die beinahe ein Buch geworden ist, Zeugnis ab.

Es ist wieder ein kritischer Augenblick und zwar ein sehr glücklich gewählter,
wo sie erscheint. Das Wiener Theaterleben hat in den letzten Jahren große
Wandlungen durchgemacht, manche Förderung, manchen Verlust erlitten. Das
Burgtheater ist in ein neues Hans übergesiedelt, wie man weiß, in ein Prächtiges
Hans, ein wahres Schmuckkästchen der Bnnknnst. Aber dieses neue Hans ist
so beschaffen, daß es auf die künstlerische Überlieferung des alten Burgtheaters
in einschneidender Weise zurückwirkt. Es hat einen so weiten Zuschauerraum,
dessen Akustik so wenig günstig ist, daß die Schauspieler sich eiuen neuen
Sprnchtvu aneignen müssen. Ihr klassisches intimes Spiel wird durch die
Weite des Raumes erschwert. Der technische Apparat des Bühnenranmes ist
ferner so umständlich und so schwierig, daß es wieder einige Jahre dauern
wird, bis es möglich sein wird, das ganze klassische Repertoire des alten Hauses
zu gewinnen. Außerdem hat die Leitung des Burgtheaters gerade in der letzten
Zeit starke Erschütterungen erfahren. Förster ist plötzlich gestorben; sein be¬
rufenster Nachfolger, Alfred Freiherr von Berger, der jahrelang als "artistischer
Sekretär" des Burgtheaters sich ans die Direktion desselben vorbereitet hat,
lst trotz seiner Vorzüge nicht Direktor geworden. Das Provisorium in der
Leitung des Burgtheaters dauert noch an, zum Schaden seiner gedeihlichen
Entwicklung. Dann das deutsche Volkstheater, das mit kaum jemals dagewesener
Begeisterung von der Wiener Bevölkerung begrüßt wurde, es ist nicht das
geworden, was mau von ihm erwartet hatte! Es ist jeden Abend bis aufs
letzte Plätzchen besetzt, aber um seinen höhern Beruf ist die Leitung des Volks¬
theaters wenig bemüht. Von den Vvrstadttheatern gedeiht nur eins in seinen,
alten Stile: das Josephstädter Theater, wo nach den "Gigerln" Chiavaccis
"Frau Sopherl" eingezogen ist und sich dauernd erhält. Das Carltheater ba¬
ngen hat beinahe schon seinen in der Josephstadt reich gewordenen Direktor
^lnsel ruinirt. Das Theater an der Wien hatte viel Glück mit einer neuen



Das Wiener Theaterleben von Adam Müller - Gnttenbrunn. Leipzig
Spanier, 1890.
Aus dem wiener Theaterleben

diesen fünf Jahren günstig, es gelang ihm, in einem täglich erscheinenden
Wiener Blatte die Stellung eines Theaterkritikers zu erhalten, also die mit
seiner Broschüre betretene Bahn fortzusetzen. Viel Liebe hat er sich bei seinen
Zunftgenossen mehr erworben: er störte zu oft ihre Kreise. Aber Achtung vor
seinein Charakter konnte ihm niemand versagen. Er hat auch die Zeit redlich
ausgenutzt. Das Urteil über Bühuenwerke und Bühnenspiele kann doch nur
angesichts der Bühne gebildet und geläutert werden, und diese Bildung und
Läuterung hat sich Müller ganz ohne Zweifel bei seinem häufigen Theater¬
besuch in reichem Maße erworben und nichts unterlassen, ihr durch ausge¬
breitete geschichtliche Studien eine feste Grundlage zu geben. Davon legt seine
neue Broschüre,") die beinahe ein Buch geworden ist, Zeugnis ab.

Es ist wieder ein kritischer Augenblick und zwar ein sehr glücklich gewählter,
wo sie erscheint. Das Wiener Theaterleben hat in den letzten Jahren große
Wandlungen durchgemacht, manche Förderung, manchen Verlust erlitten. Das
Burgtheater ist in ein neues Hans übergesiedelt, wie man weiß, in ein Prächtiges
Hans, ein wahres Schmuckkästchen der Bnnknnst. Aber dieses neue Hans ist
so beschaffen, daß es auf die künstlerische Überlieferung des alten Burgtheaters
in einschneidender Weise zurückwirkt. Es hat einen so weiten Zuschauerraum,
dessen Akustik so wenig günstig ist, daß die Schauspieler sich eiuen neuen
Sprnchtvu aneignen müssen. Ihr klassisches intimes Spiel wird durch die
Weite des Raumes erschwert. Der technische Apparat des Bühnenranmes ist
ferner so umständlich und so schwierig, daß es wieder einige Jahre dauern
wird, bis es möglich sein wird, das ganze klassische Repertoire des alten Hauses
zu gewinnen. Außerdem hat die Leitung des Burgtheaters gerade in der letzten
Zeit starke Erschütterungen erfahren. Förster ist plötzlich gestorben; sein be¬
rufenster Nachfolger, Alfred Freiherr von Berger, der jahrelang als „artistischer
Sekretär" des Burgtheaters sich ans die Direktion desselben vorbereitet hat,
lst trotz seiner Vorzüge nicht Direktor geworden. Das Provisorium in der
Leitung des Burgtheaters dauert noch an, zum Schaden seiner gedeihlichen
Entwicklung. Dann das deutsche Volkstheater, das mit kaum jemals dagewesener
Begeisterung von der Wiener Bevölkerung begrüßt wurde, es ist nicht das
geworden, was mau von ihm erwartet hatte! Es ist jeden Abend bis aufs
letzte Plätzchen besetzt, aber um seinen höhern Beruf ist die Leitung des Volks¬
theaters wenig bemüht. Von den Vvrstadttheatern gedeiht nur eins in seinen,
alten Stile: das Josephstädter Theater, wo nach den „Gigerln" Chiavaccis
«Frau Sopherl" eingezogen ist und sich dauernd erhält. Das Carltheater ba¬
ngen hat beinahe schon seinen in der Josephstadt reich gewordenen Direktor
^lnsel ruinirt. Das Theater an der Wien hatte viel Glück mit einer neuen



