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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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überliefert sein Schicksal der Nachwelt. Dies Ereignis ist im Laufe der Jahr¬
hunderte von einem ganzen Mythenkreis umsponnen worden, und es ist schwer
zu unterscheiden, was wahr und was falsch daran ist. Neuerdings haben
verschiedne Städte um Tile Kvlup gestritten, fast wie ehedem die sieben helle¬
nischen Städte um ihren Homer: mau hat die Wirksamkeit des falschen Friedrich
bald hier- bald dorthin verlegt, ja ganz geleugnet, das; er jemals gelebt habe --
dieses sicher mit Unrecht.

Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert bezeichnet, wie bei vielen
deutschen Städten, so auch bei Wetzlar den Höhepunkt seiner Macht. Mit
dein sinkenden Wohlstande der Bürger schwand auch das Ausehen nach außen.
Innere Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern und den Zünften führten eine
weitere Schwächung herbei, und allmählich gewährte sie, wie so viele ihrer
Genossinnen, das halb traurige, halb komische Bild eines Kleinstaates, wie sie
damals überall auf dem fruchtbaren Boden des ehrwürdigen deutschen Reiches
wucherten. Das Kontingent der freien Reichsstadt, die im Reichstage den
vierzehnten und letzten Platz ans der rheinischen Städtebank einnahm, bestand
nach der Reichsmatrikel aus acht Mann zu Fuß, einer Mannschaft, der
sie "die nötigen Unteroffiziere und einen Oberoffizier" vorzusetzen hatte; ihr
Beitrag zu der für die Unterhaltung des Neichsheeres bestimmten "Reichs¬
operationskasse" betrug 32 Gulden. Außerdem besaß Wetzlar zu eignem Schutz
eine Bürgerwehr, für deren Verhalten ans Wache "Bürgermeister und Rath
der Kaiserlichen und des Heiligen Reichs Freyen Stadt" im Jahre 1746 eine
Ordnung zu erlassen für gut fanden. Darin wurde den wachhabeudeu Bürgern
aufgegeben, "sich des Vrandeweinsaufens zu enthalten," und weiter bestimmt,
"daß ans ein Mal nicht mehr als ein Mann von der Wacht bei würklicher
Straf nach dem Essen gehen soll, damit die Wacht an nöthiger Mannschaft
nicht entblößet werde"; der die Wache habende Offizier sollte alle Morgen und
Abend "dem Herrn Bürgermeister und Stadthauptmann geziemend rapportiren"
und "nach löblichem Brauch und Herkommen auf Sonn- und Feyertagen, be¬
sonders unter der Kirche, die Stadtthore verschlossen halten." In einem "Kriege"
mit darmstädtischen Truppen erhielt diese Bürgerwehr Gelegenheit, eine Probe
ihres Mutes und ihrer Geschicklichkeit abzulegen. Es war im spanische" Erb-
folgekriege. Französische Truppen schwärmten ziemlich dicht an die Stadt heran,
nud der Landgraf von Hessen-Darmstadt hielt es, als vom Kaiser bestellter
Schutzvvgt der Stadt, für seine Pflicht, zur Verteidigung herbeizueilen. Die
guten Wetzlarer aber, vielleicht uicht ohne Grund für ihre Freiheit fürchtend,
schlössen vor dem unerwünschten Helfer die Thore und warfen die Hessen, die
jetzt aus Verteidigern der Stadt Belagerer wurden, von den Stadtmauern mit
Steinen. Sechs Tage währte diese denkwürdige Belagerung, einem Frosch¬
mäusekriege nicht ""ähnlich. Eine kurz darauf erschienene Spottschrift von den
Reichsta!>nnergerichtsprvkuratvre>i vo" Pulian und r),-, Liudheimer, betitelt


überliefert sein Schicksal der Nachwelt. Dies Ereignis ist im Laufe der Jahr¬
hunderte von einem ganzen Mythenkreis umsponnen worden, und es ist schwer
zu unterscheiden, was wahr und was falsch daran ist. Neuerdings haben
verschiedne Städte um Tile Kvlup gestritten, fast wie ehedem die sieben helle¬
nischen Städte um ihren Homer: mau hat die Wirksamkeit des falschen Friedrich
bald hier- bald dorthin verlegt, ja ganz geleugnet, das; er jemals gelebt habe —
dieses sicher mit Unrecht.

Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert bezeichnet, wie bei vielen
deutschen Städten, so auch bei Wetzlar den Höhepunkt seiner Macht. Mit
dein sinkenden Wohlstande der Bürger schwand auch das Ausehen nach außen.
Innere Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern und den Zünften führten eine
weitere Schwächung herbei, und allmählich gewährte sie, wie so viele ihrer
Genossinnen, das halb traurige, halb komische Bild eines Kleinstaates, wie sie
damals überall auf dem fruchtbaren Boden des ehrwürdigen deutschen Reiches
wucherten. Das Kontingent der freien Reichsstadt, die im Reichstage den
vierzehnten und letzten Platz ans der rheinischen Städtebank einnahm, bestand
nach der Reichsmatrikel aus acht Mann zu Fuß, einer Mannschaft, der
sie „die nötigen Unteroffiziere und einen Oberoffizier" vorzusetzen hatte; ihr
Beitrag zu der für die Unterhaltung des Neichsheeres bestimmten „Reichs¬
operationskasse" betrug 32 Gulden. Außerdem besaß Wetzlar zu eignem Schutz
eine Bürgerwehr, für deren Verhalten ans Wache „Bürgermeister und Rath
der Kaiserlichen und des Heiligen Reichs Freyen Stadt" im Jahre 1746 eine
Ordnung zu erlassen für gut fanden. Darin wurde den wachhabeudeu Bürgern
aufgegeben, „sich des Vrandeweinsaufens zu enthalten," und weiter bestimmt,
„daß ans ein Mal nicht mehr als ein Mann von der Wacht bei würklicher
Straf nach dem Essen gehen soll, damit die Wacht an nöthiger Mannschaft
nicht entblößet werde"; der die Wache habende Offizier sollte alle Morgen und
Abend „dem Herrn Bürgermeister und Stadthauptmann geziemend rapportiren"
und „nach löblichem Brauch und Herkommen auf Sonn- und Feyertagen, be¬
sonders unter der Kirche, die Stadtthore verschlossen halten." In einem „Kriege"
mit darmstädtischen Truppen erhielt diese Bürgerwehr Gelegenheit, eine Probe
ihres Mutes und ihrer Geschicklichkeit abzulegen. Es war im spanische» Erb-
folgekriege. Französische Truppen schwärmten ziemlich dicht an die Stadt heran,
nud der Landgraf von Hessen-Darmstadt hielt es, als vom Kaiser bestellter
Schutzvvgt der Stadt, für seine Pflicht, zur Verteidigung herbeizueilen. Die
guten Wetzlarer aber, vielleicht uicht ohne Grund für ihre Freiheit fürchtend,
schlössen vor dem unerwünschten Helfer die Thore und warfen die Hessen, die
jetzt aus Verteidigern der Stadt Belagerer wurden, von den Stadtmauern mit
Steinen. Sechs Tage währte diese denkwürdige Belagerung, einem Frosch¬
mäusekriege nicht »»ähnlich. Eine kurz darauf erschienene Spottschrift von den
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[0378] überliefert sein Schicksal der Nachwelt. Dies Ereignis ist im Laufe der Jahr¬ hunderte von einem ganzen Mythenkreis umsponnen worden, und es ist schwer zu unterscheiden, was wahr und was falsch daran ist. Neuerdings haben verschiedne Städte um Tile Kvlup gestritten, fast wie ehedem die sieben helle¬ nischen Städte um ihren Homer: mau hat die Wirksamkeit des falschen Friedrich bald hier- bald dorthin verlegt, ja ganz geleugnet, das; er jemals gelebt habe — dieses sicher mit Unrecht. Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert bezeichnet, wie bei vielen deutschen Städten, so auch bei Wetzlar den Höhepunkt seiner Macht. Mit dein sinkenden Wohlstande der Bürger schwand auch das Ausehen nach außen. Innere Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern und den Zünften führten eine weitere Schwächung herbei, und allmählich gewährte sie, wie so viele ihrer Genossinnen, das halb traurige, halb komische Bild eines Kleinstaates, wie sie damals überall auf dem fruchtbaren Boden des ehrwürdigen deutschen Reiches wucherten. Das Kontingent der freien Reichsstadt, die im Reichstage den vierzehnten und letzten Platz ans der rheinischen Städtebank einnahm, bestand nach der Reichsmatrikel aus acht Mann zu Fuß, einer Mannschaft, der sie „die nötigen Unteroffiziere und einen Oberoffizier" vorzusetzen hatte; ihr Beitrag zu der für die Unterhaltung des Neichsheeres bestimmten „Reichs¬ operationskasse" betrug 32 Gulden. Außerdem besaß Wetzlar zu eignem Schutz eine Bürgerwehr, für deren Verhalten ans Wache „Bürgermeister und Rath der Kaiserlichen und des Heiligen Reichs Freyen Stadt" im Jahre 1746 eine Ordnung zu erlassen für gut fanden. Darin wurde den wachhabeudeu Bürgern aufgegeben, „sich des Vrandeweinsaufens zu enthalten," und weiter bestimmt, „daß ans ein Mal nicht mehr als ein Mann von der Wacht bei würklicher Straf nach dem Essen gehen soll, damit die Wacht an nöthiger Mannschaft nicht entblößet werde"; der die Wache habende Offizier sollte alle Morgen und Abend „dem Herrn Bürgermeister und Stadthauptmann geziemend rapportiren" und „nach löblichem Brauch und Herkommen auf Sonn- und Feyertagen, be¬ sonders unter der Kirche, die Stadtthore verschlossen halten." In einem „Kriege" mit darmstädtischen Truppen erhielt diese Bürgerwehr Gelegenheit, eine Probe ihres Mutes und ihrer Geschicklichkeit abzulegen. Es war im spanische» Erb- folgekriege. Französische Truppen schwärmten ziemlich dicht an die Stadt heran, nud der Landgraf von Hessen-Darmstadt hielt es, als vom Kaiser bestellter Schutzvvgt der Stadt, für seine Pflicht, zur Verteidigung herbeizueilen. Die guten Wetzlarer aber, vielleicht uicht ohne Grund für ihre Freiheit fürchtend, schlössen vor dem unerwünschten Helfer die Thore und warfen die Hessen, die jetzt aus Verteidigern der Stadt Belagerer wurden, von den Stadtmauern mit Steinen. Sechs Tage währte diese denkwürdige Belagerung, einem Frosch¬ mäusekriege nicht »»ähnlich. Eine kurz darauf erschienene Spottschrift von den Reichsta!>nnergerichtsprvkuratvre>i vo» Pulian und r),-, Liudheimer, betitelt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/378>, abgerufen am 29.06.2024.