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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zwei Zchanspiele von Henrik Ibsen

gäbe, wenn sie es der ernster" Schwester gleichthun will. Moritz Carriere
eignet sich Spielhagens glücklichen Ausdruck ein, dnß der Dichter Finder und
Erfinder in einer Person sei; alles scheint gegeben, nach Modellen gearbeitet,
"ut doch ist nichts gegeben, denn nichts kann so verwandt werden wie es
gegeben ist. Und Schiller spricht die goldnen Worte- "Zweierlei gehört zum
Künstler, daß er sich über das Wirkliche erhebt, und daß er innerhalb des
Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst.
Aber in einer ungünstigen formlosen Natur verläßt er mit dein Wirklichen nur
zu leicht auch das Sinnliche und wird idealistisch, und wenn sein Verstand
schwach ist, gar phantastisch; oder will er und muß er durch seine Natur ge¬
nötigt in der Sinnlichkeit bleiben, so bleibt er gern mich bei dem Wirklichen
stehen und wird in beschränkter Bedeutung des Wortes realistisch, und wenn
e's ihm ganz an Phantasie sehlt, knechtisch und gemein. In beiden Fällen
also ist er nicht ästhetisch . . . Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich
">it Zufälligkeiten und Nebendinge" herum, und über dein Bestreben, der
Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dein Leeren und Un¬
bedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu ver¬
lieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen
Fall vollkommen nachahmen, und bedenkt nicht, daß eine poetische Darstellung
mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, nicht koinzidiren
dnn." Nach Schiller sind also alle poetischen Gestalten symbolisch und stellen
immer das Allgemeine der Menschheit dar. Gottschall endlich erklärt mit
psychologischen: Tiefblick: "Es ist ein bedauerliches Zeichen, daß ganze litte¬
rarische Richtungen, die nicht mir den Zeitgenossen imponirten, sondern sogar
den politische" Großmeisteru beschützt wurden, eigentlich aus ganz ab¬
normen Seelenzuständen hervorgegangen sind, die mehr in das Gebiet der
Seelenheilkunde gehören als in das der Litteratur. Das Interessante solcher
pathologischen Entwicklungen hat mit dem Interesse an der objektiven künstle¬
rischen Leistung nichts gemein; es geht aus dem Juteresse hervor, das die
raffinirte Bildung an allen Mißbildungen und Verzerrungen nimmt, nachdem
die organische Gesundheit langweilig geworden ist." Das ist leider der
Kernpunkt zur Erklärung vieler Erfolge des modernen "Realismus."

Doch getrost! Wenn sogar schon der theoretisirende Wagemut eiues Zola
wankt, wen" ein Ibsen einen "Volksfeind" oder gar eine "Fran vom Meer"
"uf lediglich erträumten Grundlagen auferbaut, dann ist die Götterdämmerung
nahe, deren sengende Lohe die Schlagwörter ihrer viel befangeneren Jünger
hinwegfegen und hoffentlich in einer geläuterten Form wieder aufleben
^sser wird.

Ibsen ist, wie gesagt, in seinen sozialen Stücken ein schroffer Programm-
°^ster und darum natürlich stets einseitig. Indem er gewisse gesellschaftliche
Zustände an seinen mehr oder minder hochgespannter Idealen mißt und den


Zwei Zchanspiele von Henrik Ibsen

gäbe, wenn sie es der ernster» Schwester gleichthun will. Moritz Carriere
eignet sich Spielhagens glücklichen Ausdruck ein, dnß der Dichter Finder und
Erfinder in einer Person sei; alles scheint gegeben, nach Modellen gearbeitet,
»ut doch ist nichts gegeben, denn nichts kann so verwandt werden wie es
gegeben ist. Und Schiller spricht die goldnen Worte- „Zweierlei gehört zum
Künstler, daß er sich über das Wirkliche erhebt, und daß er innerhalb des
Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst.
Aber in einer ungünstigen formlosen Natur verläßt er mit dein Wirklichen nur
zu leicht auch das Sinnliche und wird idealistisch, und wenn sein Verstand
schwach ist, gar phantastisch; oder will er und muß er durch seine Natur ge¬
nötigt in der Sinnlichkeit bleiben, so bleibt er gern mich bei dem Wirklichen
stehen und wird in beschränkter Bedeutung des Wortes realistisch, und wenn
e's ihm ganz an Phantasie sehlt, knechtisch und gemein. In beiden Fällen
also ist er nicht ästhetisch . . . Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich
">it Zufälligkeiten und Nebendinge« herum, und über dein Bestreben, der
Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dein Leeren und Un¬
bedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu ver¬
lieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen
Fall vollkommen nachahmen, und bedenkt nicht, daß eine poetische Darstellung
mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, nicht koinzidiren
dnn." Nach Schiller sind also alle poetischen Gestalten symbolisch und stellen
immer das Allgemeine der Menschheit dar. Gottschall endlich erklärt mit
psychologischen: Tiefblick: „Es ist ein bedauerliches Zeichen, daß ganze litte¬
rarische Richtungen, die nicht mir den Zeitgenossen imponirten, sondern sogar
den politische» Großmeisteru beschützt wurden, eigentlich aus ganz ab¬
normen Seelenzuständen hervorgegangen sind, die mehr in das Gebiet der
Seelenheilkunde gehören als in das der Litteratur. Das Interessante solcher
pathologischen Entwicklungen hat mit dem Interesse an der objektiven künstle¬
rischen Leistung nichts gemein; es geht aus dem Juteresse hervor, das die
raffinirte Bildung an allen Mißbildungen und Verzerrungen nimmt, nachdem
die organische Gesundheit langweilig geworden ist." Das ist leider der
Kernpunkt zur Erklärung vieler Erfolge des modernen »Realismus.«

