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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Bauerntumulte in der Lombardei

Plätzen ab, schritten zu Drohbriefen und persönlichen Einschüchterungen, ja zu
groben Sachbeschädigungen. Einzelne Privathäuser und Villen wurden er¬
brochen, gestürmt und verwüstet, in einem Falle kam es bis zur Belagerung
von Polizeisoldaten und Carabinieritrnppeu in einem Stadthause, wobei von
der Waffe Gebrauch gemacht werden mußte und Verwundungen vorkamen.
Gegen "!!) Ortschaften waren an dem Aufruhr beteiligt, in zwölf Fällen mußten
die Truppen aufgeboten werden, und zwar in manchen Fällen ganze Kom¬
pagnien, selbst Bataillone und Eskadrons. Zahlreiche Verhaftungen, 85 Straf¬
prozesse und mehr oder minder empfindliche Verurteilungen fanden statt. ^)
Die Behörde suchte zu vermitteln, doch gelang dies meist nur auf Kosten der
ohnehin in einer Notlage befindlichen Besitzer und, wie die allgemeine Meinung
sagt, nicht zur völligen Befriedigung der Vertragsbrüchigen Pachtbaueru.

Es darf jetzt die Frage aufgeworfen werden, ob die materielle Lage jener
aufrührerischen Pachtbauern fo gedrückt war oder ist, um ihr gewaltthätiges
Auftreten wenigstens einigermaßen zu entschuldigen. Nun ist gerade in den
Landstrichen zwischen Como und Varese, Gallerate und Mageuta, in denen die
Pächtertumnlte stattgefunden haben, die Lage des Landvolkes besser als in den
übrigen, ruhig verbliebenen lombardischen Provinzen. Ohne gerade besonders
fruchtbar zu sein, hat diese Gegead eine sehr intensive landwirtschaftliche Kultur.
Sie ist daneben in hohem Grade industriell, niemals fehlt es an Nebenverdienst,
die Arbeitshnnd ist gesucht. Bereits vom neunten Jahre an arbeiten die
Kinder und Mädchen in den allenthalben vorhandenen Seidenspinnereien, größere
Mädchen und Frauen in den Zwirnereien, die verfügbaren Männer in den
Webereien und Fabriken andrer Art. Diejenigen männlichen Familienmitglieder,
die weiter bei der Bewirtschaftung der Scholle entbehrt werden können und die
Erdarbeit der Fabrikarbeit vorziehen, finden die gute Jahreszeit hindurch in
der nahen Schweiz, in Deutschland und Frankreich Beschäftigung und kehren
durchschnittlich mit 300 Franken Ersparnis heim. Die Unternehmungslustigsten
wandern zu vorangegangenen Anverwandten nach Südamerika aus und kommen
meist wohlhabend, selten arm zurück. Die Sparkassen der betreffenden Land¬
striche weisen ferner bedeutende Einlagen auf. Die Leute sehen auch gesund
aus, sind heiter, kleiden sich gut und feiern jeden Festtag. Unter der Ent-
wertung der ländlichen Erzeugnisse leidet auch viel weniger der Bauer, der
größtenteils in rmtnrg, zahlt, als der Besitzer, der die gesamte Ernte zu ver¬
äußern hat. Jene Pachtbaueru sind auf alle Fälle besser daran, als industrielle
Arbeiter.



*) Nach einer amtlichen Veröffentlichung des Generalproknrators in Mailand waren M
Bezirke des dortigen Apvcllatiousgerichtes, das die Provinzen Mailand, Como, Pavia und
Sondrio umfaßt, 86 Fälle agrarischer und 15 Fälle industrieller Arbeitseinstellungen zur An¬
zeige gelangt. Die Zahl der Angeklagten betrug 408; davon wurden 214 freigesprochen und
194 zu Gefängnisstrafen bis zu einem Jahre verurteilt.
Die Bauerntumulte in der Lombardei

Plätzen ab, schritten zu Drohbriefen und persönlichen Einschüchterungen, ja zu
groben Sachbeschädigungen. Einzelne Privathäuser und Villen wurden er¬
brochen, gestürmt und verwüstet, in einem Falle kam es bis zur Belagerung
von Polizeisoldaten und Carabinieritrnppeu in einem Stadthause, wobei von
der Waffe Gebrauch gemacht werden mußte und Verwundungen vorkamen.
Gegen «!!) Ortschaften waren an dem Aufruhr beteiligt, in zwölf Fällen mußten
die Truppen aufgeboten werden, und zwar in manchen Fällen ganze Kom¬
pagnien, selbst Bataillone und Eskadrons. Zahlreiche Verhaftungen, 85 Straf¬
prozesse und mehr oder minder empfindliche Verurteilungen fanden statt. ^)
Die Behörde suchte zu vermitteln, doch gelang dies meist nur auf Kosten der
ohnehin in einer Notlage befindlichen Besitzer und, wie die allgemeine Meinung
sagt, nicht zur völligen Befriedigung der Vertragsbrüchigen Pachtbaueru.

