Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Socialdemokratie auf den, Lande und die evangelische Kirche

von denk gegenwärtigen Geschlechte der Arbeiter zwar nicht gedankt iverden,
aber doch von einem spätern, in anderm Geiste herangewachsenen Geschlechte^
Daß unser Volk zur Würdigung der ihm gewordene" Freiheiten erst erzogen
werden muß, haben die letzten Jahrzehnte bewiesen.

Wer die letzte Pariser Ausstellung besuchte, konnte anßer dem Eiffelturm
auch sonst noch recht Interessantes sehen. Er konnte das französische Volk
sehen, denn die französische Regierung, für die die Ausstellung eine willkommene
Gelegenheit bot, ihre sehr erschütterte Stellung zu befestigen, hatte es durch
musterhafte Veranstaltungen ermöglicht, daß man auch aus den entferntesten
Departements mit wenig Kosten die Ausstellung besuchen konnte. Da sah man
die Besucher mit ihren zum Teil noch sehr altfränkischen Trachten, ihren sonn¬
verbrannter Gesichtern, ihren rauhen Arbeitshänden. Es waren meist kleine,
magere, aber muskulöse Leute, und vor allen Dingen nüchterne Leute. Man
sah keinen Betrunkenen, hörte kein wüstes Gejohle; es zeigte sich auf deu Nasen
nicht das verdächtige Rot, Blau oder Schwarz, das je nach dem Grade des
Alkoholismus so manche deutsche Nase verunziert. Auch der Pariser Arbeiter, der
mit Familie des Sonntags eins der hol" besucht und aus dem mitgebrnchteu
Henkelkvrbc mit den Seinen seine Wurst und seinen billigen Landwein verzehrt,
macht einen durchaus soliden Eindruck. Ebenso der Bürger und der Kaufmann.
Allen Gesichtern war ein gewisser Ernst aufgeprägt; alle zeigten sich bei dem
Besuch der denkwürdigen Stätten von Patriotismus erfüllt, aus aller Augen
loderte derselbe patriotische Zorn über ihr "zerrissenes" Vaterland. Und
was muß man bei uns hören? Trotz aller Kriegcrvereine, trotzdem daß
die Schule ihre Pflicht thut, verfällt ein großer Teil unsers Volkes dem
Alkohol, der Armut, der Vaterlandslosigkeit. Angesichts des großen Krieges,
den wir über kurz oder lang doch sicher mit Frankreich zu führen haben werden,
fragt sichs, ob das Genie und die Kriegserfahrung unsrer Heeresleitung diese
Nachteile wird ausgleichen können. Die Sozinldemokratie in den Städten stumm
und das kommende Geschlecht von ihr abwendig zu machen, wird ein schweres
Stück Arbeit werden; aber die Arbeit ist nötig, sie muß gethan werden.

Viel leichter ist jetzt noch dem weitern Umsichgreifen der Sozialdemokratie
auf dem Laude zu begegnen. Die abgegebenen Stimmen sind meist solche von
Arbeitern, die Werktags in den großen Städten arbeiten, aber ihre Familie
und ihre Wohnung auf dem Lande haben. Sie sind meistens Snufer, schlechte
Hnushalter, die mit ihre" Eltern und Kindern der Gemeinde zur Last fallen. Den"
>u diesem Stücke nehmen sie ihren sozialistischen "Staat" voraus, daß sie sich schon
jetzt nicht mehr die Mühe geben, die alten Eltern und die kleinen Kinder selbst zu
versorgen. Sie glauben selbst nicht an die Möglichkeit eines Umsturzes, auch
sind sie, dn sie fast nichts lesen, zum Teil auch nicht mehr lesen können, noch
nicht tief in die Lehren der Sozialdemokratie eingedrungen. Sie gleichen bösen
Schulkindern, die einen schlaffen Lehrer gehabt haben. Bekommen sie einen


Die Socialdemokratie auf den, Lande und die evangelische Kirche

von denk gegenwärtigen Geschlechte der Arbeiter zwar nicht gedankt iverden,
aber doch von einem spätern, in anderm Geiste herangewachsenen Geschlechte^
Daß unser Volk zur Würdigung der ihm gewordene» Freiheiten erst erzogen
werden muß, haben die letzten Jahrzehnte bewiesen.

