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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Schopenhauer und Richard Wagner

Physik angeeignet, aber der Musik hatte er metaphysische Aufgaben zugemutet,
die sie ebenso wenig wie irgend eine andre Macht der Welt zu erfülle" vermag,
und die Art, wie er der Musik dergleichen auszuüben aufgab, nötigt uns fast,
anzunehmen, daß er auch den Begriff des Metaphysischen selbst mißverstanden
habe: er hatte die Glocken läuten hören, aber nicht gesehen, wo sie hängen,
und noch weniger erkannt, daß das Begräbnis, zu dem sie läuteten, nämlich
das des gesunden Menschenverstandes, noch nicht stattgefunden hatte. Ob aber
dabei nicht doch etwas kulturhistorisch Bedeutsames herausgekommen ist?
Gewiß! Warum auch nicht? Manchmal hat ein Mißverständnis sogar
epidemische Geistes- oder Gemütskrankheit herbeigeführt, die gewiß etwas
kulturhistorisch Bedeutsames ist. Auch das wirkliche Verständnis einer be¬
stimmten Geistesrichtung oder Geistesverirrung ist dazu imstande gewesen: die
weiland Hegelei war die letzte deutsche "Influenz" dieser Art; sie ist zu bald
vergessen worden, wohl weil ihr Andenken für den patriotisch verehrten "deut¬
schen Geist" gar zu beschämend ist. Auf musikalischen Gebiete ist der be¬
kanntlich bis zur Kinderei getriebene Liszt-Schwindel, der in dieselbe Zeit fällt,
etwas Verwandtes: in jenem Falle täuschte, die Schule über deu erbärmlichen
Mangel an Genie, in diesem das Genie über den Mangel an Schule, wenn
man bedenkt, wodurch Liszt in jener Schwindelperiode am meisten "wirkte,"
nämlich durch seine als Kompositionen meist erbärmlichen Fantasien, die man
heute auch nur mit einer Art Beschämung von Tastenhelden noch nachträglich
herunterhämmern Hort, und deren vor allem Liszt selbst später nnr noch mit
Beschämung gedachte ("Ich mag das Zeug nicht mehr sehen," sagte er 1876
zum Verfasser dieser Zeilen). Die heute herrschende und sich immer noch weiter
verbreitende Wagner-Manie ist eine im Vergleich zum Liszt-Schwindel und selbst zur
Hegelei weit weniger harmlose Krankheit, denn sie stammt aus derselben Quelle
wie die Ibsen-Manie; beide Verirrungen sind zwei Arme desselben Stromes von
geistiger Epidemie, der sich gegenwärtig über Deutschland und weiter über die
"gebildete Welt" ergießt; das Bett gräbt ihnen das in Deutschland wohl im
Abnehmen, in Frankreich aber im Zunehmen begriffene Bekenntnis zur Schopen¬
hauerischen Metaphysik als Mystik wie als Pessimismus. Die Überschwemmung
der deutschen Bühne durch die Wagner-Strömung einerseits, die Ibsen-Strö¬
mung anderseits läßt sich in verschiednen Sinne, aber mit gleichem Recht als
die "Sichtbarkeit" einer Herrschaft der Kakoterpe als Muse der "Jetztzeit"
bezeichnen; und dies ist kulturgeschichtlich allerdings bedeutsam, mehr als uns
lieb sein kann. Die Quelle dieses stygischen Stromes, der sich gern Lethe
nennen hört, ist die romantische Leichtgläubigkeit des deutschen Geistes, die
sich zu willig von der "Wahrheit" imponiren läßt, ausgenommen die that¬
sächliche, geschichtlich oder naturwissenschaftlich begründete Wahrheit; und das,
weil er so viele Sorten Wahrheit kennt: innere und äußere, subjektive und
objektive, exakte und etwa theologische, endlich metaphysische und --