Es darf jetzt die Frage aufgeworfen werden, ob die materielle Lage jener
aufrührerischen Pachtbauern fo gedrückt war oder ist, um ihr gewaltthätiges
Auftreten wenigstens einigermaßen zu entschuldigen. Nun ist gerade in den
Landstrichen zwischen Como und Varese, Gallerate und Mageuta, in denen die
Pächtertumnlte stattgefunden haben, die Lage des Landvolkes besser als in den
übrigen, ruhig verbliebenen lombardischen Provinzen. Ohne gerade besonders
fruchtbar zu sein, hat diese Gegead eine sehr intensive landwirtschaftliche Kultur.
Sie ist daneben in hohem Grade industriell, niemals fehlt es an Nebenverdienst,
die Arbeitshnnd ist gesucht. Bereits vom neunten Jahre an arbeiten die
Kinder und Mädchen in den allenthalben vorhandenen Seidenspinnereien, größere
Mädchen und Frauen in den Zwirnereien, die verfügbaren Männer in den
Webereien und Fabriken andrer Art. Diejenigen männlichen Familienmitglieder,
die weiter bei der Bewirtschaftung der Scholle entbehrt werden können und die
Erdarbeit der Fabrikarbeit vorziehen, finden die gute Jahreszeit hindurch in
der nahen Schweiz, in Deutschland und Frankreich Beschäftigung und kehren
durchschnittlich mit 300 Franken Ersparnis heim. Die Unternehmungslustigsten
wandern zu vorangegangenen Anverwandten nach Südamerika aus und kommen
meist wohlhabend, selten arm zurück. Die Sparkassen der betreffenden Land¬
striche weisen ferner bedeutende Einlagen auf. Die Leute sehen auch gesund
aus, sind heiter, kleiden sich gut und feiern jeden Festtag. Unter der Ent-
wertung der ländlichen Erzeugnisse leidet auch viel weniger der Bauer, der
größtenteils in rmtnrg, zahlt, als der Besitzer, der die gesamte Ernte zu ver¬
äußern hat. Jene Pachtbaueru sind auf alle Fälle besser daran, als industrielle
Arbeiter.



*) Nach einer amtlichen Veröffentlichung des Generalproknrators in Mailand waren M
Bezirke des dortigen Apvcllatiousgerichtes, das die Provinzen Mailand, Como, Pavia und
Sondrio umfaßt, 86 Fälle agrarischer und 15 Fälle industrieller Arbeitseinstellungen zur An¬
zeige gelangt. Die Zahl der Angeklagten betrug 408; davon wurden 214 freigesprochen und
194 zu Gefängnisstrafen bis zu einem Jahre verurteilt.
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[0362] Die Bauerntumulte in der Lombardei Plätzen ab, schritten zu Drohbriefen und persönlichen Einschüchterungen, ja zu groben Sachbeschädigungen. Einzelne Privathäuser und Villen wurden er¬ brochen, gestürmt und verwüstet, in einem Falle kam es bis zur Belagerung von Polizeisoldaten und Carabinieritrnppeu in einem Stadthause, wobei von der Waffe Gebrauch gemacht werden mußte und Verwundungen vorkamen. Gegen «!!) Ortschaften waren an dem Aufruhr beteiligt, in zwölf Fällen mußten die Truppen aufgeboten werden, und zwar in manchen Fällen ganze Kom¬ pagnien, selbst Bataillone und Eskadrons. Zahlreiche Verhaftungen, 85 Straf¬ prozesse und mehr oder minder empfindliche Verurteilungen fanden statt. ^) Die Behörde suchte zu vermitteln, doch gelang dies meist nur auf Kosten der ohnehin in einer Notlage befindlichen Besitzer und, wie die allgemeine Meinung sagt, nicht zur völligen Befriedigung der Vertragsbrüchigen Pachtbaueru. Es darf jetzt die Frage aufgeworfen werden, ob die materielle Lage jener aufrührerischen Pachtbauern fo gedrückt war oder ist, um ihr gewaltthätiges Auftreten wenigstens einigermaßen zu entschuldigen. Nun ist gerade in den Landstrichen zwischen Como und Varese, Gallerate und Mageuta, in denen die Pächtertumnlte stattgefunden haben, die Lage des Landvolkes besser als in den übrigen, ruhig verbliebenen lombardischen Provinzen. Ohne gerade besonders fruchtbar zu sein, hat diese Gegead eine sehr intensive landwirtschaftliche Kultur. Sie ist daneben in hohem Grade industriell, niemals fehlt es an Nebenverdienst, die Arbeitshnnd ist gesucht. Bereits vom neunten Jahre an arbeiten die Kinder und Mädchen in den allenthalben vorhandenen Seidenspinnereien, größere Mädchen und Frauen in den Zwirnereien, die verfügbaren Männer in den Webereien und Fabriken andrer Art. Diejenigen männlichen Familienmitglieder, die weiter bei der Bewirtschaftung der Scholle entbehrt werden können und die Erdarbeit der Fabrikarbeit vorziehen, finden die gute Jahreszeit hindurch in der nahen Schweiz, in Deutschland und Frankreich Beschäftigung und kehren durchschnittlich mit 300 Franken Ersparnis heim. Die Unternehmungslustigsten wandern zu vorangegangenen Anverwandten nach Südamerika aus und kommen meist wohlhabend, selten arm zurück. Die Sparkassen der betreffenden Land¬ striche weisen ferner bedeutende Einlagen auf. Die Leute sehen auch gesund aus, sind heiter, kleiden sich gut und feiern jeden Festtag. Unter der Ent- wertung der ländlichen Erzeugnisse leidet auch viel weniger der Bauer, der größtenteils in rmtnrg, zahlt, als der Besitzer, der die gesamte Ernte zu ver¬ äußern hat. Jene Pachtbaueru sind auf alle Fälle besser daran, als industrielle Arbeiter. *) Nach einer amtlichen Veröffentlichung des Generalproknrators in Mailand waren M Bezirke des dortigen Apvcllatiousgerichtes, das die Provinzen Mailand, Como, Pavia und Sondrio umfaßt, 86 Fälle agrarischer und 15 Fälle industrieller Arbeitseinstellungen zur An¬ zeige gelangt. Die Zahl der Angeklagten betrug 408; davon wurden 214 freigesprochen und 194 zu Gefängnisstrafen bis zu einem Jahre verurteilt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/362>, abgerufen am 25.08.2024.