Doch getrost! Wenn sogar schon der theoretisirende Wagemut eiues Zola
wankt, wen» ein Ibsen einen „Volksfeind" oder gar eine „Fran vom Meer"
"uf lediglich erträumten Grundlagen auferbaut, dann ist die Götterdämmerung
nahe, deren sengende Lohe die Schlagwörter ihrer viel befangeneren Jünger
hinwegfegen und hoffentlich in einer geläuterten Form wieder aufleben
^sser wird.

Ibsen ist, wie gesagt, in seinen sozialen Stücken ein schroffer Programm-
°^ster und darum natürlich stets einseitig. Indem er gewisse gesellschaftliche
Zustände an seinen mehr oder minder hochgespannter Idealen mißt und den


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[0139] Zwei Zchanspiele von Henrik Ibsen gäbe, wenn sie es der ernster» Schwester gleichthun will. Moritz Carriere eignet sich Spielhagens glücklichen Ausdruck ein, dnß der Dichter Finder und Erfinder in einer Person sei; alles scheint gegeben, nach Modellen gearbeitet, »ut doch ist nichts gegeben, denn nichts kann so verwandt werden wie es gegeben ist. Und Schiller spricht die goldnen Worte- „Zweierlei gehört zum Künstler, daß er sich über das Wirkliche erhebt, und daß er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst. Aber in einer ungünstigen formlosen Natur verläßt er mit dein Wirklichen nur zu leicht auch das Sinnliche und wird idealistisch, und wenn sein Verstand schwach ist, gar phantastisch; oder will er und muß er durch seine Natur ge¬ nötigt in der Sinnlichkeit bleiben, so bleibt er gern mich bei dem Wirklichen stehen und wird in beschränkter Bedeutung des Wortes realistisch, und wenn e's ihm ganz an Phantasie sehlt, knechtisch und gemein. In beiden Fällen also ist er nicht ästhetisch . . . Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich ">it Zufälligkeiten und Nebendinge« herum, und über dein Bestreben, der Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dein Leeren und Un¬ bedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu ver¬ lieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen Fall vollkommen nachahmen, und bedenkt nicht, daß eine poetische Darstellung mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, nicht koinzidiren dnn." Nach Schiller sind also alle poetischen Gestalten symbolisch und stellen immer das Allgemeine der Menschheit dar. Gottschall endlich erklärt mit psychologischen: Tiefblick: „Es ist ein bedauerliches Zeichen, daß ganze litte¬ rarische Richtungen, die nicht mir den Zeitgenossen imponirten, sondern sogar den politische» Großmeisteru beschützt wurden, eigentlich aus ganz ab¬ normen Seelenzuständen hervorgegangen sind, die mehr in das Gebiet der Seelenheilkunde gehören als in das der Litteratur. Das Interessante solcher pathologischen Entwicklungen hat mit dem Interesse an der objektiven künstle¬ rischen Leistung nichts gemein; es geht aus dem Juteresse hervor, das die raffinirte Bildung an allen Mißbildungen und Verzerrungen nimmt, nachdem die organische Gesundheit langweilig geworden ist." Das ist leider der Kernpunkt zur Erklärung vieler Erfolge des modernen »Realismus.« Doch getrost! Wenn sogar schon der theoretisirende Wagemut eiues Zola wankt, wen» ein Ibsen einen „Volksfeind" oder gar eine „Fran vom Meer" "uf lediglich erträumten Grundlagen auferbaut, dann ist die Götterdämmerung nahe, deren sengende Lohe die Schlagwörter ihrer viel befangeneren Jünger hinwegfegen und hoffentlich in einer geläuterten Form wieder aufleben ^sser wird. Ibsen ist, wie gesagt, in seinen sozialen Stücken ein schroffer Programm- °^ster und darum natürlich stets einseitig. Indem er gewisse gesellschaftliche Zustände an seinen mehr oder minder hochgespannter Idealen mißt und den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/139>, abgerufen am 28.09.2024.