Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

Staatsprinzip ist die Gleichheit, deren Interesse das Interesse der Freiheit
durchaus untergeordnet wird. Das gesellschaftliche Band, das die einander
gleichgestellten Staatsangehörigen zur Einheit verknüpfen soll, wird von dem
Philosophen und den Worten somrunnimr oder 80ki(lin'itL bezeichnet, wir er¬
fahren jedoch nicht genau, was wir uns darunter vorzustellen haben. Nur
durch Unischreibungen wie folgende wird uns der Inhalt dieser Begriffe
einigermaßen augedeutet: "Die Formel, nach der die Beamten (alle Bürger
sind Beamte) bezahlt werden, ist eine dreifache und doch einige: jedem nach
seiner Befähigung, jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinem Bedürfnisse.
Die Fähigkeit belohnt sich durch die Ausübung und macht die Ausübung zur
Pflicht, die geleistete Arbeit belohnt sich durch das Ausruhen, das Bedürfnis
wird durch die Erzeugnisse oder Güter befriedigt, die natürliche (landwirt¬
schaftliche), gewerbliche, wissenschaftliche und künstlerische sein können."

Leroux fand Verehrer, vorzüglich unter den höhern Standen, wird ihnen
aber in vielen Stücken unverständlich geblieben sein, und ebenso wenig wie
Proudhon hat er eine Schule oder Sekte um sich gesammelt. Dagegen ist
dies einem andern sozialistischen Denker in gewissem Sinne gelungen, mit dem
wir die Reihe dieser Theoretiker der Jugendzeit der Sozialdemokratin beschließen
wollen, um uns dann den Praktikern zuzuwenden, dem Proletariat mit seinen
geheimen Gesellschaften, Attentaten und ersten Versuchen, deu sozialdemokratischen
Staat zu gründen.

August Comte, ursprünglich Mathematiker und an der Pariser poly¬
technischen Schule angestellt, gehörte eine Zeit lang zu den Se. Simonisten
und wurde dann der Begründer der Schule der Positivisten. Sein Haupt¬
werk, dem Vorlesungen über die Geschichte der Humanität sowie die Schrift:
?1g,Q ass et'ÄVÄUX LcionMyuöZ n(!v"8LÄÜ,'ö8 xour röoi'gkuuZM In, 80öl6t6 vor¬
ausgingen, ist der zuerst 1839 erschienene Ouu,'8 as p>>i!,">>>>!u,> poÄtivo,
ein in sechs dickleibige, in fast nnlesbarem Stile geschriebene Bünde sich aus¬
breitendes Buch, das ein System sämtlicher Wissenschaften enthält, die nach
Ansicht des Verfassers überhaupt möglich sind, und die nach ihm in der Astro¬
nomie, der Mathematik, der Physik, Chemie, Biologie und Soziologie bestehen.
Sie bilden den Inhalt der positiven Philosophie, die die Zukunft zu be¬
herrschen berufen ist, nachdem die Menschheit durch den Fetischismus, die
Theokratie, den Polytheismus und Monotheismus hindurchgegangen und in
die Periode der Metaphysik eingetreten ist, die noch eine Weile zu herrschen
berufen ist, aber und aller Macht bekämpft werden muß. Denn jede Annahme
von jenseitigen Ursachen und Zielen ist unzulässig, nur das Diesseits gehört
uus und wird von uns begriffen. An der Spitze der Wissenschaften, die also
auf Erfahrung beruhen, steht die Soziologie, die Kunde von der Entwicklung
des menschlichen Geistes. Die Moral beruht auf dem geselligen Triebe, der die
Selbstsucht zurückweist und zum Beweggrunde des Handelns statt des eignen


Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

Staatsprinzip ist die Gleichheit, deren Interesse das Interesse der Freiheit
durchaus untergeordnet wird. Das gesellschaftliche Band, das die einander
gleichgestellten Staatsangehörigen zur Einheit verknüpfen soll, wird von dem
Philosophen und den Worten somrunnimr oder 80ki(lin'itL bezeichnet, wir er¬
fahren jedoch nicht genau, was wir uns darunter vorzustellen haben. Nur
durch Unischreibungen wie folgende wird uns der Inhalt dieser Begriffe
einigermaßen augedeutet: „Die Formel, nach der die Beamten (alle Bürger
sind Beamte) bezahlt werden, ist eine dreifache und doch einige: jedem nach
seiner Befähigung, jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinem Bedürfnisse.
Die Fähigkeit belohnt sich durch die Ausübung und macht die Ausübung zur
Pflicht, die geleistete Arbeit belohnt sich durch das Ausruhen, das Bedürfnis
wird durch die Erzeugnisse oder Güter befriedigt, die natürliche (landwirt¬
schaftliche), gewerbliche, wissenschaftliche und künstlerische sein können."

