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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Neue Romane

und von der eigentlichen Entwicklnngs- und Vildungsgeschichte seines alle Welt
entzückenden "Knaben/' wie er stets den achtzehnjährigen Robert nennt, er¬
fahren wir blutwenig. Alles, was wir ihn an Abenteuern erleben sehen, ist
äußerlich; den Zauber, den er ausübt, die Tüchtigkeit, die er erlaugt haben
soll, müssen wir dein Erzähler nach seinen wiederholten Versicherungen aufs
Wort glauben, überzeugt werden wir davon nicht. Das Beste an dem Romane
ist die Erfindung der Originale, die Roberts Erziehung leiten: des humoristischen
Polizeischreibers Fiebiger, des pathetisch gedankenvollen Sternguckers Ulex
und des thätig liebenden Freifräuleins Juliane von Poppen; dazu kommt die
Possenhaft humoristische Figur des Histrionen Schminkert mit seinen Abenteuern
bei alten Jungfern u. s. w. Die Handlung führt uns in dem letzten Viertel
des Romans hinüber nach Amerika, nach Kalifornien, wo Robert, nachdem er
einige Jahre Universitütsstudien betrieben hat, gelegentlich Goldgräber und
reich wird, um endlich die Geliebte heimführen und das Gut Poppenhagen
kaufen zu können, auf dem alle "Leute aus dem Walde" vereint ihr Leben
teils beschließen, teils begründen sollen. Ein getreues Abbild deutschen Lebens
seiner Zeit zu sein, darf dieser Roman wohl keinen Anspruch erheben, obwohl
man ihm die Spuren seiner Zeit anmerkt; das wäre schließlich kein Fehler,
wem: er nur sonst bedeutend wäre. Aber wir können auch nicht annehmen,
daß die Bildungsgeschichte Roberts irgendwie typischen Wert haben soll. Es
bleibt daher nur noch der rein dichterische Gehalt der Charakteristik. Daß
diese vorwiegend durch eine übermäßige Beredsamkeit und Betrachtung des
Dichters über seine Gestalten und dieser selbst geleistet wird, haben wir schon
mitgeteilt, auch wie langweilig diese Manier wirkt. Dann sehen wir aber wirklich
uicht ein, wem zuliebe und wem zunutze diese neue Ausgabe gemacht sein soll.
In der Entwicklungsgeschichte des Naabischen Schaffens bedeuten die "Leute
aus dem Walde" eine Zeit des Suchens nach dem eignen Stil.

Ein Produkt ganz eigentümlicher Art ist die dritte und neueste Erzählung
Wilhelm Nciabes: "Der Lar." Hier ist die geringe Handlung mit Humor
durchtränkt, durchgeistigt. Das Unbedeutende wird symbolisch bedeutsam, im
Alltäglichsten spiegelt sich der Charakter der Zeit. Der Kontrast des in der
Wirklichkeit häßlichen, unangenehmen, abstoßenden, ärmlichen zu der Fülle
dessen, was ihm gemütlich untergelegt wird, was es geistig begleitet, ist voll
echten und wahrhaft dichterischen Humors. Auch hier wird viel mehr geredet
als gehandelt, aber diese Reden sind teils so pudelnärrisch gescheit, teils so
rührend drollig, teils so gallig übermütig, daß sie uns stets unterhalten, und
l'el aller grüblerischen Sinnigkeit kommt es oft zu einem herzlichen Gelächter.

Die Geschichte ist so recht ans den kleinen Miseren des modernen städtischen
Lebens herausgewählt, die gerade wert genug sind, daß sich ein tieferes Gemüt
ein klein wenig über sie ärgere, um sich doch nach einem Augenblick der Ver¬
stimmung wieder in die reine Luft des Geistes zu erheben. Die Erzählung


Neue Romane

und von der eigentlichen Entwicklnngs- und Vildungsgeschichte seines alle Welt
entzückenden „Knaben/' wie er stets den achtzehnjährigen Robert nennt, er¬
fahren wir blutwenig. Alles, was wir ihn an Abenteuern erleben sehen, ist
äußerlich; den Zauber, den er ausübt, die Tüchtigkeit, die er erlaugt haben
soll, müssen wir dein Erzähler nach seinen wiederholten Versicherungen aufs
Wort glauben, überzeugt werden wir davon nicht. Das Beste an dem Romane
ist die Erfindung der Originale, die Roberts Erziehung leiten: des humoristischen
Polizeischreibers Fiebiger, des pathetisch gedankenvollen Sternguckers Ulex
und des thätig liebenden Freifräuleins Juliane von Poppen; dazu kommt die
Possenhaft humoristische Figur des Histrionen Schminkert mit seinen Abenteuern
bei alten Jungfern u. s. w. Die Handlung führt uns in dem letzten Viertel
des Romans hinüber nach Amerika, nach Kalifornien, wo Robert, nachdem er
einige Jahre Universitütsstudien betrieben hat, gelegentlich Goldgräber und
reich wird, um endlich die Geliebte heimführen und das Gut Poppenhagen
kaufen zu können, auf dem alle „Leute aus dem Walde" vereint ihr Leben
teils beschließen, teils begründen sollen. Ein getreues Abbild deutschen Lebens
seiner Zeit zu sein, darf dieser Roman wohl keinen Anspruch erheben, obwohl
man ihm die Spuren seiner Zeit anmerkt; das wäre schließlich kein Fehler,
wem: er nur sonst bedeutend wäre. Aber wir können auch nicht annehmen,
daß die Bildungsgeschichte Roberts irgendwie typischen Wert haben soll. Es
bleibt daher nur noch der rein dichterische Gehalt der Charakteristik. Daß
diese vorwiegend durch eine übermäßige Beredsamkeit und Betrachtung des
Dichters über seine Gestalten und dieser selbst geleistet wird, haben wir schon
mitgeteilt, auch wie langweilig diese Manier wirkt. Dann sehen wir aber wirklich
uicht ein, wem zuliebe und wem zunutze diese neue Ausgabe gemacht sein soll.
In der Entwicklungsgeschichte des Naabischen Schaffens bedeuten die „Leute
aus dem Walde" eine Zeit des Suchens nach dem eignen Stil.