Wer die letzte Pariser Ausstellung besuchte, konnte anßer dem Eiffelturm
auch sonst noch recht Interessantes sehen. Er konnte das französische Volk
sehen, denn die französische Regierung, für die die Ausstellung eine willkommene
Gelegenheit bot, ihre sehr erschütterte Stellung zu befestigen, hatte es durch
musterhafte Veranstaltungen ermöglicht, daß man auch aus den entferntesten
Departements mit wenig Kosten die Ausstellung besuchen konnte. Da sah man
die Besucher mit ihren zum Teil noch sehr altfränkischen Trachten, ihren sonn¬
verbrannter Gesichtern, ihren rauhen Arbeitshänden. Es waren meist kleine,
magere, aber muskulöse Leute, und vor allen Dingen nüchterne Leute. Man
sah keinen Betrunkenen, hörte kein wüstes Gejohle; es zeigte sich auf deu Nasen
nicht das verdächtige Rot, Blau oder Schwarz, das je nach dem Grade des
Alkoholismus so manche deutsche Nase verunziert. Auch der Pariser Arbeiter, der
mit Familie des Sonntags eins der hol» besucht und aus dem mitgebrnchteu
Henkelkvrbc mit den Seinen seine Wurst und seinen billigen Landwein verzehrt,
macht einen durchaus soliden Eindruck. Ebenso der Bürger und der Kaufmann.
Allen Gesichtern war ein gewisser Ernst aufgeprägt; alle zeigten sich bei dem
Besuch der denkwürdigen Stätten von Patriotismus erfüllt, aus aller Augen
loderte derselbe patriotische Zorn über ihr „zerrissenes" Vaterland. Und
was muß man bei uns hören? Trotz aller Kriegcrvereine, trotzdem daß
die Schule ihre Pflicht thut, verfällt ein großer Teil unsers Volkes dem
Alkohol, der Armut, der Vaterlandslosigkeit. Angesichts des großen Krieges,
den wir über kurz oder lang doch sicher mit Frankreich zu führen haben werden,
fragt sichs, ob das Genie und die Kriegserfahrung unsrer Heeresleitung diese
Nachteile wird ausgleichen können. Die Sozinldemokratie in den Städten stumm
und das kommende Geschlecht von ihr abwendig zu machen, wird ein schweres
Stück Arbeit werden; aber die Arbeit ist nötig, sie muß gethan werden.

