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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

die Leute forttreibt. Ja du lieber Himmel! Sein bißchen Vergnügen will
halt jeder Mensch haben, und was der ländliche Arbeiter, der im Sommer
Wochentags von früh um vier bis abends acht Uhr Schanze, des Sonntags
teils für fünfzig Pfennige, teils kostenlos sich verschaffen kann, ist nicht über¬
mäßig viel. Will man, daß er dem entsage, so muß man ihm entweder die
Mönchsgelübde abnehmen oder ihn an die Kette legen. Ohne Gelöbnis und
unangebunden bleibt kein gesunder Mensch auf die Dauer an einem Orte, wo
ihm verwehrt wird, sich auf seiue Weise zu Vergnügen. Auf feine Weise, das
versteht sich von selbst. Mulet man den Pferdeknechten und Stallmägden zu,
sich ihre freie Zeit etwa mit Goldschnittlitteratur zu vertreiben, so müssen die
Herrschaften ihre Glaeeehnndschuhe ausziehen und selber Mist laden, Kartoffeln
und Steine klauben; fein gewordene Knechte und Mügde thun das nicht mehr.
Der Verfeinernngsprvzeß macht so hübsche Fortschritte, daß die Eiferer für
Volksbildung ihre helle Freude daran haben müssen. Der Stallmagd wird
beigebracht, daß ihr hergebrachtes für die Arbeit in der Mistpfütze allein ge¬
eignetes Kostüm unanständig sei. Sie legt Beinkleider und lange Röcke an.
Das ist unbequem und kostet Geld. Dadurch wird ihr der ohnehin schwere
Dienst noch lästiger. Bald findet sie, daß auch die meisten ihrer Verrichtungen
an sich schon unanständig seien. Im nächsten Städtchen sitzt ein Menschen¬
freund, der -- natürlich nur aus reiner Nächstenliebe -- der armen Bevölke¬
rung der Umgegend mit einer neuen Industrie unter die Arme greift. Er
läßt filiren, häkeln, Wollfäden knüpfen. Bald sitzen in den benachbarten
Dörfern alle Kinder, sitzen und knüpfen, knüpfen von früh bis in die Nacht,
knüpfen sich lahm, bucklig, blind und blödsinnig. Auch unsre Kuhmagd greift
zur Filetnadel, die sich ja bedeutend leichter handhabt als die Mistgabel. Sie
ist nun eine Dame, ein Fräulein, sie stolzirt Sonntags in Kleidern herum,
die nach der neuesten Pariser Mode zugeschnitten sind, und siedelt sie in die
Stadt über, so kann sie überdies jeden Sonntag zu Tanze gehen. Nach ein
paar Jahren verduftet der Wohlthäter der Menschheit, nachdem er einigen
tausend jungen Landleuten das Mark aus den Knochen gesogen und zu Gelde
gemacht hat. Nun persuades unsre Kuhmagd wieder mit Sichel und Dünger¬
gabel. Allein es geht nicht mehr; bei ihrer Tündelarbeit und bei kraftloser
Nahrung hat sie ihre Muskelkraft und Gliedergelenkigkeit eingebüßt. So wird
von unserm kräftigen Volke eine Schicht nach der andern verfeinert und ver¬
krüppelt. Es giebt noch andre Dinge, die den Leuten in manchen Gegenden
das Leben leid machen. Rigorose Bestrafung der Schulversäumuisfe gehört
auch dahin. In eiuer frühern Nummer der Grenzboten wurde über das
Gegenteil geklagt. Aber man muß die Verhältnisse der armen, dünn bevölkerten
Landesteile erwägen: die Schule weit entfernt; der Weg bei Regenwetter un¬
ergründlich, bei Frostwetter Schneestürmen ausgesetzt; Kleidung und Schuhe
schlecht oder gar nicht vorhanden; im Sommer zu Hause kleine Geschwister,