Ein Produkt ganz eigentümlicher Art ist die dritte und neueste Erzählung
Wilhelm Nciabes: „Der Lar." Hier ist die geringe Handlung mit Humor
durchtränkt, durchgeistigt. Das Unbedeutende wird symbolisch bedeutsam, im
Alltäglichsten spiegelt sich der Charakter der Zeit. Der Kontrast des in der
Wirklichkeit häßlichen, unangenehmen, abstoßenden, ärmlichen zu der Fülle
dessen, was ihm gemütlich untergelegt wird, was es geistig begleitet, ist voll
echten und wahrhaft dichterischen Humors. Auch hier wird viel mehr geredet
als gehandelt, aber diese Reden sind teils so pudelnärrisch gescheit, teils so
rührend drollig, teils so gallig übermütig, daß sie uns stets unterhalten, und
l'el aller grüblerischen Sinnigkeit kommt es oft zu einem herzlichen Gelächter.

Die Geschichte ist so recht ans den kleinen Miseren des modernen städtischen
Lebens herausgewählt, die gerade wert genug sind, daß sich ein tieferes Gemüt
ein klein wenig über sie ärgere, um sich doch nach einem Augenblick der Ver¬
stimmung wieder in die reine Luft des Geistes zu erheben. Die Erzählung


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[0565] Neue Romane und von der eigentlichen Entwicklnngs- und Vildungsgeschichte seines alle Welt entzückenden „Knaben/' wie er stets den achtzehnjährigen Robert nennt, er¬ fahren wir blutwenig. Alles, was wir ihn an Abenteuern erleben sehen, ist äußerlich; den Zauber, den er ausübt, die Tüchtigkeit, die er erlaugt haben soll, müssen wir dein Erzähler nach seinen wiederholten Versicherungen aufs Wort glauben, überzeugt werden wir davon nicht. Das Beste an dem Romane ist die Erfindung der Originale, die Roberts Erziehung leiten: des humoristischen Polizeischreibers Fiebiger, des pathetisch gedankenvollen Sternguckers Ulex und des thätig liebenden Freifräuleins Juliane von Poppen; dazu kommt die Possenhaft humoristische Figur des Histrionen Schminkert mit seinen Abenteuern bei alten Jungfern u. s. w. Die Handlung führt uns in dem letzten Viertel des Romans hinüber nach Amerika, nach Kalifornien, wo Robert, nachdem er einige Jahre Universitütsstudien betrieben hat, gelegentlich Goldgräber und reich wird, um endlich die Geliebte heimführen und das Gut Poppenhagen kaufen zu können, auf dem alle „Leute aus dem Walde" vereint ihr Leben teils beschließen, teils begründen sollen. Ein getreues Abbild deutschen Lebens seiner Zeit zu sein, darf dieser Roman wohl keinen Anspruch erheben, obwohl man ihm die Spuren seiner Zeit anmerkt; das wäre schließlich kein Fehler, wem: er nur sonst bedeutend wäre. Aber wir können auch nicht annehmen, daß die Bildungsgeschichte Roberts irgendwie typischen Wert haben soll. Es bleibt daher nur noch der rein dichterische Gehalt der Charakteristik. Daß diese vorwiegend durch eine übermäßige Beredsamkeit und Betrachtung des Dichters über seine Gestalten und dieser selbst geleistet wird, haben wir schon mitgeteilt, auch wie langweilig diese Manier wirkt. Dann sehen wir aber wirklich uicht ein, wem zuliebe und wem zunutze diese neue Ausgabe gemacht sein soll. In der Entwicklungsgeschichte des Naabischen Schaffens bedeuten die „Leute aus dem Walde" eine Zeit des Suchens nach dem eignen Stil. Ein Produkt ganz eigentümlicher Art ist die dritte und neueste Erzählung Wilhelm Nciabes: „Der Lar." Hier ist die geringe Handlung mit Humor durchtränkt, durchgeistigt. Das Unbedeutende wird symbolisch bedeutsam, im Alltäglichsten spiegelt sich der Charakter der Zeit. Der Kontrast des in der Wirklichkeit häßlichen, unangenehmen, abstoßenden, ärmlichen zu der Fülle dessen, was ihm gemütlich untergelegt wird, was es geistig begleitet, ist voll echten und wahrhaft dichterischen Humors. Auch hier wird viel mehr geredet als gehandelt, aber diese Reden sind teils so pudelnärrisch gescheit, teils so rührend drollig, teils so gallig übermütig, daß sie uns stets unterhalten, und l'el aller grüblerischen Sinnigkeit kommt es oft zu einem herzlichen Gelächter. Die Geschichte ist so recht ans den kleinen Miseren des modernen städtischen Lebens herausgewählt, die gerade wert genug sind, daß sich ein tieferes Gemüt ein klein wenig über sie ärgere, um sich doch nach einem Augenblick der Ver¬ stimmung wieder in die reine Luft des Geistes zu erheben. Die Erzählung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/565>, abgerufen am 23.07.2024.