Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vorhang und Drama

heit und spricht das endlich aus, was uns so selbstverständlich erscheint: "Es
giebt glückliche Freiheiten, die das Publikum dem Dichter heimlich zugesteht,
wenn sie sich ihrer nur dazu bedienen, daß sie es vergnügen und rühren.
Dahin gehört die erdichtete und angenommene Ausdehnung der wirklichen Zeit
der theatralischen Handlung," Freilich beschränkt er gleich darauf die Dauer
eines Zwischenaufzuges auf eine Nacht und sucht vergeblich zwischen den Regeln
und dem, was die Vernunft gebietet, zu vermitteln. Trotz dieser wesentlichen
Neuerung Marmontels für den Aktanfang, die ja auch für deu Aktschluß
Bedeutung haben mußte, ist ebensowenig, wie bei den französischen Dichtern,
bei dem Theoretiker vou einer Forderung wirksamer Gestaltung des Aktschlusses
die Rede, Entfernung aller Personen von der Bühne, Vermeidung eines
wirklichen Schlusses durch Überleitung zu der im Zwischenakt zu denkenden
Handlung und der Handlung des nächsten Aktes sind noch immer die Erforder¬
nisse des Aktschlusses. Auf den Gedanken, einen wirklichen Abschluß eintreten
zu lassen, nicht noch etwas Neues am Schlüsse einzufädeln, konnte freilich
niemand kommen, weil die französische Bühne den Borhang am Schlüsse des
Aktes nicht fallen ließ und somit die Personen auf jeden Fall von der Bühne
bringen mußte, falls der Zwischenakt beginnen sollte. Nur deswegen wird am
Schluß auf eine neue Handlung hingedeutet, damit das Abgehen der Personen
motivirt erscheine; aus keinem andern Grunde wird im nächsten Akt auf diese
Handlung des im Zwischenakt geschehenen Rücksicht genommen, weil das
Publikum nie von der Bühne abgetrennt wurde, also das Drama als ein eng
zusammenhängendes, ohne Unterbrechung fortlaufendes Ganze dargestellt werden
mußte. So tief greifen ganz äußerliche Gewohnheiten in den Bau des Dramas
ein, und so verderblich wird sklavische Nachahmung. Die griechische Regel,
die für die Griechen natürlich und richtig war, war für Frankreich Zwang
und Unnatur. Man versteht nun Herders Wort über "die gutherzigen Uhr¬
steller des Dramas" in seinem schönen Aufsatz über Shakaspeare: "Der ganze
Knäuel von Ort- und Zeitquestioueu wäre längst aus dem Gewirre gekommen,
wenn man gefragt Hütte, was denn Ort und Zeit sei. Solls das Bretter¬
gerüste und der Zeitraum eines Divertissements tuMtrs sein, so hat niemand
in der Welt Einheit des Orts, Maß der Zeit und der Szene, als -- die
Franzosen. Wie muß die Täuschung eines Menschen sein, der hinter jedem
Auftritt nach der Uhr sehen will, ob auch so was in so viel Zeit habe geschehen
können! Welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter,
der darauf als Hauptzweck arbeitet und sich dann mit dem Negelkram brüstet:
wie artig habe ich alles in deu gegebnen Zeitraum der Visite eingeklemmt und
eingepaßt, die Szenen filirt und enfilirt! alles genau geflickt und geheftet!
Sawoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! Dramatischer Gott! Als
solcher schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern dn hast Raum
und Zeit zu schaffen."


Vorhang und Drama

heit und spricht das endlich aus, was uns so selbstverständlich erscheint: „Es
giebt glückliche Freiheiten, die das Publikum dem Dichter heimlich zugesteht,
wenn sie sich ihrer nur dazu bedienen, daß sie es vergnügen und rühren.
