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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Vorhang und Dranui

dn, das; die abgehenden Personen ihr Fortgehen begründen und während des
Zwischenaktes das thun, um deswillen sie die Bühne verlassen haben, "denn
sonst schließt der dritte und vierte Akt nur, damit der vierte und fünfte wieder
anfangen könne/' Dahin gehört auch, daß Lessing die Zeit der Zwischenakte
bei der Berechnung der Zeit des ganzen Stückes in Anschlag bringt. Einen
Fehler gegen die Verbindung der Szenen will er gerade nicht als wesentlich
anschlagen, aber er hält doch eine Veründernng des Ortes innerhalb desselben
Aktes für die äußerste Ungereimtheit der Welt und erklärt sich auch gegen die
Benutzung des hintern Vorhanges bei solcher Veränderung, obgleich solche
durch Aufziehen des hintern Vorhanges szenisch ermöglichte Ortsveränderung
mitten im Akte in Lessings Sara mehrfach vorkommt. Andre Stellen (26. Stück)
handeln von der Zwischenaktsmusik, die mit dem Inhalt des vorhergehenden
Aktes übereinstimmen solle.

Wie hat sich nun Lessing praktisch mit diesen Regeln abgefunden? Daß
er in seinen Jugendtraum von den Franzosen abhängig war, bedarf nicht des
Beweises; es kann sich hier nur um die vier großen Dramen handeln. Auch
hier steht Lessing durchaus auf dem Standpunkte der Franzosen. 1. Aktschluß
tritt bei leerer Bühne ein, und zugleich wird etwas Neues eingeleitet, das
das Fortgehen der Personen begründet.

Es giebt keinen Aktschluß Lessings, der bei voller Bühne geschähe.
Auf die gemeinsame Äußerlichkeit der Lessingschen Aktschlüsse, daß bei ihnen
allen das Wort "Komm" vorkommt, hat schon Bulthanpt aufmerksam ge¬
macht. Die Motivirung für das Fortgehen der Personen ist meist aus
dem Gange der Handlung hergeleitet. So entfernt sich Minna, damit
Franziska die ersonnene Geschichte Tellheims erzählen kaun. Tellheim geht,
da er nun Geld braucht, um Werner zu suchen. Marinelli folgt der
Claudia, um nicht Mutter und Tochter allein zu lassen. Mit den Worten:
"Sie werden von mir hören" bringt Odoardo die beiden Frauen zum Wagen.
Mellefvnt geht fort, um die Marwovd aufzusuchen, um den Besuch der Mar-
wood bei Sara anzumelden u. a. in. An andern Stellen wird das Abgehen
der Personen aus ihrem Charakter erklärt. Tellheim verlaßt die Bühne, "weil
tho die Höflichkeit der fremden Dame empfindlicher ist, als die Grobheit des
Wirts"; sodann, weil ihm seine Ehre die Trennung von Minna zu verlangen
scheint. Marinelli verläßt deu Grafen ans Furcht vor einem Duell. Der Prinz
wird von seiner Leidenschaft getrieben, Emilia in der Kirche aufzusuchen u. n. in.

An nicht wenigen Sielleu jedoch ist dem Dichter eine innerliche Begrün¬
ung nicht gelungen. Gerade diese sind für unsre Zwecke lehrreich, weil sie
uns die Anschauung des Dichters, daß die Personen um jede" Preis von der
Bühne entfernt werden müssen, klar erkennen lassen.

Tellheim fordert Werner auf, mit ihm zum Essen zu gehen. Appiani geht,
seine Leute zur Eile anzutreiben. Norton wird von der Bühne entfernt,


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Vorhang und Dranui

dn, das; die abgehenden Personen ihr Fortgehen begründen und während des
Zwischenaktes das thun, um deswillen sie die Bühne verlassen haben, „denn
sonst schließt der dritte und vierte Akt nur, damit der vierte und fünfte wieder
anfangen könne/' Dahin gehört auch, daß Lessing die Zeit der Zwischenakte
bei der Berechnung der Zeit des ganzen Stückes in Anschlag bringt. Einen
Fehler gegen die Verbindung der Szenen will er gerade nicht als wesentlich
anschlagen, aber er hält doch eine Veründernng des Ortes innerhalb desselben
Aktes für die äußerste Ungereimtheit der Welt und erklärt sich auch gegen die
Benutzung des hintern Vorhanges bei solcher Veränderung, obgleich solche
durch Aufziehen des hintern Vorhanges szenisch ermöglichte Ortsveränderung
mitten im Akte in Lessings Sara mehrfach vorkommt. Andre Stellen (26. Stück)
handeln von der Zwischenaktsmusik, die mit dem Inhalt des vorhergehenden
Aktes übereinstimmen solle.

Wie hat sich nun Lessing praktisch mit diesen Regeln abgefunden? Daß
er in seinen Jugendtraum von den Franzosen abhängig war, bedarf nicht des
Beweises; es kann sich hier nur um die vier großen Dramen handeln. Auch
hier steht Lessing durchaus auf dem Standpunkte der Franzosen. 1. Aktschluß
tritt bei leerer Bühne ein, und zugleich wird etwas Neues eingeleitet, das
das Fortgehen der Personen begründet.

Es giebt keinen Aktschluß Lessings, der bei voller Bühne geschähe.
Auf die gemeinsame Äußerlichkeit der Lessingschen Aktschlüsse, daß bei ihnen
allen das Wort „Komm" vorkommt, hat schon Bulthanpt aufmerksam ge¬
macht. Die Motivirung für das Fortgehen der Personen ist meist aus
dem Gange der Handlung hergeleitet. So entfernt sich Minna, damit
Franziska die ersonnene Geschichte Tellheims erzählen kaun. Tellheim geht,
da er nun Geld braucht, um Werner zu suchen. Marinelli folgt der
Claudia, um nicht Mutter und Tochter allein zu lassen. Mit den Worten:
„Sie werden von mir hören" bringt Odoardo die beiden Frauen zum Wagen.
Mellefvnt geht fort, um die Marwovd aufzusuchen, um den Besuch der Mar-
wood bei Sara anzumelden u. a. in. An andern Stellen wird das Abgehen
der Personen aus ihrem Charakter erklärt. Tellheim verlaßt die Bühne, „weil
tho die Höflichkeit der fremden Dame empfindlicher ist, als die Grobheit des
Wirts"; sodann, weil ihm seine Ehre die Trennung von Minna zu verlangen
scheint. Marinelli verläßt deu Grafen ans Furcht vor einem Duell. Der Prinz
wird von seiner Leidenschaft getrieben, Emilia in der Kirche aufzusuchen u. n. in.

An nicht wenigen Sielleu jedoch ist dem Dichter eine innerliche Begrün¬
ung nicht gelungen. Gerade diese sind für unsre Zwecke lehrreich, weil sie
uns die Anschauung des Dichters, daß die Personen um jede» Preis von der
Bühne entfernt werden müssen, klar erkennen lassen.

Tellheim fordert Werner auf, mit ihm zum Essen zu gehen. Appiani geht,
seine Leute zur Eile anzutreiben. Norton wird von der Bühne entfernt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/529>, abgerufen am 23.07.2024.