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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ans den Jugendjahren der Sozialdemokratie

wert und in ihrem die Republik erstrebenden Teile und das vorwiegend gegen
die Staatsform gleichgültige Proletariat gemeinschaftlich, der Gewinn aber fiel
mir den konstitutionellen Bourgeois zu, der Wahlzensus wurde so wenig ver¬
ändert, daß auch jetzt kein Arbeiter ins Abgeordnetenhaus gelangen und hier
die Interessen seines Standes vertreten konnte. Der dritte Stand hatte sich
seine Stellung gesichert, der vierte galt nach wie vor im Staate nichts, und
er sah sich zugleich durch die Revolution materiell benachteiligt. Sie hatte
die Industrie erschüttert, die Kapitalien zogen sich zurück, es gab weniger
Arbeit, und der Lohn sank. Das Proletariat war unzufrieden und wendete
lieb infolge dessen mehr als bisher den Republikanern zu, die durch die Re¬
volution anch nichts erreicht hatten und den Arbeitern ebenfalls ihren Anteil
an der Staatsgewalt und Gelegenheit, ihre Interessen wahrzunehmen, versprachen.
Der vierte Stand, jetzt als xsupls bezeichnet, trennte sich in seinen politischen
Bestrebungen von dem konstitutionellen Teile des dritten und verschmolz mit
dessen republikanischen Teile durch die geheimen Gesellschaften, die zur Ver¬
wirklichung der Republik gegründet worden waren. Solche Gesellschaften
Mitten schon unter der Herrschaft der Bourbonen bestanden.

Die erste war die zur Zeit des "weißen Terrorismus" in Grenoble ge¬
gründete und bald darauf nach Paris verpflanzte "Union," die namentlich
"meer den jungen Leuten der gebildeten und besitzenden Stände viel Anhang
l"ud und den Zweck verfolgte, durch Unterstützung der liberalen Presse und
durch Beeinflussung der Wahlen gegen die Ultraroyalisten und für das kon¬
stitutionelle System zu wirken. Neben ihr bildete sich die "Gesellschaft der
freunde der Preßfreiheit," an deren Spitze Männer wie der Herzog von Brvglie,
^"fayette und Lafitte standen, und die zwei Jahre lang die eigentliche Vertretung
^er liberalen Interessen in Frankreich bildete. Als die Negierung sie dann
auflöste, blieb ihr geheimer Ausschuß (corneo Ä'aeUou) bestehen, worin Lafn-
hette die Hauptrolle spielte, und der den Sieg der liberalen Grundsätze nur
von einem Dynastiewechsel erwartete. Man setzte sich zu diesem Zweck erst
dann 1819 durch den in Brüssel lebenden Generale Lcnuarqne mit dem
^'Uizen von Oranien in Verbindung, der mit den unter seinem Befehle stehenden
'Uederländischen Truppen als Befreier vom Joche der Bourbonen in Frankreich
Uirücten, ihm Belgiens Besitz mitbringen und so als doppelt willkommen König
^' Franzosen werden sollte -- ein Plan, der dem Könige von Holland ver¬
dien und von ihm vereitelt wurde. Die Ermordung des Herzogs von Berry
? die ihr folgende Reaktion trieben die geheimen Verschwörungen in Ver¬
jüng ans einander, aber nach kurzer Zeit hatten Lafayette und einige ehe-
^ lge Mitglieder der "Union" eine neue Verbindung zu Stande gebracht, die
gMich nur den Schutz politischer Gefangenen und die Fürsorge für deren
, ^hörige in: Auge hatte, deren geheimer Zentralausschuß (oomitv äirsoteui-)
^' sich eifrig bemühte, einen Aufstand und den Sturz des regierenden Hauses


Ans den Jugendjahren der Sozialdemokratie

wert und in ihrem die Republik erstrebenden Teile und das vorwiegend gegen
die Staatsform gleichgültige Proletariat gemeinschaftlich, der Gewinn aber fiel
mir den konstitutionellen Bourgeois zu, der Wahlzensus wurde so wenig ver¬
ändert, daß auch jetzt kein Arbeiter ins Abgeordnetenhaus gelangen und hier
die Interessen seines Standes vertreten konnte. Der dritte Stand hatte sich
seine Stellung gesichert, der vierte galt nach wie vor im Staate nichts, und
er sah sich zugleich durch die Revolution materiell benachteiligt. Sie hatte
die Industrie erschüttert, die Kapitalien zogen sich zurück, es gab weniger
Arbeit, und der Lohn sank. Das Proletariat war unzufrieden und wendete
lieb infolge dessen mehr als bisher den Republikanern zu, die durch die Re¬
volution anch nichts erreicht hatten und den Arbeitern ebenfalls ihren Anteil
an der Staatsgewalt und Gelegenheit, ihre Interessen wahrzunehmen, versprachen.
Der vierte Stand, jetzt als xsupls bezeichnet, trennte sich in seinen politischen
Bestrebungen von dem konstitutionellen Teile des dritten und verschmolz mit
dessen republikanischen Teile durch die geheimen Gesellschaften, die zur Ver¬
wirklichung der Republik gegründet worden waren. Solche Gesellschaften
Mitten schon unter der Herrschaft der Bourbonen bestanden.