Dahin gehört die erdichtete und angenommene Ausdehnung der wirklichen Zeit
der theatralischen Handlung," Freilich beschränkt er gleich darauf die Dauer
eines Zwischenaufzuges auf eine Nacht und sucht vergeblich zwischen den Regeln
und dem, was die Vernunft gebietet, zu vermitteln. Trotz dieser wesentlichen
Neuerung Marmontels für den Aktanfang, die ja auch für deu Aktschluß
Bedeutung haben mußte, ist ebensowenig, wie bei den französischen Dichtern,
bei dem Theoretiker vou einer Forderung wirksamer Gestaltung des Aktschlusses
die Rede, Entfernung aller Personen von der Bühne, Vermeidung eines
wirklichen Schlusses durch Überleitung zu der im Zwischenakt zu denkenden
Handlung und der Handlung des nächsten Aktes sind noch immer die Erforder¬
nisse des Aktschlusses. Auf den Gedanken, einen wirklichen Abschluß eintreten
zu lassen, nicht noch etwas Neues am Schlüsse einzufädeln, konnte freilich
niemand kommen, weil die französische Bühne den Borhang am Schlüsse des
Aktes nicht fallen ließ und somit die Personen auf jeden Fall von der Bühne
bringen mußte, falls der Zwischenakt beginnen sollte. Nur deswegen wird am
Schluß auf eine neue Handlung hingedeutet, damit das Abgehen der Personen
motivirt erscheine; aus keinem andern Grunde wird im nächsten Akt auf diese
Handlung des im Zwischenakt geschehenen Rücksicht genommen, weil das
Publikum nie von der Bühne abgetrennt wurde, also das Drama als ein eng
zusammenhängendes, ohne Unterbrechung fortlaufendes Ganze dargestellt werden
mußte. So tief greifen ganz äußerliche Gewohnheiten in den Bau des Dramas
ein, und so verderblich wird sklavische Nachahmung. Die griechische Regel,
die für die Griechen natürlich und richtig war, war für Frankreich Zwang
und Unnatur. Man versteht nun Herders Wort über „die gutherzigen Uhr¬
steller des Dramas" in seinem schönen Aufsatz über Shakaspeare: „Der ganze
Knäuel von Ort- und Zeitquestioueu wäre längst aus dem Gewirre gekommen,
wenn man gefragt Hütte, was denn Ort und Zeit sei. Solls das Bretter¬
gerüste und der Zeitraum eines Divertissements tuMtrs sein, so hat niemand
in der Welt Einheit des Orts, Maß der Zeit und der Szene, als — die
Franzosen. Wie muß die Täuschung eines Menschen sein, der hinter jedem
Auftritt nach der Uhr sehen will, ob auch so was in so viel Zeit habe geschehen
können! Welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter,
der darauf als Hauptzweck arbeitet und sich dann mit dem Negelkram brüstet:
wie artig habe ich alles in deu gegebnen Zeitraum der Visite eingeklemmt und
eingepaßt, die Szenen filirt und enfilirt! alles genau geflickt und geheftet!
Sawoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! Dramatischer Gott! Als
solcher schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern dn hast Raum
und Zeit zu schaffen."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207119"/>
          <fw type="header" place="top"> Vorhang und Drama</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1272" prev="#ID_1271"> heit und spricht das endlich aus, was uns so selbstverständlich erscheint: &#x201E;Es<lb/>
giebt glückliche Freiheiten, die das Publikum dem Dichter heimlich zugesteht,<lb/>
wenn sie sich ihrer nur dazu bedienen, daß sie es vergnügen und rühren.<lb/>
Dahin gehört die erdichtete und angenommene Ausdehnung der wirklichen Zeit<lb/>
der theatralischen Handlung," Freilich beschränkt er gleich darauf die Dauer<lb/>
eines Zwischenaufzuges auf eine Nacht und sucht vergeblich zwischen den Regeln<lb/>
und dem, was die Vernunft gebietet, zu vermitteln. Trotz dieser wesentlichen<lb/>
Neuerung Marmontels für den Aktanfang, die ja auch für deu Aktschluß<lb/>
Bedeutung haben mußte, ist ebensowenig, wie bei den französischen Dichtern,<lb/>
bei dem Theoretiker vou einer Forderung wirksamer Gestaltung des Aktschlusses<lb/>
die Rede, Entfernung aller Personen von der Bühne, Vermeidung eines<lb/>
wirklichen Schlusses durch Überleitung zu der im Zwischenakt zu denkenden<lb/>
Handlung und der Handlung des nächsten Aktes sind noch immer die Erforder¬<lb/>
nisse des Aktschlusses. Auf den Gedanken, einen wirklichen Abschluß eintreten<lb/>
zu lassen, nicht noch etwas Neues am Schlüsse einzufädeln, konnte freilich<lb/>
niemand kommen, weil die französische Bühne den Borhang am Schlüsse des<lb/>
Aktes nicht fallen ließ und somit die Personen auf jeden Fall von der Bühne<lb/>
bringen mußte, falls der Zwischenakt beginnen sollte. Nur deswegen wird am<lb/>
Schluß auf eine neue Handlung hingedeutet, damit das Abgehen der Personen<lb/>
motivirt erscheine; aus keinem andern Grunde wird im nächsten Akt auf diese<lb/>
Handlung des im Zwischenakt geschehenen Rücksicht genommen, weil das<lb/>
