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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zur Reform der Freiheitsstrafe

dieses Systems beziehen sich darauf, daß es sich in Amerika und namentlich
in Vvstou vollständig bewährt habe. Wach zeigt aber, daß es sich dort um
ein ganz andres System handelt. Es handelt sich dort überhaupt nicht um
den Aufschub der Strafverbüßung, sondern um den Aufschub der gerichtlichen
Abnrteilung. Der Thäter wird während einer gewissen Zeit nnter polizeiliche
Aufsicht und uicht vor Gericht gestellt, wenn er sich während dieser Zeit gut
aufführt, auch ist dieses Verfahren nnr zulässig bei Trunksucht, Prostitution,
geringen Friedeusbriichen, grobem Unfug, Sonntagsentheiligung, einfachem
Diebstahl, Anfall von Personen u. dergl. Ganz anders ist das in Belgien ein¬
geführte und jetzt auch uns empfohlene System der sogenannten "bedingten
Verurteilung," richtiger also des Strafnufschnbs. Da wird nicht Zwangs-
erziehung auf freiem Fuße, sondern Aufschub der zuerkannten Strafe gewährt,
wenn sich der Verurteilte während der Probefrist kein Verbrechen oder Ver¬
gehen irgend welcher Art zu Schulden kommen läßt. Die entehrende öffentliche
Gerichtsverhandlung wird also dem Thäter nicht erspart, und der Aufschub der
Strafvollziehung wirkt auf einen gewissenhaft fühlenden Menschen vielleicht
noch härter, als wenn er die Strafe verbüßt hätte, dem leicht verführbaren
nimmt er den Schrecken vor der Verurteilung, der harten Sünderseele macht
er das Strafurteil zum Spott. Da der Verurteilte während der Probezeit
nicht beaufsichtigt wird, so kann er inzwischen alles treiben, was er will, er
darf sich nur nicht erwischen lasset"; anch alles, was nur nnter den Begriff
der Übertretung fällt, kann er thun, ohne die aufgeschobene Strafe verbüßen
zu müssen. Eine Sicherheit der Besserung bietet dies System also nicht. Es
ist aber auch ungerechtfertigt, die aufgeschobene Strafe zu vollstrecken, wenn
der Verurteilte während der Probezeit eine mit der frühern That gar nicht
in irgend einem seelischen Zusammenhange stehende That verübt. Da mit dem
Strafaufschub eine Besserung des Verbrechers erzielt werden soll, so ist der
Aufschub logisch unanwendbar in alle" Fällen, wo nach Art der Gesetzesüber¬
tretung, nach der Persönlichkeit des Thäters oder nach der Art der Strafe
weder ein Rückfall noch ein Verderb durch die Strafe zu erwarten ist, mag
es eine Person betreffen, von der ein Rückfall überhaupt uicht zu erwarten ist,
oder mag es sich um eine Person handeln, deren gesellschaftliche Stellung und
deren Fortkommen durch die Vollziehung der Strafe uicht beeinträchtigt wird
oder bei der die That aus- einer grundsätzlichen Überzeugung, wie beim poli¬
tischen Verbrechen, entsprungen ist, oder endlich mag es sich um Personen
handeln, denen das Bestehen der Probe aus eigner Kraft doch uicht zuzutrauen
ist. Wann ist denn also der Strafaufschub um Platze? Darüber soll "der
allwissende Richter in seinem nllweisen Ermessen" entscheiden, dem man doch
selbst die Fähigkeit abspricht, das richtige Strafmaß zu finden, und dessen Er¬
messen jedenfalls vielen Zufälligkeiten unterworfen ist. Wir haben daher zu
fürchten, daß entweder der als Ausnahme angesehene Strafnusschub zur Regel