Die erste war die zur Zeit des „weißen Terrorismus" in Grenoble ge¬
gründete und bald darauf nach Paris verpflanzte „Union," die namentlich
»meer den jungen Leuten der gebildeten und besitzenden Stände viel Anhang
l"ud und den Zweck verfolgte, durch Unterstützung der liberalen Presse und
durch Beeinflussung der Wahlen gegen die Ultraroyalisten und für das kon¬
stitutionelle System zu wirken. Neben ihr bildete sich die „Gesellschaft der
freunde der Preßfreiheit," an deren Spitze Männer wie der Herzog von Brvglie,
^"fayette und Lafitte standen, und die zwei Jahre lang die eigentliche Vertretung
^er liberalen Interessen in Frankreich bildete. Als die Negierung sie dann
auflöste, blieb ihr geheimer Ausschuß (corneo Ä'aeUou) bestehen, worin Lafn-
hette die Hauptrolle spielte, und der den Sieg der liberalen Grundsätze nur
von einem Dynastiewechsel erwartete. Man setzte sich zu diesem Zweck erst
dann 1819 durch den in Brüssel lebenden Generale Lcnuarqne mit dem
^'Uizen von Oranien in Verbindung, der mit den unter seinem Befehle stehenden
'Uederländischen Truppen als Befreier vom Joche der Bourbonen in Frankreich
Uirücten, ihm Belgiens Besitz mitbringen und so als doppelt willkommen König
^' Franzosen werden sollte — ein Plan, der dem Könige von Holland ver¬
dien und von ihm vereitelt wurde. Die Ermordung des Herzogs von Berry
? die ihr folgende Reaktion trieben die geheimen Verschwörungen in Ver¬
jüng ans einander, aber nach kurzer Zeit hatten Lafayette und einige ehe-
^ lge Mitglieder der „Union" eine neue Verbindung zu Stande gebracht, die
gMich nur den Schutz politischer Gefangenen und die Fürsorge für deren
, ^hörige in: Auge hatte, deren geheimer Zentralausschuß (oomitv äirsoteui-)
^' sich eifrig bemühte, einen Aufstand und den Sturz des regierenden Hauses


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[0213] Ans den Jugendjahren der Sozialdemokratie wert und in ihrem die Republik erstrebenden Teile und das vorwiegend gegen die Staatsform gleichgültige Proletariat gemeinschaftlich, der Gewinn aber fiel mir den konstitutionellen Bourgeois zu, der Wahlzensus wurde so wenig ver¬ ändert, daß auch jetzt kein Arbeiter ins Abgeordnetenhaus gelangen und hier die Interessen seines Standes vertreten konnte. Der dritte Stand hatte sich seine Stellung gesichert, der vierte galt nach wie vor im Staate nichts, und er sah sich zugleich durch die Revolution materiell benachteiligt. Sie hatte die Industrie erschüttert, die Kapitalien zogen sich zurück, es gab weniger Arbeit, und der Lohn sank. Das Proletariat war unzufrieden und wendete lieb infolge dessen mehr als bisher den Republikanern zu, die durch die Re¬ volution anch nichts erreicht hatten und den Arbeitern ebenfalls ihren Anteil an der Staatsgewalt und Gelegenheit, ihre Interessen wahrzunehmen, versprachen. Der vierte Stand, jetzt als xsupls bezeichnet, trennte sich in seinen politischen Bestrebungen von dem konstitutionellen Teile des dritten und verschmolz mit dessen republikanischen Teile durch die geheimen Gesellschaften, die zur Ver¬ wirklichung der Republik gegründet worden waren. Solche Gesellschaften Mitten schon unter der Herrschaft der Bourbonen bestanden. Die erste war die zur Zeit des „weißen Terrorismus" in Grenoble ge¬ gründete und bald darauf nach Paris verpflanzte „Union," die namentlich »meer den jungen Leuten der gebildeten und besitzenden Stände viel Anhang l"ud und den Zweck verfolgte, durch Unterstützung der liberalen Presse und durch Beeinflussung der Wahlen gegen die Ultraroyalisten und für das kon¬ stitutionelle System zu wirken. Neben ihr bildete sich die „Gesellschaft der freunde der Preßfreiheit," an deren Spitze Männer wie der Herzog von Brvglie, ^"fayette und Lafitte standen, und die zwei Jahre lang die eigentliche Vertretung ^er liberalen Interessen in Frankreich bildete. Als die Negierung sie dann auflöste, blieb ihr geheimer Ausschuß (corneo Ä'aeUou) bestehen, worin Lafn- hette die Hauptrolle spielte, und der den Sieg der liberalen Grundsätze nur von einem Dynastiewechsel erwartete. Man setzte sich zu diesem Zweck erst dann 1819 durch den in Brüssel lebenden Generale Lcnuarqne mit dem ^'Uizen von Oranien in Verbindung, der mit den unter seinem Befehle stehenden 'Uederländischen Truppen als Befreier vom Joche der Bourbonen in Frankreich Uirücten, ihm Belgiens Besitz mitbringen und so als doppelt willkommen König ^' Franzosen werden sollte — ein Plan, der dem Könige von Holland ver¬ dien und von ihm vereitelt wurde. Die Ermordung des Herzogs von Berry ? die ihr folgende Reaktion trieben die geheimen Verschwörungen in Ver¬ jüng ans einander, aber nach kurzer Zeit hatten Lafayette und einige ehe- ^ lge Mitglieder der „Union" eine neue Verbindung zu Stande gebracht, die gMich nur den Schutz politischer Gefangenen und die Fürsorge für deren , ^hörige in: Auge hatte, deren geheimer Zentralausschuß (oomitv äirsoteui-) ^' sich eifrig bemühte, einen Aufstand und den Sturz des regierenden Hauses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/213>, abgerufen am 24.08.2024.