Viel leichter ist jetzt noch dem weitern Umsichgreifen der Sozialdemokratie
auf dem Laude zu begegnen. Die abgegebenen Stimmen sind meist solche von
Arbeitern, die Werktags in den großen Städten arbeiten, aber ihre Familie
und ihre Wohnung auf dem Lande haben. Sie sind meistens Snufer, schlechte
Hnushalter, die mit ihre» Eltern und Kindern der Gemeinde zur Last fallen. Den»
>u diesem Stücke nehmen sie ihren sozialistischen „Staat" voraus, daß sie sich schon
jetzt nicht mehr die Mühe geben, die alten Eltern und die kleinen Kinder selbst zu
versorgen. Sie glauben selbst nicht an die Möglichkeit eines Umsturzes, auch
sind sie, dn sie fast nichts lesen, zum Teil auch nicht mehr lesen können, noch
nicht tief in die Lehren der Sozialdemokratie eingedrungen. Sie gleichen bösen
Schulkindern, die einen schlaffen Lehrer gehabt haben. Bekommen sie einen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0451" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207096"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Socialdemokratie auf den, Lande und die evangelische Kirche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1200" prev="#ID_1199"> von denk gegenwärtigen Geschlechte der Arbeiter zwar nicht gedankt iverden,<lb/>
aber doch von einem spätern, in anderm Geiste herangewachsenen Geschlechte^<lb/>
Daß unser Volk zur Würdigung der ihm gewordene» Freiheiten erst erzogen<lb/>
werden muß, haben die letzten Jahrzehnte bewiesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1201"> Wer die letzte Pariser Ausstellung besuchte, konnte anßer dem Eiffelturm<lb/>
auch sonst noch recht Interessantes sehen. Er konnte das französische Volk<lb/>
sehen, denn die französische Regierung, für die die Ausstellung eine willkommene<lb/>
Gelegenheit bot, ihre sehr erschütterte Stellung zu befestigen, hatte es durch<lb/>
musterhafte Veranstaltungen ermöglicht, daß man auch aus den entferntesten<lb/>
Departements mit wenig Kosten die Ausstellung besuchen konnte. Da sah man<lb/>
die Besucher mit ihren zum Teil noch sehr altfränkischen Trachten, ihren sonn¬<lb/>
verbrannter Gesichtern, ihren rauhen Arbeitshänden. Es waren meist kleine,<lb/>
magere, aber muskulöse Leute, und vor allen Dingen nüchterne Leute. Man<lb/>
sah keinen Betrunkenen, hörte kein wüstes Gejohle; es zeigte sich auf deu Nasen<lb/>
nicht das verdächtige Rot, Blau oder Schwarz, das je nach dem Grade des<lb/>
Alkoholismus so manche deutsche Nase verunziert. Auch der Pariser Arbeiter, der<lb/>
mit Familie des Sonntags eins der hol» besucht und aus dem mitgebrnchteu<lb/>
Henkelkvrbc mit den Seinen seine Wurst und seinen billigen Landwein verzehrt,<lb/>
macht einen durchaus soliden Eindruck. Ebenso der Bürger und der Kaufmann.<lb/>
Allen Gesichtern war ein gewisser Ernst aufgeprägt; alle zeigten sich bei dem<lb/>
Besuch der denkwürdigen Stätten von Patriotismus erfüllt, aus aller Augen<lb/>
loderte derselbe patriotische Zorn über ihr &#x201E;zerrissenes" Vaterland. Und<lb/>
was muß man bei uns hören? Trotz aller Kriegcrvereine, trotzdem daß<lb/>
die Schule ihre Pflicht thut, verfällt ein großer Teil unsers Volkes dem<lb/>
Alkohol, der Armut, der Vaterlandslosigkeit. Angesichts des großen Krieges,<lb/>
den wir über kurz oder lang doch sicher mit Frankreich zu führen haben werden,<lb/>
fragt sichs, ob das Genie und die Kriegserfahrung unsrer Heeresleitung diese<lb/>
Nachteile wird ausgleichen können. Die Sozinldemokratie in den Städten stumm<lb/>
und das kommende Geschlecht von ihr abwendig zu machen, wird ein schweres<lb/>
Stück Arbeit werden; aber die Arbeit ist nötig, sie muß gethan werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1202" next="#ID_1203"> Viel leichter ist jetzt noch dem weitern Umsichgreifen der Sozialdemokratie<lb/>
auf dem Laude zu begegnen. Die abgegebenen Stimmen sind meist solche von<lb/>
Arbeitern, die Werktags in den großen Städten arbeiten, aber ihre Familie<lb/>
und ihre Wohnung auf dem Lande haben. Sie sind meistens Snufer, schlechte<lb/>