Das Wiener Theaterleben von Adam Müller - Gnttenbrunn. Leipzig
Spanier, 1890.
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[0093] Aus dem wiener Theaterleben diesen fünf Jahren günstig, es gelang ihm, in einem täglich erscheinenden Wiener Blatte die Stellung eines Theaterkritikers zu erhalten, also die mit seiner Broschüre betretene Bahn fortzusetzen. Viel Liebe hat er sich bei seinen Zunftgenossen mehr erworben: er störte zu oft ihre Kreise. Aber Achtung vor seinein Charakter konnte ihm niemand versagen. Er hat auch die Zeit redlich ausgenutzt. Das Urteil über Bühuenwerke und Bühnenspiele kann doch nur angesichts der Bühne gebildet und geläutert werden, und diese Bildung und Läuterung hat sich Müller ganz ohne Zweifel bei seinem häufigen Theater¬ besuch in reichem Maße erworben und nichts unterlassen, ihr durch ausge¬ breitete geschichtliche Studien eine feste Grundlage zu geben. Davon legt seine neue Broschüre,") die beinahe ein Buch geworden ist, Zeugnis ab. Es ist wieder ein kritischer Augenblick und zwar ein sehr glücklich gewählter, wo sie erscheint. Das Wiener Theaterleben hat in den letzten Jahren große Wandlungen durchgemacht, manche Förderung, manchen Verlust erlitten. Das Burgtheater ist in ein neues Hans übergesiedelt, wie man weiß, in ein Prächtiges Hans, ein wahres Schmuckkästchen der Bnnknnst. Aber dieses neue Hans ist so beschaffen, daß es auf die künstlerische Überlieferung des alten Burgtheaters in einschneidender Weise zurückwirkt. Es hat einen so weiten Zuschauerraum, dessen Akustik so wenig günstig ist, daß die Schauspieler sich eiuen neuen Sprnchtvu aneignen müssen. Ihr klassisches intimes Spiel wird durch die Weite des Raumes erschwert. Der technische Apparat des Bühnenranmes ist ferner so umständlich und so schwierig, daß es wieder einige Jahre dauern wird, bis es möglich sein wird, das ganze klassische Repertoire des alten Hauses zu gewinnen. Außerdem hat die Leitung des Burgtheaters gerade in der letzten Zeit starke Erschütterungen erfahren. Förster ist plötzlich gestorben; sein be¬ rufenster Nachfolger, Alfred Freiherr von Berger, der jahrelang als „artistischer Sekretär" des Burgtheaters sich ans die Direktion desselben vorbereitet hat, lst trotz seiner Vorzüge nicht Direktor geworden. Das Provisorium in der Leitung des Burgtheaters dauert noch an, zum Schaden seiner gedeihlichen Entwicklung. Dann das deutsche Volkstheater, das mit kaum jemals dagewesener Begeisterung von der Wiener Bevölkerung begrüßt wurde, es ist nicht das geworden, was mau von ihm erwartet hatte! Es ist jeden Abend bis aufs letzte Plätzchen besetzt, aber um seinen höhern Beruf ist die Leitung des Volks¬ theaters wenig bemüht. Von den Vvrstadttheatern gedeiht nur eins in seinen, alten Stile: das Josephstädter Theater, wo nach den „Gigerln" Chiavaccis «Frau Sopherl" eingezogen ist und sich dauernd erhält. Das Carltheater ba¬ ngen hat beinahe schon seinen in der Josephstadt reich gewordenen Direktor ^lnsel ruinirt. Das Theater an der Wien hatte viel Glück mit einer neuen Das Wiener Theaterleben von Adam Müller - Gnttenbrunn. Leipzig Spanier, 1890.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/93>, abgerufen am 28.09.2024.