Leroux fand Verehrer, vorzüglich unter den höhern Standen, wird ihnen
aber in vielen Stücken unverständlich geblieben sein, und ebenso wenig wie
Proudhon hat er eine Schule oder Sekte um sich gesammelt. Dagegen ist
dies einem andern sozialistischen Denker in gewissem Sinne gelungen, mit dem
wir die Reihe dieser Theoretiker der Jugendzeit der Sozialdemokratin beschließen
wollen, um uns dann den Praktikern zuzuwenden, dem Proletariat mit seinen
geheimen Gesellschaften, Attentaten und ersten Versuchen, deu sozialdemokratischen
Staat zu gründen.

August Comte, ursprünglich Mathematiker und an der Pariser poly¬
technischen Schule angestellt, gehörte eine Zeit lang zu den Se. Simonisten
und wurde dann der Begründer der Schule der Positivisten. Sein Haupt¬
werk, dem Vorlesungen über die Geschichte der Humanität sowie die Schrift:
?1g,Q ass et'ÄVÄUX LcionMyuöZ n(!v«8LÄÜ,'ö8 xour röoi'gkuuZM In, 80öl6t6 vor¬
ausgingen, ist der zuerst 1839 erschienene Ouu,'8 as p>>i!,»>>>>!u,> poÄtivo,
ein in sechs dickleibige, in fast nnlesbarem Stile geschriebene Bünde sich aus¬
breitendes Buch, das ein System sämtlicher Wissenschaften enthält, die nach
Ansicht des Verfassers überhaupt möglich sind, und die nach ihm in der Astro¬
nomie, der Mathematik, der Physik, Chemie, Biologie und Soziologie bestehen.
Sie bilden den Inhalt der positiven Philosophie, die die Zukunft zu be¬
herrschen berufen ist, nachdem die Menschheit durch den Fetischismus, die
Theokratie, den Polytheismus und Monotheismus hindurchgegangen und in
die Periode der Metaphysik eingetreten ist, die noch eine Weile zu herrschen
berufen ist, aber und aller Macht bekämpft werden muß. Denn jede Annahme
von jenseitigen Ursachen und Zielen ist unzulässig, nur das Diesseits gehört
uus und wird von uns begriffen. An der Spitze der Wissenschaften, die also
auf Erfahrung beruhen, steht die Soziologie, die Kunde von der Entwicklung
des menschlichen Geistes. Die Moral beruht auf dem geselligen Triebe, der die
Selbstsucht zurückweist und zum Beweggrunde des Handelns statt des eignen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0128" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207423"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_353" prev="#ID_352"> Staatsprinzip ist die Gleichheit, deren Interesse das Interesse der Freiheit<lb/>
durchaus untergeordnet wird. Das gesellschaftliche Band, das die einander<lb/>
gleichgestellten Staatsangehörigen zur Einheit verknüpfen soll, wird von dem<lb/>
Philosophen und den Worten somrunnimr oder 80ki(lin'itL bezeichnet, wir er¬<lb/>
fahren jedoch nicht genau, was wir uns darunter vorzustellen haben. Nur<lb/>
durch Unischreibungen wie folgende wird uns der Inhalt dieser Begriffe<lb/>
einigermaßen augedeutet: &#x201E;Die Formel, nach der die Beamten (alle Bürger<lb/>
sind Beamte) bezahlt werden, ist eine dreifache und doch einige: jedem nach<lb/>
seiner Befähigung, jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinem Bedürfnisse.<lb/>
Die Fähigkeit belohnt sich durch die Ausübung und macht die Ausübung zur<lb/>
Pflicht, die geleistete Arbeit belohnt sich durch das Ausruhen, das Bedürfnis<lb/>
wird durch die Erzeugnisse oder Güter befriedigt, die natürliche (landwirt¬<lb/>
schaftliche), gewerbliche, wissenschaftliche und künstlerische sein können."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_354"> Leroux fand Verehrer, vorzüglich unter den höhern Standen, wird ihnen<lb/>
aber in vielen Stücken unverständlich geblieben sein, und ebenso wenig wie<lb/>
Proudhon hat er eine Schule oder Sekte um sich gesammelt. Dagegen ist<lb/>
dies einem andern sozialistischen Denker in gewissem Sinne gelungen, mit dem<lb/>
wir die Reihe dieser Theoretiker der Jugendzeit der Sozialdemokratin beschließen<lb/>
wollen, um uns dann den Praktikern zuzuwenden, dem Proletariat mit seinen<lb/>
geheimen Gesellschaften, Attentaten und ersten Versuchen, deu sozialdemokratischen<lb/>
Staat zu gründen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_355" next="#ID_356"> August Comte, ursprünglich Mathematiker und an der Pariser poly¬<lb/>
technischen Schule angestellt, gehörte eine Zeit lang zu den Se. Simonisten<lb/>
und wurde dann der Begründer der Schule der Positivisten. Sein Haupt¬<lb/>
werk, dem Vorlesungen über die Geschichte der Humanität sowie die Schrift:<lb/>
?1g,Q ass et'ÄVÄUX LcionMyuöZ n(!v«8LÄÜ,'ö8 xour röoi'gkuuZM In, 80öl6t6 vor¬<lb/>
ausgingen, ist der zuerst 1839 erschienene Ouu,'8 as p&gt;&gt;i!,»&gt;&gt;&gt;&gt;!u,&gt; poÄtivo,<lb/>