Zur Reform der Freiheitsstrafe

dieses Systems beziehen sich darauf, daß es sich in Amerika und namentlich
in Vvstou vollständig bewährt habe. Wach zeigt aber, daß es sich dort um
ein ganz andres System handelt. Es handelt sich dort überhaupt nicht um
den Aufschub der Strafverbüßung, sondern um den Aufschub der gerichtlichen
Abnrteilung. Der Thäter wird während einer gewissen Zeit nnter polizeiliche
Aufsicht und uicht vor Gericht gestellt, wenn er sich während dieser Zeit gut
aufführt, auch ist dieses Verfahren nnr zulässig bei Trunksucht, Prostitution,
geringen Friedeusbriichen, grobem Unfug, Sonntagsentheiligung, einfachem
Diebstahl, Anfall von Personen u. dergl. Ganz anders ist das in Belgien ein¬
geführte und jetzt auch uns empfohlene System der sogenannten „bedingten
Verurteilung," richtiger also des Strafnufschnbs. Da wird nicht Zwangs-
erziehung auf freiem Fuße, sondern Aufschub der zuerkannten Strafe gewährt,
wenn sich der Verurteilte während der Probefrist kein Verbrechen oder Ver¬
gehen irgend welcher Art zu Schulden kommen läßt. Die entehrende öffentliche
Gerichtsverhandlung wird also dem Thäter nicht erspart, und der Aufschub der
Strafvollziehung wirkt auf einen gewissenhaft fühlenden Menschen vielleicht
noch härter, als wenn er die Strafe verbüßt hätte, dem leicht verführbaren
nimmt er den Schrecken vor der Verurteilung, der harten Sünderseele macht
er das Strafurteil zum Spott. Da der Verurteilte während der Probezeit
nicht beaufsichtigt wird, so kann er inzwischen alles treiben, was er will, er
darf sich nur nicht erwischen lasset«; anch alles, was nur nnter den Begriff
der Übertretung fällt, kann er thun, ohne die aufgeschobene Strafe verbüßen
zu müssen. Eine Sicherheit der Besserung bietet dies System also nicht. Es
ist aber auch ungerechtfertigt, die aufgeschobene Strafe zu vollstrecken, wenn
der Verurteilte während der Probezeit eine mit der frühern That gar nicht
in irgend einem seelischen Zusammenhange stehende That verübt. Da mit dem
Strafaufschub eine Besserung des Verbrechers erzielt werden soll, so ist der
Aufschub logisch unanwendbar in alle» Fällen, wo nach Art der Gesetzesüber¬
tretung, nach der Persönlichkeit des Thäters oder nach der Art der Strafe
weder ein Rückfall noch ein Verderb durch die Strafe zu erwarten ist, mag
es eine Person betreffen, von der ein Rückfall überhaupt uicht zu erwarten ist,
oder mag es sich um eine Person handeln, deren gesellschaftliche Stellung und
deren Fortkommen durch die Vollziehung der Strafe uicht beeinträchtigt wird
oder bei der die That aus- einer grundsätzlichen Überzeugung, wie beim poli¬
tischen Verbrechen, entsprungen ist, oder endlich mag es sich um Personen
handeln, denen das Bestehen der Probe aus eigner Kraft doch uicht zuzutrauen
ist. Wann ist denn also der Strafaufschub um Platze? Darüber soll „der
allwissende Richter in seinem nllweisen Ermessen" entscheiden, dem man doch
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messen jedenfalls vielen Zufälligkeiten unterworfen ist. Wir haben daher zu
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[0575] Zur Reform der Freiheitsstrafe dieses Systems beziehen sich darauf, daß es sich in Amerika und namentlich in Vvstou vollständig bewährt habe. Wach zeigt aber, daß es sich dort um ein ganz andres System handelt. Es handelt sich dort überhaupt nicht um den Aufschub der Strafverbüßung, sondern um den Aufschub der gerichtlichen Abnrteilung. Der Thäter wird während einer gewissen Zeit nnter polizeiliche Aufsicht und uicht vor Gericht gestellt, wenn er sich während dieser Zeit gut aufführt, auch ist dieses Verfahren nnr zulässig bei Trunksucht, Prostitution, geringen Friedeusbriichen, grobem Unfug, Sonntagsentheiligung, einfachem Diebstahl, Anfall von Personen u. dergl. Ganz anders ist das in Belgien ein¬ geführte und jetzt auch uns empfohlene System der sogenannten „bedingten Verurteilung," richtiger also des Strafnufschnbs. Da wird nicht Zwangs- erziehung auf freiem Fuße, sondern Aufschub der zuerkannten Strafe gewährt, wenn sich der Verurteilte während der Probefrist kein Verbrechen oder Ver¬ gehen irgend welcher Art zu Schulden kommen läßt. Die entehrende öffentliche Gerichtsverhandlung wird also dem Thäter nicht erspart, und der Aufschub der Strafvollziehung wirkt auf einen gewissenhaft fühlenden Menschen vielleicht noch härter, als wenn er die Strafe verbüßt hätte, dem leicht verführbaren nimmt er den Schrecken vor der Verurteilung, der harten Sünderseele macht er das Strafurteil zum Spott. Da der Verurteilte während der Probezeit nicht beaufsichtigt wird, so kann er inzwischen alles treiben, was er will, er darf sich nur nicht erwischen lasset«; anch alles, was nur nnter den Begriff der Übertretung fällt, kann er thun, ohne die aufgeschobene Strafe verbüßen zu müssen. Eine Sicherheit der Besserung bietet dies System also nicht. Es ist aber auch ungerechtfertigt, die aufgeschobene Strafe zu vollstrecken, wenn der Verurteilte während der Probezeit eine mit der frühern That gar nicht in irgend einem seelischen Zusammenhange stehende That verübt. Da mit dem Strafaufschub eine Besserung des Verbrechers erzielt werden soll, so ist der Aufschub logisch unanwendbar in alle» Fällen, wo nach Art der Gesetzesüber¬ tretung, nach der Persönlichkeit des Thäters oder nach der Art der Strafe weder ein Rückfall noch ein Verderb durch die Strafe zu erwarten ist, mag es eine Person betreffen, von der ein Rückfall überhaupt uicht zu erwarten ist, oder mag es sich um eine Person handeln, deren gesellschaftliche Stellung und deren Fortkommen durch die Vollziehung der Strafe uicht beeinträchtigt wird oder bei der die That aus- einer grundsätzlichen Überzeugung, wie beim poli¬ tischen Verbrechen, entsprungen ist, oder endlich mag es sich um Personen handeln, denen das Bestehen der Probe aus eigner Kraft doch uicht zuzutrauen ist. Wann ist denn also der Strafaufschub um Platze? Darüber soll „der allwissende Richter in seinem nllweisen Ermessen" entscheiden, dem man doch selbst die Fähigkeit abspricht, das richtige Strafmaß zu finden, und dessen Er¬ messen jedenfalls vielen Zufälligkeiten unterworfen ist. Wir haben daher zu fürchten, daß entweder der als Ausnahme angesehene Strafnusschub zur Regel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/575>, abgerufen am 25.08.2024.