Schopenhauer und Richard Wagner

Physik angeeignet, aber der Musik hatte er metaphysische Aufgaben zugemutet,
die sie ebenso wenig wie irgend eine andre Macht der Welt zu erfülle» vermag,
und die Art, wie er der Musik dergleichen auszuüben aufgab, nötigt uns fast,
anzunehmen, daß er auch den Begriff des Metaphysischen selbst mißverstanden
habe: er hatte die Glocken läuten hören, aber nicht gesehen, wo sie hängen,
und noch weniger erkannt, daß das Begräbnis, zu dem sie läuteten, nämlich
das des gesunden Menschenverstandes, noch nicht stattgefunden hatte. Ob aber
dabei nicht doch etwas kulturhistorisch Bedeutsames herausgekommen ist?
Gewiß! Warum auch nicht? Manchmal hat ein Mißverständnis sogar
epidemische Geistes- oder Gemütskrankheit herbeigeführt, die gewiß etwas
kulturhistorisch Bedeutsames ist. Auch das wirkliche Verständnis einer be¬
stimmten Geistesrichtung oder Geistesverirrung ist dazu imstande gewesen: die
weiland Hegelei war die letzte deutsche „Influenz" dieser Art; sie ist zu bald
vergessen worden, wohl weil ihr Andenken für den patriotisch verehrten „deut¬
schen Geist" gar zu beschämend ist. Auf musikalischen Gebiete ist der be¬
kanntlich bis zur Kinderei getriebene Liszt-Schwindel, der in dieselbe Zeit fällt,
etwas Verwandtes: in jenem Falle täuschte, die Schule über deu erbärmlichen
Mangel an Genie, in diesem das Genie über den Mangel an Schule, wenn
man bedenkt, wodurch Liszt in jener Schwindelperiode am meisten „wirkte,"
nämlich durch seine als Kompositionen meist erbärmlichen Fantasien, die man
heute auch nur mit einer Art Beschämung von Tastenhelden noch nachträglich
herunterhämmern Hort, und deren vor allem Liszt selbst später nnr noch mit
Beschämung gedachte („Ich mag das Zeug nicht mehr sehen," sagte er 1876
zum Verfasser dieser Zeilen). Die heute herrschende und sich immer noch weiter
verbreitende Wagner-Manie ist eine im Vergleich zum Liszt-Schwindel und selbst zur
Hegelei weit weniger harmlose Krankheit, denn sie stammt aus derselben Quelle
wie die Ibsen-Manie; beide Verirrungen sind zwei Arme desselben Stromes von
geistiger Epidemie, der sich gegenwärtig über Deutschland und weiter über die
„gebildete Welt" ergießt; das Bett gräbt ihnen das in Deutschland wohl im
Abnehmen, in Frankreich aber im Zunehmen begriffene Bekenntnis zur Schopen¬
hauerischen Metaphysik als Mystik wie als Pessimismus. Die Überschwemmung
der deutschen Bühne durch die Wagner-Strömung einerseits, die Ibsen-Strö¬
mung anderseits läßt sich in verschiednen Sinne, aber mit gleichem Recht als
die „Sichtbarkeit" einer Herrschaft der Kakoterpe als Muse der „Jetztzeit"
bezeichnen; und dies ist kulturgeschichtlich allerdings bedeutsam, mehr als uns
lieb sein kann. Die Quelle dieses stygischen Stromes, der sich gern Lethe
nennen hört, ist die romantische Leichtgläubigkeit des deutschen Geistes, die
sich zu willig von der „Wahrheit" imponiren läßt, ausgenommen die that¬
sächliche, geschichtlich oder naturwissenschaftlich begründete Wahrheit; und das,
weil er so viele Sorten Wahrheit kennt: innere und äußere, subjektive und
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[0470] Schopenhauer und Richard Wagner Physik angeeignet, aber der Musik hatte er metaphysische Aufgaben zugemutet, die sie ebenso wenig wie irgend eine andre Macht der Welt zu erfülle» vermag, und die Art, wie er der Musik dergleichen auszuüben aufgab, nötigt uns fast, anzunehmen, daß er auch den Begriff des Metaphysischen selbst mißverstanden habe: er hatte die Glocken läuten hören, aber nicht gesehen, wo sie hängen, und noch weniger erkannt, daß das Begräbnis, zu dem sie läuteten, nämlich das des gesunden Menschenverstandes, noch nicht stattgefunden hatte. Ob aber dabei nicht doch etwas kulturhistorisch Bedeutsames herausgekommen ist? Gewiß! Warum auch nicht? Manchmal hat ein Mißverständnis sogar epidemische Geistes- oder Gemütskrankheit herbeigeführt, die gewiß etwas kulturhistorisch Bedeutsames ist. Auch das wirkliche Verständnis einer be¬ stimmten Geistesrichtung oder Geistesverirrung ist dazu imstande gewesen: die weiland Hegelei war die letzte deutsche „Influenz" dieser Art; sie ist zu bald vergessen worden, wohl weil ihr Andenken für den patriotisch verehrten „deut¬ schen Geist" gar zu beschämend ist. Auf musikalischen Gebiete ist der be¬ kanntlich bis zur Kinderei getriebene Liszt-Schwindel, der in dieselbe Zeit fällt, etwas Verwandtes: in jenem Falle täuschte, die Schule über deu erbärmlichen Mangel an Genie, in diesem das Genie über den Mangel an Schule, wenn man bedenkt, wodurch Liszt in jener Schwindelperiode am meisten „wirkte," nämlich durch seine als Kompositionen meist erbärmlichen Fantasien, die man heute auch nur mit einer Art Beschämung von Tastenhelden noch nachträglich herunterhämmern Hort, und deren vor allem Liszt selbst später nnr noch mit Beschämung gedachte („Ich mag das Zeug nicht mehr sehen," sagte er 1876 zum Verfasser dieser Zeilen). Die heute herrschende und sich immer noch weiter verbreitende Wagner-Manie ist eine im Vergleich zum Liszt-Schwindel und selbst zur Hegelei weit weniger harmlose Krankheit, denn sie stammt aus derselben Quelle wie die Ibsen-Manie; beide Verirrungen sind zwei Arme desselben Stromes von geistiger Epidemie, der sich gegenwärtig über Deutschland und weiter über die „gebildete Welt" ergießt; das Bett gräbt ihnen das in Deutschland wohl im Abnehmen, in Frankreich aber im Zunehmen begriffene Bekenntnis zur Schopen¬ hauerischen Metaphysik als Mystik wie als Pessimismus. Die Überschwemmung der deutschen Bühne durch die Wagner-Strömung einerseits, die Ibsen-Strö¬ mung anderseits läßt sich in verschiednen Sinne, aber mit gleichem Recht als die „Sichtbarkeit" einer Herrschaft der Kakoterpe als Muse der „Jetztzeit" bezeichnen; und dies ist kulturgeschichtlich allerdings bedeutsam, mehr als uns lieb sein kann. Die Quelle dieses stygischen Stromes, der sich gern Lethe nennen hört, ist die romantische Leichtgläubigkeit des deutschen Geistes, die sich zu willig von der „Wahrheit" imponiren läßt, ausgenommen die that¬ sächliche, geschichtlich oder naturwissenschaftlich begründete Wahrheit; und das, weil er so viele Sorten Wahrheit kennt: innere und äußere, subjektive und objektive, exakte und etwa theologische, endlich metaphysische und —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/470>, abgerufen am 28.09.2024.