ein in sechs dickleibige, in fast nnlesbarem Stile geschriebene Bünde sich aus¬<lb/>
breitendes Buch, das ein System sämtlicher Wissenschaften enthält, die nach<lb/>
Ansicht des Verfassers überhaupt möglich sind, und die nach ihm in der Astro¬<lb/>
nomie, der Mathematik, der Physik, Chemie, Biologie und Soziologie bestehen.<lb/>
Sie bilden den Inhalt der positiven Philosophie, die die Zukunft zu be¬<lb/>
herrschen berufen ist, nachdem die Menschheit durch den Fetischismus, die<lb/>
Theokratie, den Polytheismus und Monotheismus hindurchgegangen und in<lb/>
die Periode der Metaphysik eingetreten ist, die noch eine Weile zu herrschen<lb/>
berufen ist, aber und aller Macht bekämpft werden muß. Denn jede Annahme<lb/>
von jenseitigen Ursachen und Zielen ist unzulässig, nur das Diesseits gehört<lb/>
uus und wird von uns begriffen. An der Spitze der Wissenschaften, die also<lb/>
auf Erfahrung beruhen, steht die Soziologie, die Kunde von der Entwicklung<lb/>
des menschlichen Geistes. Die Moral beruht auf dem geselligen Triebe, der die<lb/>
Selbstsucht zurückweist und zum Beweggrunde des Handelns statt des eignen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0128] Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie Staatsprinzip ist die Gleichheit, deren Interesse das Interesse der Freiheit durchaus untergeordnet wird. Das gesellschaftliche Band, das die einander gleichgestellten Staatsangehörigen zur Einheit verknüpfen soll, wird von dem Philosophen und den Worten somrunnimr oder 80ki(lin'itL bezeichnet, wir er¬ fahren jedoch nicht genau, was wir uns darunter vorzustellen haben. Nur durch Unischreibungen wie folgende wird uns der Inhalt dieser Begriffe einigermaßen augedeutet: „Die Formel, nach der die Beamten (alle Bürger sind Beamte) bezahlt werden, ist eine dreifache und doch einige: jedem nach seiner Befähigung, jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinem Bedürfnisse. Die Fähigkeit belohnt sich durch die Ausübung und macht die Ausübung zur Pflicht, die geleistete Arbeit belohnt sich durch das Ausruhen, das Bedürfnis wird durch die Erzeugnisse oder Güter befriedigt, die natürliche (landwirt¬ schaftliche), gewerbliche, wissenschaftliche und künstlerische sein können." Leroux fand Verehrer, vorzüglich unter den höhern Standen, wird ihnen aber in vielen Stücken unverständlich geblieben sein, und ebenso wenig wie Proudhon hat er eine Schule oder Sekte um sich gesammelt. Dagegen ist dies einem andern sozialistischen Denker in gewissem Sinne gelungen, mit dem wir die Reihe dieser Theoretiker der Jugendzeit der Sozialdemokratin beschließen wollen, um uns dann den Praktikern zuzuwenden, dem Proletariat mit seinen geheimen Gesellschaften, Attentaten und ersten Versuchen, deu sozialdemokratischen Staat zu gründen. August Comte, ursprünglich Mathematiker und an der Pariser poly¬ technischen Schule angestellt, gehörte eine Zeit lang zu den Se. Simonisten und wurde dann der Begründer der Schule der Positivisten. Sein Haupt¬ werk, dem Vorlesungen über die Geschichte der Humanität sowie die Schrift: ?1g,Q ass et'ÄVÄUX LcionMyuöZ n(!v«8LÄÜ,'ö8 xour röoi'gkuuZM In, 80öl6t6 vor¬ ausgingen, ist der zuerst 1839 erschienene Ouu,'8 as p>>i!,»>>>>!u,> poÄtivo, ein in sechs dickleibige, in fast nnlesbarem Stile geschriebene Bünde sich aus¬ breitendes Buch, das ein System sämtlicher Wissenschaften enthält, die nach Ansicht des Verfassers überhaupt möglich sind, und die nach ihm in der Astro¬ nomie, der Mathematik, der Physik, Chemie, Biologie und Soziologie bestehen. Sie bilden den Inhalt der positiven Philosophie, die die Zukunft zu be¬ herrschen berufen ist, nachdem die Menschheit durch den Fetischismus, die Theokratie, den Polytheismus und Monotheismus hindurchgegangen und in die Periode der Metaphysik eingetreten ist, die noch eine Weile zu herrschen berufen ist, aber und aller Macht bekämpft werden muß. Denn jede Annahme von jenseitigen Ursachen und Zielen ist unzulässig, nur das Diesseits gehört uus und wird von uns begriffen. An der Spitze der Wissenschaften, die also auf Erfahrung beruhen, steht die Soziologie, die Kunde von der Entwicklung des menschlichen Geistes. Die Moral beruht auf dem geselligen Triebe, der die Selbstsucht zurückweist und zum Beweggrunde des Handelns statt des eignen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/128
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/128>, abgerufen am 27.12.2024.