Die soziale Frage

die Leute forttreibt. Ja du lieber Himmel! Sein bißchen Vergnügen will
halt jeder Mensch haben, und was der ländliche Arbeiter, der im Sommer
Wochentags von früh um vier bis abends acht Uhr Schanze, des Sonntags
teils für fünfzig Pfennige, teils kostenlos sich verschaffen kann, ist nicht über¬
mäßig viel. Will man, daß er dem entsage, so muß man ihm entweder die
Mönchsgelübde abnehmen oder ihn an die Kette legen. Ohne Gelöbnis und
unangebunden bleibt kein gesunder Mensch auf die Dauer an einem Orte, wo
ihm verwehrt wird, sich auf seiue Weise zu Vergnügen. Auf feine Weise, das
versteht sich von selbst. Mulet man den Pferdeknechten und Stallmägden zu,
sich ihre freie Zeit etwa mit Goldschnittlitteratur zu vertreiben, so müssen die
Herrschaften ihre Glaeeehnndschuhe ausziehen und selber Mist laden, Kartoffeln
und Steine klauben; fein gewordene Knechte und Mügde thun das nicht mehr.
Der Verfeinernngsprvzeß macht so hübsche Fortschritte, daß die Eiferer für
Volksbildung ihre helle Freude daran haben müssen. Der Stallmagd wird
beigebracht, daß ihr hergebrachtes für die Arbeit in der Mistpfütze allein ge¬
eignetes Kostüm unanständig sei. Sie legt Beinkleider und lange Röcke an.
Das ist unbequem und kostet Geld. Dadurch wird ihr der ohnehin schwere
Dienst noch lästiger. Bald findet sie, daß auch die meisten ihrer Verrichtungen
an sich schon unanständig seien. Im nächsten Städtchen sitzt ein Menschen¬
freund, der — natürlich nur aus reiner Nächstenliebe — der armen Bevölke¬
rung der Umgegend mit einer neuen Industrie unter die Arme greift. Er
läßt filiren, häkeln, Wollfäden knüpfen. Bald sitzen in den benachbarten
Dörfern alle Kinder, sitzen und knüpfen, knüpfen von früh bis in die Nacht,
knüpfen sich lahm, bucklig, blind und blödsinnig. Auch unsre Kuhmagd greift
zur Filetnadel, die sich ja bedeutend leichter handhabt als die Mistgabel. Sie
ist nun eine Dame, ein Fräulein, sie stolzirt Sonntags in Kleidern herum,
die nach der neuesten Pariser Mode zugeschnitten sind, und siedelt sie in die
Stadt über, so kann sie überdies jeden Sonntag zu Tanze gehen. Nach ein
paar Jahren verduftet der Wohlthäter der Menschheit, nachdem er einigen
tausend jungen Landleuten das Mark aus den Knochen gesogen und zu Gelde
gemacht hat. Nun persuades unsre Kuhmagd wieder mit Sichel und Dünger¬
gabel. Allein es geht nicht mehr; bei ihrer Tündelarbeit und bei kraftloser
Nahrung hat sie ihre Muskelkraft und Gliedergelenkigkeit eingebüßt. So wird
von unserm kräftigen Volke eine Schicht nach der andern verfeinert und ver¬
krüppelt. Es giebt noch andre Dinge, die den Leuten in manchen Gegenden
das Leben leid machen. Rigorose Bestrafung der Schulversäumuisfe gehört
auch dahin. In eiuer frühern Nummer der Grenzboten wurde über das
Gegenteil geklagt. Aber man muß die Verhältnisse der armen, dünn bevölkerten
Landesteile erwägen: die Schule weit entfernt; der Weg bei Regenwetter un¬
ergründlich, bei Frostwetter Schneestürmen ausgesetzt; Kleidung und Schuhe
schlecht oder gar nicht vorhanden; im Sommer zu Hause kleine Geschwister,


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[0376] Die soziale Frage die Leute forttreibt. Ja du lieber Himmel! Sein bißchen Vergnügen will halt jeder Mensch haben, und was der ländliche Arbeiter, der im Sommer Wochentags von früh um vier bis abends acht Uhr Schanze, des Sonntags teils für fünfzig Pfennige, teils kostenlos sich verschaffen kann, ist nicht über¬ mäßig viel. Will man, daß er dem entsage, so muß man ihm entweder die Mönchsgelübde abnehmen oder ihn an die Kette legen. Ohne Gelöbnis und unangebunden bleibt kein gesunder Mensch auf die Dauer an einem Orte, wo ihm verwehrt wird, sich auf seiue Weise zu Vergnügen. Auf feine Weise, das versteht sich von selbst. Mulet man den Pferdeknechten und Stallmägden zu, sich ihre freie Zeit etwa mit Goldschnittlitteratur zu vertreiben, so müssen die Herrschaften ihre Glaeeehnndschuhe ausziehen und selber Mist laden, Kartoffeln und Steine klauben; fein gewordene Knechte und Mügde thun das nicht mehr. Der Verfeinernngsprvzeß macht so hübsche Fortschritte, daß die Eiferer für Volksbildung ihre helle Freude daran haben müssen. Der Stallmagd wird beigebracht, daß ihr hergebrachtes für die Arbeit in der Mistpfütze allein ge¬ eignetes Kostüm unanständig sei. Sie legt Beinkleider und lange Röcke an. Das ist unbequem und kostet Geld. Dadurch wird ihr der ohnehin schwere Dienst noch lästiger. Bald findet sie, daß auch die meisten ihrer Verrichtungen an sich schon unanständig seien. Im nächsten Städtchen sitzt ein Menschen¬ freund, der — natürlich nur aus reiner Nächstenliebe — der armen Bevölke¬ rung der Umgegend mit einer neuen Industrie unter die Arme greift. Er läßt filiren, häkeln, Wollfäden knüpfen. Bald sitzen in den benachbarten Dörfern alle Kinder, sitzen und knüpfen, knüpfen von früh bis in die Nacht, knüpfen sich lahm, bucklig, blind und blödsinnig. Auch unsre Kuhmagd greift zur Filetnadel, die sich ja bedeutend leichter handhabt als die Mistgabel. Sie ist nun eine Dame, ein Fräulein, sie stolzirt Sonntags in Kleidern herum, die nach der neuesten Pariser Mode zugeschnitten sind, und siedelt sie in die Stadt über, so kann sie überdies jeden Sonntag zu Tanze gehen. Nach ein paar Jahren verduftet der Wohlthäter der Menschheit, nachdem er einigen tausend jungen Landleuten das Mark aus den Knochen gesogen und zu Gelde gemacht hat. Nun persuades unsre Kuhmagd wieder mit Sichel und Dünger¬ gabel. Allein es geht nicht mehr; bei ihrer Tündelarbeit und bei kraftloser Nahrung hat sie ihre Muskelkraft und Gliedergelenkigkeit eingebüßt. So wird von unserm kräftigen Volke eine Schicht nach der andern verfeinert und ver¬ krüppelt. Es giebt noch andre Dinge, die den Leuten in manchen Gegenden das Leben leid machen. Rigorose Bestrafung der Schulversäumuisfe gehört auch dahin. In eiuer frühern Nummer der Grenzboten wurde über das Gegenteil geklagt. Aber man muß die Verhältnisse der armen, dünn bevölkerten Landesteile erwägen: die Schule weit entfernt; der Weg bei Regenwetter un¬ ergründlich, bei Frostwetter Schneestürmen ausgesetzt; Kleidung und Schuhe schlecht oder gar nicht vorhanden; im Sommer zu Hause kleine Geschwister,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/376>, abgerufen am 28.09.2024.