Publikum nie von der Bühne abgetrennt wurde, also das Drama als ein eng<lb/>
zusammenhängendes, ohne Unterbrechung fortlaufendes Ganze dargestellt werden<lb/>
mußte. So tief greifen ganz äußerliche Gewohnheiten in den Bau des Dramas<lb/>
ein, und so verderblich wird sklavische Nachahmung. Die griechische Regel,<lb/>
die für die Griechen natürlich und richtig war, war für Frankreich Zwang<lb/>
und Unnatur. Man versteht nun Herders Wort über &#x201E;die gutherzigen Uhr¬<lb/>
steller des Dramas" in seinem schönen Aufsatz über Shakaspeare: &#x201E;Der ganze<lb/>
Knäuel von Ort- und Zeitquestioueu wäre längst aus dem Gewirre gekommen,<lb/>
wenn man gefragt Hütte, was denn Ort und Zeit sei. Solls das Bretter¬<lb/>
gerüste und der Zeitraum eines Divertissements tuMtrs sein, so hat niemand<lb/>
in der Welt Einheit des Orts, Maß der Zeit und der Szene, als &#x2014; die<lb/>
Franzosen. Wie muß die Täuschung eines Menschen sein, der hinter jedem<lb/>
Auftritt nach der Uhr sehen will, ob auch so was in so viel Zeit habe geschehen<lb/>
können! Welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter,<lb/>
der darauf als Hauptzweck arbeitet und sich dann mit dem Negelkram brüstet:<lb/>
wie artig habe ich alles in deu gegebnen Zeitraum der Visite eingeklemmt und<lb/>
eingepaßt, die Szenen filirt und enfilirt! alles genau geflickt und geheftet!<lb/>
Sawoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! Dramatischer Gott! Als<lb/>
solcher schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern dn hast Raum<lb/>
und Zeit zu schaffen."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Vorhang und Drama heit und spricht das endlich aus, was uns so selbstverständlich erscheint: „Es giebt glückliche Freiheiten, die das Publikum dem Dichter heimlich zugesteht, wenn sie sich ihrer nur dazu bedienen, daß sie es vergnügen und rühren. Dahin gehört die erdichtete und angenommene Ausdehnung der wirklichen Zeit der theatralischen Handlung," Freilich beschränkt er gleich darauf die Dauer eines Zwischenaufzuges auf eine Nacht und sucht vergeblich zwischen den Regeln und dem, was die Vernunft gebietet, zu vermitteln. Trotz dieser wesentlichen Neuerung Marmontels für den Aktanfang, die ja auch für deu Aktschluß Bedeutung haben mußte, ist ebensowenig, wie bei den französischen Dichtern, bei dem Theoretiker vou einer Forderung wirksamer Gestaltung des Aktschlusses die Rede, Entfernung aller Personen von der Bühne, Vermeidung eines wirklichen Schlusses durch Überleitung zu der im Zwischenakt zu denkenden Handlung und der Handlung des nächsten Aktes sind noch immer die Erforder¬ nisse des Aktschlusses. Auf den Gedanken, einen wirklichen Abschluß eintreten zu lassen, nicht noch etwas Neues am Schlüsse einzufädeln, konnte freilich niemand kommen, weil die französische Bühne den Borhang am Schlüsse des Aktes nicht fallen ließ und somit die Personen auf jeden Fall von der Bühne bringen mußte, falls der Zwischenakt beginnen sollte. Nur deswegen wird am Schluß auf eine neue Handlung hingedeutet, damit das Abgehen der Personen motivirt erscheine; aus keinem andern Grunde wird im nächsten Akt auf diese Handlung des im Zwischenakt geschehenen Rücksicht genommen, weil das Publikum nie von der Bühne abgetrennt wurde, also das Drama als ein eng zusammenhängendes, ohne Unterbrechung fortlaufendes Ganze dargestellt werden mußte. So tief greifen ganz äußerliche Gewohnheiten in den Bau des Dramas ein, und so verderblich wird sklavische Nachahmung. Die griechische Regel, die für die Griechen natürlich und richtig war, war für Frankreich Zwang und Unnatur. Man versteht nun Herders Wort über „die gutherzigen Uhr¬ steller des Dramas" in seinem schönen Aufsatz über Shakaspeare: „Der ganze Knäuel von Ort- und Zeitquestioueu wäre längst aus dem Gewirre gekommen, wenn man gefragt Hütte, was denn Ort und Zeit sei. Solls das Bretter¬ gerüste und der Zeitraum eines Divertissements tuMtrs sein, so hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maß der Zeit und der Szene, als — die Franzosen. Wie muß die Täuschung eines Menschen sein, der hinter jedem Auftritt nach der Uhr sehen will, ob auch so was in so viel Zeit habe geschehen können! Welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter, der darauf als Hauptzweck arbeitet und sich dann mit dem Negelkram brüstet: wie artig habe ich alles in deu gegebnen Zeitraum der Visite eingeklemmt und eingepaßt, die Szenen filirt und enfilirt! alles genau geflickt und geheftet! Sawoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! Dramatischer Gott! Als solcher schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern dn hast Raum und Zeit zu schaffen."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/474>, abgerufen am 23.07.2024.