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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus den Jugendjcihren der Sozicildemokratie

bekannt, infolge dessen versiegten die Geldquellen im Publikum, und man sah
sich genötigt, das Versammlungshaus zu rünnen und deu <Ac>hö eingehen zu
lassen. Enfantin zog mit den wenigen ihm treu gebliebenen nach einem kleinen
Landgute in Menilmontnnt bei Paris, um hier mit ihnen die Praxis des
Se. Simonismus zu beginnen, die man bisher gänzlich versäumt hatte. Die
"Familie" wurde zu einer Art Orden mit eigner Tracht. Zum Beweise, daß
die Emanzipation des Fleisches nicht zur Befriedigung grober Sinnlichkeit
dienen sollte, fanden nur "Brüder" Aufnahme in die Gemeinde, deren Ange¬
hörige auf alles persönliche Eigentum verzichteten und nur vom Ertrage ihrer
Handarbeit lebten. Tagelöhner und Dienstboten gab es in ihr uicht, "weil das
an Sklaverei erinnerte," und so verrichteten alle "Familienglieder" der Reihe
nach selbst die niedrigsten Geschäfte des Haushaltes. Jeder Tag wurde mit
Gebeten, Hymnen und Predigten eröffnet und geschlossen.

Trotz des harmlosen Charakters dieser Lebensweise hatte die Regierung
Grund, dem "Vater" Enfantin und seinen Kindern zu mißtrauen. Sie ließ sie
Polizeilich überwachen und stellte sie zuletzt vor Gericht, wo sie in feierlichem
Aufzuge erschienen und sich mit viel Geschick und Energie verteidigten. Als
der Präsident des Gerichtshofes an Enfantin die Frage richtete, ob es wahr
se'i, daß er sich den Vater des Menschengeschlechtes und das lebendige Gesetz
nenne, erhielt er ein kaltblütiges und zuversichtliches Ja zur Antwort. Der
erste Teil der Anklage, gesetzwidrige Verbindung, ließ sich nicht in Abrede
stellen, da ein Gesetz ausdrücklich jeden Verein und selbst jede regelmäßige
Zusammenkunft vou mehr als zwanzig Personen von obrigkeitlicher Erlaubnis
abhängig machte, und eine solche nicht eingeholt worden war. Dagegen
richteten die Se. Simonisten das gmize Feuer ihrer Beredsamkeit auf den
zweiten Teil, der sie der Verbreitung unsittlicher Lehren beschuldigte. Jedem
Vorwurfe der Unsittlich leit ihrer Theorie setzten sie einen Beweis der Unsitt-
lichkeit der im gesellschaftlichen Leben Frankreichs geltenden Praxis entgegen,
deren Besserung nur durch offne Anerkennung der Bedürfnisse und Rechte der
'menschlichen Natur möglich sei. Erfolg freilich erzielten sie damit bei ihren
Richtern nicht: der Prozeß endigte damit, daß die drei Hauptangeklagteu
Enfantin, Chevallicr und Duveyrier zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt
wurden. Mit der Vollziehung dieses Spruches löste sich die "Familie" von
Menilmontnnt auf (im August 1832), und ehe ein Jahr vergangen war, sprach
man vom Se. Simonismus uur noch wie von einer halbverschollenen Verrücktheit,
Kor der schwer zu begreifen sei, wie so viele sonst ganz verständige Männer
sich von ihr hätten anstecken lassen. Das Bewußtsein aber von dem Gegen¬
satz zwischen Kapital und Arbeit, das die Sekte wachgerufen hatte, blieb in
den Gemütern erhalten und wurde durch deu Fourierisinns weiter ausgebildet.
Über diesen in einem zweiten Abschnitt.




Grenzboten 1l 18904
Aus den Jugendjcihren der Sozicildemokratie

bekannt, infolge dessen versiegten die Geldquellen im Publikum, und man sah
sich genötigt, das Versammlungshaus zu rünnen und deu <Ac>hö eingehen zu
lassen. Enfantin zog mit den wenigen ihm treu gebliebenen nach einem kleinen
Landgute in Menilmontnnt bei Paris, um hier mit ihnen die Praxis des
Se. Simonismus zu beginnen, die man bisher gänzlich versäumt hatte. Die
„Familie" wurde zu einer Art Orden mit eigner Tracht. Zum Beweise, daß
die Emanzipation des Fleisches nicht zur Befriedigung grober Sinnlichkeit
dienen sollte, fanden nur „Brüder" Aufnahme in die Gemeinde, deren Ange¬
hörige auf alles persönliche Eigentum verzichteten und nur vom Ertrage ihrer
Handarbeit lebten. Tagelöhner und Dienstboten gab es in ihr uicht, „weil das
an Sklaverei erinnerte," und so verrichteten alle „Familienglieder" der Reihe
nach selbst die niedrigsten Geschäfte des Haushaltes. Jeder Tag wurde mit
Gebeten, Hymnen und Predigten eröffnet und geschlossen.

Trotz des harmlosen Charakters dieser Lebensweise hatte die Regierung
Grund, dem „Vater" Enfantin und seinen Kindern zu mißtrauen. Sie ließ sie
Polizeilich überwachen und stellte sie zuletzt vor Gericht, wo sie in feierlichem
Aufzuge erschienen und sich mit viel Geschick und Energie verteidigten. Als
der Präsident des Gerichtshofes an Enfantin die Frage richtete, ob es wahr
se'i, daß er sich den Vater des Menschengeschlechtes und das lebendige Gesetz
nenne, erhielt er ein kaltblütiges und zuversichtliches Ja zur Antwort. Der
erste Teil der Anklage, gesetzwidrige Verbindung, ließ sich nicht in Abrede
stellen, da ein Gesetz ausdrücklich jeden Verein und selbst jede regelmäßige
Zusammenkunft vou mehr als zwanzig Personen von obrigkeitlicher Erlaubnis
abhängig machte, und eine solche nicht eingeholt worden war. Dagegen
richteten die Se. Simonisten das gmize Feuer ihrer Beredsamkeit auf den
zweiten Teil, der sie der Verbreitung unsittlicher Lehren beschuldigte. Jedem
Vorwurfe der Unsittlich leit ihrer Theorie setzten sie einen Beweis der Unsitt-
lichkeit der im gesellschaftlichen Leben Frankreichs geltenden Praxis entgegen,
deren Besserung nur durch offne Anerkennung der Bedürfnisse und Rechte der
'menschlichen Natur möglich sei. Erfolg freilich erzielten sie damit bei ihren
Richtern nicht: der Prozeß endigte damit, daß die drei Hauptangeklagteu
Enfantin, Chevallicr und Duveyrier zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt
wurden. Mit der Vollziehung dieses Spruches löste sich die „Familie" von
Menilmontnnt auf (im August 1832), und ehe ein Jahr vergangen war, sprach
man vom Se. Simonismus uur noch wie von einer halbverschollenen Verrücktheit,
Kor der schwer zu begreifen sei, wie so viele sonst ganz verständige Männer
sich von ihr hätten anstecken lassen. Das Bewußtsein aber von dem Gegen¬
satz zwischen Kapital und Arbeit, das die Sekte wachgerufen hatte, blieb in
den Gemütern erhalten und wurde durch deu Fourierisinns weiter ausgebildet.
Über diesen in einem zweiten Abschnitt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/33>, abgerufen am 22.07.2024.