Hnushalter, die mit ihre» Eltern und Kindern der Gemeinde zur Last fallen. Den»<lb/>
&gt;u diesem Stücke nehmen sie ihren sozialistischen &#x201E;Staat" voraus, daß sie sich schon<lb/>
jetzt nicht mehr die Mühe geben, die alten Eltern und die kleinen Kinder selbst zu<lb/>
versorgen. Sie glauben selbst nicht an die Möglichkeit eines Umsturzes, auch<lb/>
sind sie, dn sie fast nichts lesen, zum Teil auch nicht mehr lesen können, noch<lb/>
nicht tief in die Lehren der Sozialdemokratie eingedrungen. Sie gleichen bösen<lb/>
Schulkindern, die einen schlaffen Lehrer gehabt haben.  Bekommen sie einen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0451] Die Socialdemokratie auf den, Lande und die evangelische Kirche von denk gegenwärtigen Geschlechte der Arbeiter zwar nicht gedankt iverden, aber doch von einem spätern, in anderm Geiste herangewachsenen Geschlechte^ Daß unser Volk zur Würdigung der ihm gewordene» Freiheiten erst erzogen werden muß, haben die letzten Jahrzehnte bewiesen. Wer die letzte Pariser Ausstellung besuchte, konnte anßer dem Eiffelturm auch sonst noch recht Interessantes sehen. Er konnte das französische Volk sehen, denn die französische Regierung, für die die Ausstellung eine willkommene Gelegenheit bot, ihre sehr erschütterte Stellung zu befestigen, hatte es durch musterhafte Veranstaltungen ermöglicht, daß man auch aus den entferntesten Departements mit wenig Kosten die Ausstellung besuchen konnte. Da sah man die Besucher mit ihren zum Teil noch sehr altfränkischen Trachten, ihren sonn¬ verbrannter Gesichtern, ihren rauhen Arbeitshänden. Es waren meist kleine, magere, aber muskulöse Leute, und vor allen Dingen nüchterne Leute. Man sah keinen Betrunkenen, hörte kein wüstes Gejohle; es zeigte sich auf deu Nasen nicht das verdächtige Rot, Blau oder Schwarz, das je nach dem Grade des Alkoholismus so manche deutsche Nase verunziert. Auch der Pariser Arbeiter, der mit Familie des Sonntags eins der hol» besucht und aus dem mitgebrnchteu Henkelkvrbc mit den Seinen seine Wurst und seinen billigen Landwein verzehrt, macht einen durchaus soliden Eindruck. Ebenso der Bürger und der Kaufmann. Allen Gesichtern war ein gewisser Ernst aufgeprägt; alle zeigten sich bei dem Besuch der denkwürdigen Stätten von Patriotismus erfüllt, aus aller Augen loderte derselbe patriotische Zorn über ihr „zerrissenes" Vaterland. Und was muß man bei uns hören? Trotz aller Kriegcrvereine, trotzdem daß die Schule ihre Pflicht thut, verfällt ein großer Teil unsers Volkes dem Alkohol, der Armut, der Vaterlandslosigkeit. Angesichts des großen Krieges, den wir über kurz oder lang doch sicher mit Frankreich zu führen haben werden, fragt sichs, ob das Genie und die Kriegserfahrung unsrer Heeresleitung diese Nachteile wird ausgleichen können. Die Sozinldemokratie in den Städten stumm und das kommende Geschlecht von ihr abwendig zu machen, wird ein schweres Stück Arbeit werden; aber die Arbeit ist nötig, sie muß gethan werden. Viel leichter ist jetzt noch dem weitern Umsichgreifen der Sozialdemokratie auf dem Laude zu begegnen. Die abgegebenen Stimmen sind meist solche von Arbeitern, die Werktags in den großen Städten arbeiten, aber ihre Familie und ihre Wohnung auf dem Lande haben. Sie sind meistens Snufer, schlechte Hnushalter, die mit ihre» Eltern und Kindern der Gemeinde zur Last fallen. Den» >u diesem Stücke nehmen sie ihren sozialistischen „Staat" voraus, daß sie sich schon jetzt nicht mehr die Mühe geben, die alten Eltern und die kleinen Kinder selbst zu versorgen. Sie glauben selbst nicht an die Möglichkeit eines Umsturzes, auch sind sie, dn sie fast nichts lesen, zum Teil auch nicht mehr lesen können, noch nicht tief in die Lehren der Sozialdemokratie eingedrungen. Sie gleichen bösen Schulkindern, die einen schlaffen Lehrer gehabt haben. Bekommen sie einen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/451
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/451>, abgerufen am 23.07.2024.